07.07.2022

Neue Wege für den Weizen

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Neue Wege für den Weizen

von Élisa Perrigueur

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Die Straßen von Giurgiulești sind hoffnungslos verstopft. Endlose Lkw-Kolonnen schieben sich in beiden Richtungen durch die südmoldauische Stadt mit ihrem kleinen Hafen an der Donau. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat sich das Dreiländereck zwischen der Ukrai­ne, Moldau und Rumänien zu einer wichtigen Flucht- und Handelsroute in die Europäische Union entwickelt.

Zuerst kamen ausländische Diplomaten, die sich „kurz vor der Invasion heimlich aus dem Staub“ gemacht hätten, wie ein Zollbeamter scherzt. Dann folgten Tausende von Flüchtlingen. Und schließlich die ukrainischen Laster, beladen mit Getreide und Ölsaaten.

20 bis 25 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten, die 2021 geerntet wurden, konnten wegen des Krieges nicht exportiert werden. Während einige Länder im Globalen Süden sich auf Brotunruhen vorbereiten, warten die Lkw-Fahrer in diesem Juni bis zu zehn Tage, um erst durch den moldauischen, dann durch den rumänischen Zoll zu kommen.

Artur Gritsoi wartet „erst“ seit vier Tagen. Der 35-jährige Ukrainer sitzt im Schatten seines mit Sonnenblumenkernen beladenen 18-Tonners und isst. Vor sieben Tagen ist er in Krywyj Rih in der Oblast Dnipropetrowsk aufgebrochen. „Die Heimat von Präsident Selenski“, wie er stolz erzählt, während er mir Tee in einer blau-gelben Tasse anbietet.

Seine Fahrt ging nur langsam voran, da er strategisch wichtige Straßen und Flussübergänge – als mögliche russische Angriffsziele – umfahren musste, so auch Engpässe wie die Satoka-Brücke im Süden von Odessa. „Ich habe eine App der ukrainischen Regierung auf dem Handy, die mich vor Luftangriffen und Beschuss warnt und mir hilft, meine Route zu planen“, sagt Gritsoi.

580 Kilometer ist er durch die Ukrai­ne gefahren, über Mykolajiw und Odessa. Während der Sperrstunde musste er seine Fahrt unterbrechen. „Wir müssen auch an den Straßensperren der ukrainischen Armee halten. Sie überprüfen Ladung und Papiere.“ Alle Fahrer benötigen eine Sondergenehmigung, denn in der Ukraine gilt das Kriegsrecht und Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen.

Nach zwei Tagen erreichte Gritsoi die ukrainisch-moldauische Grenze in Tudora, 200 Kilometer nördlich von Giurgiulești. Dort wartete er 48 Stunden, bevor er weiterfahren konnte. Gritsoi und die anderen Fahrer müssen zwischen Staub und Auspuffgasen Zeit totschlagen: Sie schlafen viel, sprechen über den Krieg, gehen gelegentlich in einem der örtlichen Cafés duschen.

„Das ist meine erste Reise in die EU. Normalerweise fahre ich Metall in die ukrainischen Häfen“, erzählt er. Jetzt ist er unterwegs nach Silistra in Bulgarien, 180 Kilometer weiter südlich an der Donau gelegen. „Mit dem Benzin müssen wir sparsam sein, das ist knapp in der Ukraine.“ Sein Arbeitgeber hat 660 Euro für eine Tankfüllung von 350 Litern bezahlt.

Vor der russischen Invasion wurde das ukrainische Getreide über die Häfen am Schwarzen und Asowschen Meer exportiert: über Mykolajiw, Cherson und Mariupol, vor allem aber über Odessa, dessen Umschlagskapazität 40 Millionen Tonnen im Jahr beträgt,1 und seine beiden Satellitenhäfen Tschor­no­morsk und Pivdennyi. Nach Angaben des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums wurden monatlich 4 bis 5 Millionen Tonnen Agrarprodukte über diese Häfen exportiert. Ein Frachtschiff kann mehrere zehntausend Tonnen aufnehmen, ein Lkw 20 bis 25 Tonnen. Ein Zug etwa 1000 Tonnen.

In der Ukraine sind heute nur noch die beiden Donauhäfen Reni und Izmail in Betrieb. Weshalb die meisten Lkws die großen Seehäfen Varna in Bulgarien und Constanța in Rumä­nien ansteuern. Constanța ist der größte Hafen am Schwarzen Meer und auf die Verschiffung von Getreide spezialisiert. Einige liefern ihre Fracht aber auch in den rumänischen Donauhäfen ab, wo diese in Lastkähnen mit einem Fassungsvermögen von 1000 bis 3000 Tonnen umgeladen wird.

Dorin Nistor ist Chef der rumänischen Zollbehörde von Galați, auf der anderen Seite von Giurgiulești. Aus dem Fenster seines Büros beobachtet er die ukrainische Wagenkolonne auf der Rückfahrt, Lkws beladen mit Hilfsgütern, vor allem aber Tanklaster. Auch sie müssen tagelang Schlange stehen.

Nistor versichert, seine Leute könnten „in jede Richtung täglich 150 Lkws abfertigen“. Manch müder Fahrer schimpft allerdings, dass es nur halb so viel seien. Das Verkehrsaufkommen hat sich binnen eines Jahres fast verdoppelt: Im Mai 2022 wurden über 4600 Lkws abgefertigt, verglichen mit 2400 im Mai 2021. „Für jedes Fahrzeug müssen wir die Zollerklärung und die Rechnung, die spezifischen Dokumente zum Produkt und so weiter prüfen. Für Getreide braucht man zum Beispiel eine Genusstauglichkeitsbescheinigung“, erklärt Nistor.

„Wir tun unser Bestes. Aber wir sind auch nicht mehr die Jüngsten“, scherzt der 50-jährige Rumäne. Sein müdes Gesicht zeugt von den 12-Stunden-Schichten ohne Pause. Die Regierung in Bukarest hat ihm 40 zusätzliche Mitarbeiter versprochen. „Aber das wird nicht reichen. Der Verkehr nimmt zu und im Juli kommt die neue Ernte aus der Ukrai­ne.“ Im April und Mai hat die Ukraine nur 3 Millionen Tonnen Agrarprodukte ausgeführt. Das reicht bei weitem nicht aus, um zu verhindern, dass Teile der Lagerbestände verderben.

Rosian Vasiloi ist Chef der moldaui­schen Grenzpolizei. In seinem Büro in Chi­și­nău zeigt er mir auf einer Karte die neuen Routen. „Wir leben in einem neuen Paradigma. Der gesamte Verkehr aus Odessa kommt jetzt hier durch.“ Alle Grenzübergang zur Ukraine und nach Rumänien seien überlastet. „Wir arbeiten jetzt mit Frontex zusammen, aber selbst mit mehr Personal ist das nicht zu schaffen. Wir müssen einen Teil des Verkehrs umleiten.“

Am 23. Mai verabschiedete die EU-Kommission deshalb einen Aktionsplan für den Verkehrssektor, um die ukrainischen Silos bis Ende Juli, wenn die neue Ernte gelagert werden muss, über alternative Exportwege leer zu bekommen. Unter anderem sollen über „Solidaritätskorridore“ (solidarity lanes) die Grenzabfertigungen erleichtert werden. Verkehrskommissarin Adina Vălean ini­tiier­te dazu Verhandlungen über ein kurzfristiges Abkommen, das den Warentransport über Moldau und das EU-Land Rumänien teilweise liberalisieren soll. Anfang Juni startete zudem eine Vernetzungsplattform, um Geschäftskontakte zwischen europäischen Unternehmen, die Transport- oder Lagerlösungen anbieten, und ukrainischen Getreidehändlern zu vermitteln.

Das Schicksal der Republik Moldau ist seit Kriegsbeginn eng mit Odessa verknüpft, dem größten Hafenkomplex der Ukraine, der nur 175 Kilometer von der Hauptstadt Chișinău entfernt ist. Viele Moldauer sind überzeugt, dass auch ihr Land überrannt wird, wenn Odessa fällt. Die Straße, die Odessa mit Chișinău verbindet, führt zudem durch die selbsternannte Republik Transnistrien, wo russische Truppen stationiert sind.2 Westliche Experten befürchten, dass das Gebiet Ausgangspunkt für einen Angriff auf Odessa werden könnte.

Seit Februar besteht eine totale Seeblockade der ukrainischen Häfen. Die Küstengewässer hat die Ukraine vermint, um die Anlandung russischer Truppen zu verhindern. Die in der Türkei begonnenen Verhandlungen über die Öffnung eines Seekorridors, möglicherweise überwacht durch die UN, haben bisher zu keinem Ergebnis geführt.

Anfang Juni traf der Präsident der Afrikanischen Union, Senegals Staatschef Macky Sall, in Sotschi mit Wladimir Putin zusammen und legte ihm dar, dass die afrikanischen Länder Opfer des Kriegs seien und eine Hungersnot drohe. Im Gegenzug für russische Nichtangriffsgarantien forderte Sall die Regierung in Kiew auf, die Seeminen zu räumen. Und die westlichen Staaten sollten ihre Finanzsanktionen aufheben, die afrikanische Länder daran hindern, Getreide oder Düngemittel aus Russland zu beziehen.

Auch beim G7-Treffen Ende Juni stand das Thema Hunger auf der Agenda. Die teilnehmenden Staats- und Regierungschefs sagten zusätzlich 4,5 Milliarden US-Dollar für die weltweite Ernährungssicherheit zu. Laut Oxfam wären jedoch zusätzliche 28,5 Milliarden US-Dollar nötig, um die aktuelle Nahrungsmittelkrise einzudämmen.3

Svitlana Mostova leitet Fadrupemar, ein Exportunternehmen für ukrainisches Getreide, sie ist ständig auf der Suche nach Transportwegen aus der Ukraine. Die junge Frau aus Odessa ist vor dem Krieg nach Bukarest geflohen. Was die Verhandlungen mit Russland betrifft, macht sie sich wenig Illusionen: „Der Schiffskorridor ist zu kompliziert.“ In der Tat hängt ein Seekorridor von vielen Faktoren ab und würde die Kompromissbereitschaft beider Seiten voraussetzen. „Die realistischste Lösung ist die Schiene“, meint Mostova.

Doch die Ausfuhr per Bahn stellt eine gewaltige logistische Herausforderung dar. Mit dem Transport des Getreides per Zug könnte man zwar Binnenschiffe und Massengutfrachter zügig befüllen, doch das ukrainische Schienennetz hat eine andere Spurweite als das rumänische: In der Ukraine fährt man auf der alten sowjetischen Breitspur mit 1520 Millimetern, in Rumänien gilt die EU-Norm von 1435 Millimetern.

Das Umladen dauert Stunden. Die EU-Kommission räumt ein, dass die Wartezeit an der Grenze bis zu zwölf Tage beträgt. Zudem wurden viele der Strecken seit 30 Jahren nicht genutzt und sind baufällig. Im Juni hat die rumänische Regierung mit der Sanierung eines 4 Kilometer langen Streckenabschnitts zwischen dem rumänischen Flusshafen Galați und dem mol­daui­schen Giurgiulesți begonnen. Dabei bleibt die Spurweite von 1520 Millimetern erhalten, um ukrainische Züge direkt in Galați entladen zu können.

Das Hafenareal von Constanța erstreckt sich über 12 Kilometer entlang der rumänischen Küste: ein imposantes Gewirr aus Kränen, Silos und Stahlbrücken. Eigentlich sollte es gut mit dem Rest Rumäniens und Mitteleuropas verbunden sein. Allein innerhalb des Hafengeländes sind mehr als 300 Kilometer Gleise verlegt. Doch ein großer Teil davon ist verrostet und von Unkraut überwuchert.

Zu Zeiten von Diktator Nicolae Ceau­șescu (1965–1989) wurden über Cons­tan­ța Metalle für die rumänische Industrie importiert. Nach dessen Sturz wurde das Schienennetz des Hafens nach und nach stillgelegt. Nun hat Bukarest Instandsetzungsarbeiten im Wert von 40 Millionen Euro angekündigt.

„Aber es muss noch viel mehr getan werden“, sagt Adrian Mihalcioiu, Vorsitzender der Gewerkschaft der rumänischen Seeleute und rumänischer Vertreter der Internationalen Transportarbeitergewerkschaft. „Wir brauchen mehr Autobahnen und Eisenbahnstrecken im ganzen Land, um den Hafen besser anzubinden.“ Angesichts der bevorstehenden Erntezeit macht er sich auch Sorgen um die Getreidelagerkapazitäten im Hafen.

Constanța musste seit Februar einen Großteil des ukrainischen Seeverkehrs übernehmen. Der Hafen ist derzeit voll ausgelastet mit dem Umschlag von Waren, die in Lkws, Zügen und Lastkähnen über den Donaukanal kommen.

Am 16. Juni besuchte der rumänische Präsident Klaus Iohannis zusammen mit dem französischen Präsidenten Macron, Kanzler Scholz und dem italienischen Regierungschef Draghi Kiew. Dort behauptete Iohannis, dass bereits mehr als 1 Million Tonnen ukrai­nisches Getreide nach Constanța transportiert worden seien. Die Hafenbehörde sprach zu diesem Zeitpunkt jedoch lediglich von 700 500 Tonnen, von denen wiederum nur 440 000 Tonnen bereits verschifft worden seien.

„Constanța ist ein wichtiges Puzzleteil, aber nicht das einzige“, sagt die EU-Kommissarin Vălean. „Wir arbeiten auch mit anderen EU-Häfen zusammen, an der Ostsee und der Adria.“ Man ziehe sogar Häfen an der Nordsee und am Atlantik in Erwägung, die über große Lagerkapazitäten verfügen.

Viorel Panait, CEO des rumänischen Hafenbetreibers Comvex, glaubt, dass Constanța mit besseren Anlagen bis zu 40 Millionen Tonnen Getreide pro Jahr umschlagen könnte; heute sind es 25 Millionen. Auch die Hafenbehörde ist dieser Meinung. Panait befürchtet jedoch schon den nächsten Engpass: „Wenn wir nicht handeln, werden die Stahlpreise in Europa explodieren“. Die Ukraine und Russland waren vor dem Krieg wichtige Exporteure von Eisenerz.

1 Siehe marineinsight.com.

2 Siehe Loïc Ramirez, „Lost in Transnistrien“, LMd, Januar 2022.

3 „G7 failure to tackle hunger crisis will leave millions to starve“, Oxfam, 28. Juni 2022.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Élisa Perrigueur ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 07.07.2022, von Élisa Perrigueur