07.07.2022

Pserimos ist nicht Keçi

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Pserimos ist nicht Keçi

Ankara stellt die Grenzen Griechenlands in der Ägäis infrage

von Niels Kadritzke

Das „Blaue Vaterland“ nach der Vorstellung von Ex-General­stabs­chef Cihat Yaycı CC BY-SA 4.0
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Anfang Juni 2022. Griechenlands Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis absolviert eine Tour auf der Inselgruppe Dodekanes, die im Südosten der Ägäis nahe der türkischen Küste liegt. Auf der kleinen Insel Pserimos wird er von lokalen Honoratioren hofiert, vom Popen umhalst und von patriotischen Gefühlen ergriffen. „Hier vereint sich das Blau der Ägäis mit dem Blau unserer Flagge“, orgelt Mitsotakis in die Kameras des Medientrosses. Eine weitere PR-Lieferung für die regierungsfrommen Athener TV-Sender.

Ganz anders wurde die Mitsotakis-Show auf Pserimos in den türkischen Medien präsentiert. „Eine Provoka­tion“, entrüstete sich die Moderatorin im TV-Sender Haber Global, schließlich unterliege diese Insel namens Keçi der territorialen Hoheit der Türkei. Ihr Interviewpartner bestätigte: Keçi zähle zu den 152 Inseln, Eilanden und Felsklippen, die niemals vertraglich an Griechenland abgetreten worden seien. „Egeaydak“ ist der Fachausdruck für diese Inseln mit „umstrittener Souveränität“. Der Studiogast ist ein Egeaydak-Experte: Konteradmiral a. D. Cihat Yay­cı, Ex-Generalstabschef der Kriegsmarine, gilt als Erfinder der Doktrin vom „Blauen Vaterland“ (Mavi Vatan), mit der die Türkei ihre maritimen Großmachtambitionen begründet.

Pserimos ist wie der ganze Dodekanes seit 1947 griechisch. Damals hatte die Insel 250 Einwohner, heute sind es nur noch zwei Dutzend. Aber im Sommer ist Pserimos fast überlaufen, wenn die Touristenboote von den nahen Inseln Kalymnos und Kos anlegen.

Dass es in der Ostägäis „umstrittene“ Inseln geben soll, behauptet die Regierung in Ankara erst seit den 1980er Jahren. In Athen hat man das lange als Propagandamasche abgetan. Bis im Januar 1996 um zwei unbewohnte Eilande, die nur zehn Kilometer nördlich von Pserimos liegen, fast ein Krieg ausgebrochen wäre. Die Felsbuckel namens Imia (Türkisch: Kardak) waren nur von (griechischen) Ziegen bewohnt, als Journalisten der Istanbuler Zeitung Hürriyet auf dem einen die türkische Flagge aufpflanzten. Damals wurde ein militärischer Konflikt dank der Zurückhaltung der Simitis-Regierung in Athen und der Intervention von US-Präsident Bill Clinton abgewendet.1

Seitdem hat Ankara immer neue Anlässe gesucht, um das Thema der „ungeklärten Souveränität“ und der „grauen Zonen“ in der Ägäis hochzukochen. Im Sommer 2020 schwappte der Zwist auf das östliche Mittelmeer über, wo die beiden Nato-Staaten um die Abgrenzung ihrer ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) streiten.2 18 Monate später hat das Erdoğan-Regime den Ägäis-Konflikt um eine neue Dimen­sion erweitert, als es eine lange stillgelegte Streitfrage reanimierte: die „Militarisierung“ der griechischen Inseln.

Tatsächlich sind seit der Zypern-Krise von 1974 auf allen größeren und manchen kleineren Inseln, die nahe der türkischen Ägäis-Küste liegen, griechische Soldaten stationiert. Ankara behauptet, das sei illegal, und verlangt die „Entmilitarisierung“ aller Inseln in der östlichen Hälfte der Ägäis. Seit dem 11 Februar 2022 verbindet das Er­do­ğan-Regime seine Forderung mit einer konkreten Drohung.

Zwei Wochen vor der russischen Invasion in der Ukraine erklärte Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu: „Diese Inseln wurden Griechenland nach den Verträgen von Lausanne und Paris unter der Bedingung einer Entwaffnung überlassen. Griechenland verstößt gegen diese Verträge. Wenn das nicht aufhört, steht die Oberhoheit über diese Inseln zur Diskussion.“

Seitdem ist keine Woche vergangen, ohne dass Çavuşoğlu, Verteidigungsminister Akar oder Erdoğan selbst die territoriale Integrität Griechenlands infrage gestellt hat. Seit Beginn des Ukrai­ne­kriegs ist das expansionistische Crescendo weiter eskaliert. Es gipfelte in einem verbalen Paukenschlag des Führers der rechtsradikalen „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP), Devlet Bahçeli, der am 31. Mai erklärte, die Dodekanes-Inseln seien eine „natürliche Verlängerung Anatoliens“ und der Türkei auf betrügerische Weise entrissen worden. Dieser Diebstahl müsse rückgängig gemacht werden – „ob freiwillig oder mit Gewalt“.

Der angebliche Diebstahl erfolgte 1912, als das Osmanische Reich die Inselgruppe an Italien verlor, was 1923 durch den Lausanner Vertrag bestätigt wurde. Mit seinen Tiraden aktiviert der MHP-Chef so die Theorie der „osmanischen Inseln“, die auch von türkischen Medien verbreitet wird.

Bahceli ist nicht irgendein Sektenführer, sondern Chef der Partei, die Erdoğans AKP als Koalitionspartner die parlamentarische Mehrheit sichert. Gemeinsam mit Erdoğan wohnte er am 9. Juni dem großen Militärmanöver „Efes 22“ bei, als türkische Truppen südlich von Izmir vorführten, wie man einen gegnerischen Küstenstreifen erobert. Tags zuvor hatte Bahceli verkündet: „Das Herz wie der Blick der Dodekanes sind auf die Türkei ausgerichtet. Wer unsere Adern antastet, dem werden wir das Herz herausreißen.“3

Griechische Ziegen unter türkischer Flagge

Der türkische Präsident vermeidet blutrünstige Wortspiele, aber auch er drohte anlässlich des Manövers in Richtung Athen: „Ich mache keine Witze. Ich sage in vollem Ernst: Bewaffnet nicht die Inseln, die einen entmilitarisierten Status haben.“ Es sei Zeit, dass die Griechen „auf Träume, Erklärungen und Aktionen verzichten, die sie später bereuen werden, wie es vor 100 Jahren der Fall gewesen ist“.4

Es war nicht das erste Mal, dass Er­do­ğan an das historische Drama von 1922 erinnerte. Damals wurde die griechische Invasionsarmee in Anatolien besiegt, was zur Vertreibung und Umsiedlung von 1,6 Millionen „osmanischen“ Griechinnen und Griechen aus Kleinasien führte. Jetzt aber benutzte Er­do­ğan den Verweis auf die „klein­asia­tische Katastrophe“ (wie sie auf Griechisch genannt wird) erstmals als verbale Keule, um die „Entmilitarisierung“ der ostägäischen Inseln zu erzwingen.

Das türkische Drohszenario wirft zwei Fragen auf. Hat die Forderung nach Entmilitarisierung eine rechtliche Basis? Und gestattet es das Völkerrecht, die griechische Souveränität über Inseln infrage zu stellen, auf denen insgesamt 380 000 Menschen leben? Der türkische Vorwurf einer vertragswidrigen „Militarisierung“ stützt sich auf zwei internationale Abkommen: den Lausanner Vertrag von 1923, der den Kleinasienkrieg beendete, und den Pariser Vertrag von 1947, der die Übergabe des Dodekanes von Italien an Griechenland regelte.

Der Lausanner Vertrag sah die Entmilitarisierung der nordägäischen Inseln Samothraki und Limnos vor, aber auch die einer Zone entlang der türkischen Meerengen (Dardanellen und Bosporus) und zweier türkischer Inseln. Der entmilitarisierte Status dieser Region wurde allerdings 1936 durch das Meerengen-Abkommen von Montreux aufgehoben. Dass dies auch für Samothraki und Limnos galt, hat die Türkei damals offiziell anerkannt, als ihr Außenminister Aras bei der Ratifizierung des Montreux-Vertrags im türkischen Parlament klarstellte, dass nun auch Griechenland seine Inseln militarisieren könne. Das ist damals umgehend geschehen, was von Ankara vorbehaltlos akzeptiert wurde.

Der Status von Lesbos, Chios, Samos und Ikaria ist ebenfalls im Lausanner Vertrag geregelt. Auf diesen Inseln waren begrenzte Militäreinheiten zugelassen, aber keine Marinebasen. Eine vollständige Entmilitarisierung sieht dagegen der Pariser Vertrag von 1947 für die Dodekanes-Inseln vor. Aus Athener Sicht kann sich Ankara aber schon deshalb nicht auf diesen Vertrag berufen, weil die Türkei nicht zu den Unterzeichnerstaaten gehörte.

Das entscheidende Argument, mit dem Griechenland die „Militarisierung“ aller Inseln in der Ostägäis legitimiert, stützt sich auf ein übergeordnetes Prinzip des Völkerrechts. Demnach werden die vertraglichen Bestimmungen von Lausanne und Paris durch die UN-Charta überlagert, die in Artikel 51 ein „naturgegebenes Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ vorsieht. Auf dieses Recht beruft sich Griechenland seit dem Zypern-Krieg von 1974, als ein Angriff der türkischen „Ägäis-Armee“ etwa gegen Lesbos oder Chios zu befürchten war.

Im Sinne des Artikels 51 verweist die griechische Seite darauf, dass ihre Militärpräsenz in der Ostägäis rein defensiv ist. Tatsächlich könnte nur ein Wahnsinniger auf die Idee kommen, von diesen Inseln aus das kleinasiatische Festland anzugreifen. Dagegen hat Griechenland mehrere Gründe, für einen Angriff auf sein Inselterritorium gewappnet zu sein.

Der erste Grund ist die Doktrin der „grauen Zonen“, wonach die Türkei alle kleinen Ägäis-Inseln beanspruchen könne, die nicht namentlich in den Verträgen erwähnt werden – wie die Imia-Inseln, um die es vor 26 Jahren fast zu einem Krieg gekommen wäre. Diese Doktrin wird von fast allen türkischen Parteien vertreten. Und fast täglich verbreiten die Medien Karten vom „Blauen Vaterland“, das sich bis zur Mitte der Ägäis erstreckt und damit alle ostägäischen griechischen Inseln umschließt.

Der zweite Grund ist die türkische Casus-Belli-Drohung, die seit dem Juni 1995 eine Art Staatsdoktrin ist. Damals ermächtigte die Nationalversammlung die Regierung, „alle erforderlichen militärischen Maßnahmen“ zu ergreifen, falls Athen beschließen sollte, die griechische Hoheitszone in der Ägäis – sprich um alle Inseln – von 6 auf 12 Seemeilen auszudehnen. Diese Casus-Belli-Resolution verstößt gegen Artikel 2 der UN-Charta, der die „Androhung“ militärischer Aktionen untersagt. Zumal Griechenland nach dem Seerechtsübereinkommen von 1982 zur Ausweitung seiner Hoheitsgewässer berechtigt ist.

Völkerrechtswidrige Drohungen

Der dritte Grund ist nicht nur deklamatorischer, sondern handfester Natur. An der kleinasiatischen Küste ist die türkische Ägäis-Armee stationiert. Diese Streitkräfte verfügen über eine Flotte von Landungsschiffen, die ständig modernisiert und durch neu entwickelte Waffensysteme ergänzt werden, etwa durch das amphibische Panzerfahrzeug Zaha und ein „schwarmfähiges“ UNV (unmanned marine vehicle) namens Albatros-S, also eine Art maritimer Drohne.

Die Türkei selbst liefert also die völkerrechtliche Legitimation für die Militarisierung der griechischen Inseln. Angesichts dessen ist ihre Forderung nach „Entwaffnung“ von atemberaubender Unverfrorenheit. Ein hochgerüsteter Staat, der seinem Nachbarland völkerrechtswidrig mit Krieg droht, fordert ebendiesen Nachbarn ultimativ auf, seine Verteidigungspositionen aufzugeben; im Weigerungsfall setze es seine territoriale Integrität aufs Spiel. Diese türkische Forderung bezieht sich nicht auf unbewohnbare Felsklippen, sondern auf ein Archipel, auf dem mehrere hunderttausend Menschen leben. Und das zugleich die Außengrenze der EU darstellt.

Was motiviert die Regierung in Ankara zu ihrer völkerrechtswidrigen Drohung gegen den Nachbarstaat, der zugleich ein Nato-Partner ist? Erdoğan selbst hat darauf eine Antwort gegeben. Schuld an der Eskalation sei allein der Athener Regierungschef. Mit dem habe er noch am 13. März bei dessen Besuch in Istanbul vereinbart, alle Probleme bilateral zu besprechen, ohne „dritte Parteien“ hineinzuziehen. Daran habe sich der Grieche nicht gehalten. Zwei Monate später habe der versucht, den US-Kongress zu Sanktionen gegen die Türkei zu überreden. Das werde er Mitsotakis nie vergessen: „Der existiert für mich nicht mehr, ich werde mich nie mehr mit ihm treffen.“ Er akzeptiere nur „ehrenwerte“ Gesprächspartner, „die ihre Versprechen halten und Charakter haben“.5

Was Erdoğan so aufbrachte, war eine Rede des griechischen Regierungschefs am 17. Mai vor dem Kongress in Washington, in der Mitsotakis warnte, dass nach der Ukraine-Krise an der Südostflanke der Nato eine „weitere Quelle der Instabilität“ entstehen könnte. Das sollten die Abgeordneten und Senatoren bei ihren „Beschlüssen über Rüstungsgeschäfte in Bezug auf das östliche Mittelmeer“ bedenken.

Mitsotakis arbeitet also darauf hin, dass der Kongress die Modernisierung der türkischen F-16-Kampfflugzeuge verweigert, an der Ankara dringend interessiert ist. Über diesen Querschuss war Erdoğan auch deshalb empört, weil Athen jene F-35-Flugzeuge kaufen will, die das Pentagon der Türkei verweigert.

Diese Empörung war nicht gespielt. Doch die jüngste Eskalation in der Ägäis hat tiefere und vornehmlich innenpolitische Gründe (siehe den nebenstehenden Beitrag). Doch letzten Endes ist es die konträre Haltung zum Völkerrecht, die eine Lösung des Konflikts verhindert.

Die Türkei besteht seit jeher auf bilateralen Verhandlungen über alle von ihr definierten – und provozierten – strittigen Themen. Deshalb verbittet sich Ankara die Beteiligung „dritter Parteien“, zu denen sie auch neutrale Schiedsinstanzen wie den Internationalen Gerichtshof (IGH) zählt.

Griechenland dagegen setzt auf ein Schiedsverfahren in Den Haag, will dieses aber auf den Konflikt um die AWZ-Abgrenzung in der Ägäis beschränken. Alle anderen Themen sind aus Athener Sicht „nicht existent“. Das gilt zumal für Streitpunkte, bei denen der IGH auch griechische Ansprüche negieren könnte. Zum Beispiel den Anspruch auf eine 10-Meilen-Hoheits­zone in der Luft, die eine völkerrechtliche Abnormalität darstellt.6

Zu einer Eskalation des Konflikts dürfte es diesen Sommer – also in der Touristensaison – nicht kommen, nachdem Erdoğan beim Madrider Nato-Gipfel reiche politische Beute gemacht hat. Doch der Ägäis-Streit schwelt weiter und ist nur friedlich zu lösen, wenn sich beide Seiten auf ein Schiedsverfahren beim IGH einigen, das alle Streitpunkte umfasst. Darauf aber wird sich Athen nur einlassen, wenn Ankara die Casus-Belli-Doktrin zurücknimmt und die territoriale Integrität Griechenlands respektiert.

1 Siehe Karte und Text in „Kriegsgeheul in der Ägäis“, LMd, April 2017, und die Karte „Von Kastellorizo bis Komotini“ im offenen Kartenarchiv auf monde-diplomatique.de.

2 Anlass war die Suche nach Erdgasvorkommen durch türkische Schiffe in umstrittenen Meereszonen; siehe: „Eskalation im östlichen Mittelmeer“, Blog Griechenland, 11. September 2020.

3 Kathimerini, Athen, 8. Juni 2022.

4 Sabah News, 9. Juni 2022.

5 Zitiert nach Meldungen von Skai News und Reuters vom 23. Mai und 24. Mai 2022.

6 Siehe Anmerkung 1.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.07.2022, von Niels Kadritzke