07.07.2022

Die gefangenen Seelen

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Die gefangenen Seelen

Die russische Strafjustiz kehrt zu den repressiven Methoden der Sowjetunion zurück

von Charles Perragin

Dietmar Lutz, Lies, 2015, Acryl auf Leinwand, 293 × 137 cm
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Boris Nemzow starb am 25. Februar 2015, erschossen auf der Großen Moskwa-Brücke, nicht weit von den Kremlmauern entfernt. An seinem siebten Todestag lagen einige Rosen und Tannenzweige auf dem vereisten Gehweg.

„Heute muss man kein bekannter Aktivist mehr sein, um Angst haben zu müssen“, sagte Sergei Davidis. „Als wir in Richtung Twerskaja-Straße gingen, drehte er sich immer wieder verstohlen um.“ Sergei, etwa fünfzig und kasachischer Abstammung, leitet die Menschenrechtsorganisation „Unterstützung politischer Gefangener. Memorial“1 .

Laut der NGO OWD-Info wurden seit dem 24. Februar 2022 mehr als 16 300 Menschen wegen Protesten gegen die russische Invasion in der Ukrai­ne festgenommen. Die willkürliche Verhaftungen so vieler Menschen ist aber keine neue Entwicklung, sagt die Politologin Renata Mustafina, die in ­Yale zum Thema politische Prozesse im heutigen Russland promoviert: „Die Proteste 2011 und 2012 gegen die Wiederwahl Putins brachten mehr Teilnehmer auf die Straße als je zuvor.“

Anfangs hielt sich die Polizei eher zurück, aber das war mit der Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz am 6. Mai 2012 vorbei. Davor warf man den meisten Festgenommenen nur „administrative“ Verstöße vor – nach ein paar Stunden auf der Polizeiwache kamen sie mit einer Geldstrafe davon. Nur die militantesten blieben Tage oder gar Wochen in Gewahrsam. Doch seit 2012 folgten auf jede große Demo bestimmt 20 Strafprozesse, die meisten endeten mit Haftstrafen.“

Die Hilfsorganisation Memorial geht derzeit von 420 politischen Gefangenen aus; die tatsächliche Zahl dürfte dreimal so hoch liegen. Wie Sergei Davidis berichtet, „werden politische oder intellektuelle Dissidenten wegen Betrugs verurteilt, wie Alexei Nawalny, oder wegen Pädophilie wie Juri Dmi­tri­jew, ein Historiker, der zur stalinistischen Repression geforscht hat“. Und wegen Drogenhandel – laut Davidis das häufigste der erfundenen Delikte.

Überraschender ist, dass auf der Memorial-Liste längst nicht mehr nur bekannte Aktivisten stehen. „Die meisten sind ganz normale Leute, die noch nie ein Transparent getragen haben. Zum Beispiel immer mehr Ukrainer, die nie auf einer Kundgebung waren. Sie werden der Spionage, des Terrorismus und des Extremismus beschuldigt. Damit beweist man, dass die Ukraine ein feindseliger Staat ist.“

William E. Pomeranz ist Experte für russisches Recht am Wilson Center in Washington, D. C. Er verzeichnet seit 20 Jahren, jenseits der „selektiven Justiz“ gegen einflussreiche Opposi­tio­nel­le, eine allgemeine Repression auf Grundlage neuer Gesetze, die die bürgerlichen Freiheiten beschneiden.

Für Pomeranz markiert die Krim-Invasion von 2014, neben den Bolotnaja-Prozessen, den Beginn einer extrem autoritären Ära. Seither ging es Schlag auf Schlag: ein neues Blasphemiegesetz, höhere Geldstrafen für nicht genehmigte Versammlungen, eine verschärfte Kriminalisierung: „Diffamierung“ von Regierungsvertretern und „Respektlosigkeit“ gegenüber Ordnungskräften wurde als Straftat geahndet, „jede Form der Unterstützung“ für einen Staat oder eine Organisation, die „die Sicherheit Russlands bedrohen“, als Hochverrat. Und das Gesetz über „ausländische Agenten“ diente dazu, die Tätigkeiten aller Orga­nisa­tio­nen, die Geld aus Drittländern erhalten, drastisch einzuschränken.

In Reaktion auf die Proteste gegen die Verhaftung des Gouverneurs Sergei Fur­gal2 im ostrussischen Chabarowsk und auf die oppositionellen Bewegungen in Belarus und Kirgistan, beide im Jahr 2020, nahm die Repression weiter zu. Die Verfassungsreform vom Juli 2020 erschwert die Organisation von einzelnen Mahnwachen und damit die letzte Möglichkeit zu Protesten ohne vorherige Genehmigung. Seitdem können auch Privatpersonen als „ausländische Agenten“ behandelt werden, wenn sie etwa von einer Plattform wie You­tube Geld bekommen.

Mit der Invasion in der Ukraine wurde auch der letzte Rest von Meinungsfreiheit beseitigt: Ein neues Gesetz ahndet „Falschinformationen“ über die russische Armee mit bis zu fünfzehn Jahren Gefängnis. Ein anderes macht jeden Aufruf zur Verhängung von Sanktionen gegen Russland zur Straftat.

Nach Angaben von Memorial hat sich die Zahl der politischen Gefangenen seit 2015 verzehnfacht. Die „Politischen“ machen jedoch nur einen winzigen Bruchteil der rund 466 000 Gefängnisinsassen in ganz Russland aus. Wobei deren Zahl in den letzten 20 Jahren – bei etwa gleichbleibender Bevölkerungszahl – um 54 Prozent zurückgegangen ist.

Zwangsarbeit als Strafe

Der Rechtssoziologe Kirill Titajew von der Europäischen Universität Sankt Petersburg betreut eine Studie zu diesem Thema. „Die Medien konzentrieren sich auf die politischen Fälle, von denen gibt es aber gar nicht so viele“, sagt er relativierend. „In Moskau gibt es an die 30 Richter, die auf solche Fälle spezialisiert sind.“

Und wie lässt sich der Rückgang der Kriminalität in Russland erklären? „Zunächst einmal wird die Bevölkerung immer älter. Der Anteil junger Menschen, die häufiger straffällig werden, nimmt wie in vielen europäischen Ländern ab. Folglich sind alle Straftaten mit Ausnahme des Drogenhandels in den letzten 20 Jahren zurückgegangen.“

Offiziell sank die Zahl der verurteilten Personen zwischen 2008 und 2019 um 36,6 Prozent. Titajew nennt dafür einen durchaus überraschenden Grund: „Die Praxis der Gerichte ist inzwischen weniger repressiv, damit wird die Strenge des Strafgesetzbuchs ein wenig kompensiert.“

Dennoch: Die russische Strafjustiz ist vergleichsweise sehr hart. Die Quote von 328 Häftlingen pro 100 000 Einwohner liegt fast fünfmal so hoch wie in Deutschland (wenn auch weit unter der Rekordzahl von 629 in den USA); die Dauer der Freiheitsstrafen ist im Schnitt viermal länger als in anderen europäischen Ländern.

Ein Gesetz von 2016 sieht jedoch eine Sonderregelung für Angeklagte vor, die erstmals vor Gericht stehen. Wenn die Höchststrafe für ihr Delikt fünf Jahre Gefängnis nicht übersteigt, kann das Gericht sie mit einer Geldstrafe und entsprechendem Schadenersatz davonkommen lassen. Das gilt laut Titajew insbesondere für Wirtschafts- und Finanzdelikte: „Theoretisch stehen auf einen schweren Fall von Steuer­hinterziehung zwölf Jahre Gefängnis. Doch in der Praxis kommen weniger als 20 Prozent der Verurteilten hinter Gitter.“

Im Juli 2018 trat zudem die rückwirkende gesetzliche Regelung in Kraft, wonach jeder in Untersuchungshaft verbrachte Tag als eineinhalb Tage Gefängnis angerechnet wird. Damals wurden binnen weniger Monate sämtliche Haftstrafen neu berechnet, was zur Freilassung von fast 18 000 Personen führte. Und seit 2017 sieht ein Gesetz als Alternative zu Gefängnisstrafen auch Zwangsarbeit vor. Sie kann für alle Straftaten verhängt werden, für die nicht mehr als zehn Jahre Haft drohen.

Offiziell werden die Verurteilten nicht als Häftlinge betrachtet, sie verbüßen ihre Strafe in „Arbeiterwohnheimen“. Tagsüber arbeiten sie für private Unternehmen, abends gehen sie einkaufen, am Wochenende können sie ihre Angehörigen besuchen. Und der Staat behält bis zu 20 Prozent ihres Lohns ein.

„Die Bedingungen sind zwar lockerer, aber diese Zentren sind dennoch als Gefängnisse anzusehen“, meint Olga Podoplelowa von der Organisation Russland hinter Gittern, „zumal das Aufsichtspersonal aus dem Strafvollzug kommt und seine Verhaltensweisen beibehalten hat.“ Immerhin aber seien diese Zentren billiger als Gefängnisse, und die Verurteilten würden von der Privatwirtschaft besser bezahlt als für Gefängnisarbeit.

Hintergrund für diese Art Zwangsarbeit ist der Mangel an regulären Arbeitskräften, vor allem im Baugewerbe. Auch deshalb schlägt Justizminister Konstantin Tschuitschenko vor, mehr solcher „Wohnheime“ zu bauen, um im Idealfall „die 180 000 Häftlinge unterzubringen, die für diese Strafe infrage kommen“.3 Gegenwärtig verbüßen etwas mehr als 10 000 Personen ihre Strafe in solchen Einrichtungen, von denen allein sechs innerhalb eines Jahres eröffnet wurden.

Das Bemühen, die Kosten der Repression zu senken, ist nicht neu. Ende der 1990er Jahre hatte Russland die höchste Inhaftierungsrate der Welt. Überfüllte Gefängnisse und Folter bedeuteten hunderttausende zerstörte Leben – und waren schlecht für das Image eines Landes, das sich der Europäischen Union anzunähern versuchte. Damals entstand ein politischer Konsens, die Gefängnisse zu leeren.

„Die Gerichte verhängten nach und nach weniger Haftstrafen und mehr Geldstrafen, gemeinnützige Arbeit und vor allem Bewährungsstrafen“, erläutert der Politikwissenschaftler Peter H. Solomon, Experte für Justizreformen in postsowjetischen Gesellschaften. Heute werden nur noch 30 Prozent der Angeklagten zu einer Haftstrafe verurteilt – gegenüber 50 Prozent in den 1990er Jahren. Im gleichen Zeitraum ging die durchschnittliche Haftzeit um die Hälfte auf 29 Monate zurück.4

Eine Entlastung des Strafvollzugssystems brachten auch die häufigen Amnestien. Auf diesem Weg kamen allein im Jahr 2000 fast 250 000 Häftlinge frei, weitere allgemeine Amnestien gab es 2014 und 2015 zum 20. Jahrestag der Verfassung und zum 70. Jahrestag des Siegs über Nazideutschland.

Urteile im Akkord

Auch Dmitri Medwedew, Präsident von 2008 bis 2012, bemühte sich um eine Reform des Strafrechtssystems, das er für ineffizient, zu teuer und zu repressiv hielt. „2010 verbot er per Dekret die Untersuchungshaft für Personen, die eines Wirtschaftsdelikts verdächtigt wurden“, erzählt Solomon. „Die Regierung wollte damit vor allem die Polizisten stoppen, die Geld von Unternehmen erpressten, indem sie den Managern mit Untersuchungshaft drohten. So wollten sie ihre mageren Gehälter aufbessern. Der wirtschaftliche Schaden war enorm und ist es noch.“ Damals wurden auch für rund 60 der häufigsten Bagatelldelikte die Mindesthaftstrafen abgeschafft und Gefängnisstrafen für minder schwere Straftaten – wie bestimmte Gewaltdelikte von Ersttätern – untersagt.

Auch wenn die Richter weniger Freiheitsstrafen verhängen, sprechen sie die Angeklagten in der Regel doch schuldig. Das tun sie allerdings nicht, weil sie korrupt wären oder Befehle von oben befolgten. Die Strafverfolgungsbehörden sind eher gewaltige bürokratische Maschinen, die relativ viel Autonomie genießen und von der Regierung wenig kontrolliert werden.5 „Selbst Korruption ist unter Richtern nicht so weit verbreitet, wie oft angenommen wird“, meint Olga Romanowa, Exiljournalistin und Mitglied von Russland hinter Gittern. „Sie werden im Gegensatz zu Polizisten recht gut bezahlt und haben viele Vergünstigungen wie eine Dienstwohnung.“ Diese Justizbürokratie sei vor allem darauf aus, eine gute Leistungsbilanz vorzuweisen, um ihre Budgets zu erhalten oder zu erhöhen. Deshalb will sie viele Fälle so schnell wie möglich durchziehen, selbst wenn die Strafen geringer ausfallen.

Diese Strategie wurde vor allem durch zwei Strafrechtsreformen ermöglicht. 2001 wurde die Möglichkeit von Mediations- und Vergleichsverfahren ausgeweitet; 2008 wurde bereits jeder fünfte Fall abgeschlossen, ohne dass es zu einem Prozess kam. Zudem wurden „Sonderverfahren“ eingeführt, bei denen geständige Angeklagte, die einem Schnellverfahren ohne Beweisaufnahme zustimmen und auf eine Berufung verzichten, mit einer Strafe davonkommen, die höchstens ein Drittel der entsprechenden Höchststrafe beträgt. Seit 2010 wurden fast zwei Drittel aller Strafprozesse auf diese Weise abgearbeitet; aktuell sind es immer noch 60 Prozent.6

Im Bemühen um Effizienz stellt die Polizei ihre Ermittlungen oft schon nach minimalen Schwierigkeiten ein. Der Gesetzgeber segnete diese Untätigkeit ab, indem er 2017 einige häufige Straftaten wie innerfamiliäre Gewalt entkriminalisierte und mit einfachen Geldstrafen ahndete.7 Das Ergebnis sind völlig absurde Strafmaße, kritisiert Kirill Korotejew, Anwalt bei der Menschenrechtsorganisation Agora. „Ein Mann kann zwei Jahre Gefängnis aufgebrummt bekommen, weil er den Helm eines Polizisten berührt hat, aber nur 300 Euro Geldstrafe, weil er seine Frau geschlagen hat.“

Um die Statistik zu schönen, bringen Polizisten die Leute zuweilen sogar mit Drohungen oder Gewalt von einer Strafanzeige ab oder sie fälschen deren Inhalt.8 Schätzungen zufolge liegt die Zahl der Anzeigen um das Drei- bis Zehnfache niedriger, als zu erwarten wäre. Da die Polizei nur die einfachsten Fälle bearbeitet, erreicht die Aufklärungsquote ungeahnte Höhen – bei Vergewaltigungen zum Beispiel 91 ­Prozent – gegenüber 34 Prozent in den USA. Das Problem ist, dass die Strafverfolgungsbehörden in ihrem Streben nach Effizienz das Strafmaß von Schuldigen reduzieren oder eine Verurteilung ganz verhindern, zugleich aber für eine Verurteilung Unschuldiger sorgen.

Die perversen Folgen dieser an „Erfolgszahlen“ orientierten Politik werden von Menschenrechts-NGOs heftig angeprangert. Nach Aussagen von Zeugen ist es gängige Praxis, dass Beamte selbst die Strafverfolgung einleiten, was zu einer quasi industriellen Produktion von Fällen führt. Auf diese Weise mutierte die russische Strafjustiz zu einer Verurteilungsmaschine.

Im Erdgeschoss eines der großen stalinistischen Gebäude in der Wiktorenko-Straße in Moskau befindet sich das Café Garland mit Surfbrettern an den Wänden und Wandgemälden karibischer Strände. Alexander Salamow, ein Zwei-Meter-Mann mit ernstem Blick, ist hier Stammkunde. Er war zehn Jahre lang Ermittler bei der Moskauer Polizei und Staatsanwalt in Tschetschenien. „Alle sind von Zahlen besessen“, bestätigt er. „Das ist die einzige Möglichkeit, befördert zu werden oder auch nur den Job zu behalten. Deswegen blasen Polizisten Anklagen auf und fälschen Beweise.“

Besonders häufig werden Drogenfälle konstruiert, deshalb ist diese Ziffer der Kriminalstatistik als einzige seit 20 Jahren nicht signifikant zurückgegangen. „Schlimmer noch“, sagt Salamow, „die Polizei zwingt Menschen mit Gewalt, Straftaten zu gestehen, die sie nicht begangen haben. Man bringt lieber irgendeinen Muslim dazu, sich zu einem Anschlag zu bekennen, als eine langwierige und kostspielige Ermittlung durchzuführen.“

Tatsächlich hat bei über 90 Prozent der Fälle, die vor Gericht kommen, der Angeklagte vorher ein Geständnis abgelegt. Der Rechtssoziologin Ella Panejakh zufolge stehen alle Beteiligten unter Druck: „Der Ermittler oder Staatsanwalt wird den Fall gar nicht erst übernehmen, wenn er nicht sicher ist, dass er ihn schnell weiterleiten kann.“ Der Druck wird nach unten durchgereicht, was letztlich die Polizisten vor Ort dazu bringt, Ermittlungen mit brutalen Mitteln abzukürzen.

Der Anwalt Dmitri Gerassimow, spezialisiert auf Fälle von Polizeigewalt, schätzt, dass mindestens 5 Prozent der Polizisten regelmäßig Folter anwenden, um Geständnisse zu erzwingen: „Kochendes Wasser auf dem Rücken, Verbrennungen durch Zigaretten oder Elektroschocks sind die häufigsten Methoden.“

„Dagegen verschont das System betuchte Beschuldigte, die sich von der Repressionsmaschinerie freikaufen können, oder animiert solche Leute selbst zur Bestechung“, schreibt Panejakh. Das Strafsystem treffe daher vor allem einfache Arbeiter und Menschen in prekären Verhältnissen, die sich nicht wehren können. „Auf sie entfallen 88 Prozent der Haftstrafen.“

Korrupte Pflichtverteidiger

Katerina Moisejewa, Soziologin am Sankt Petersburger Institut für Fragen der Strafverfolgung, hat dokumentiert, wie Ermittler und Richter für mittellose Angeklagte – unter Umgehung der Gerichte – bequeme Pflichtverteidiger auswählen, die der Anklage am ehesten entgegenkommen.8 Diese seien, um Mandanten zu bekommen und Prozesskostenhilfe zu kassieren, gern bereit, ihre unschuldigen Mandanten zu einem Schuldbekenntnis zu bringen. Die würden dann manchmal sogar vor dem Prozess Blankodokumente unterschreiben. Mutigere Pflichtverteidiger stünden dagegen auf einer schwarzen Liste und bekämen sehr viel weniger Fälle zugewiesen.

Die enge Zusammenarbeit von Verteidigung und Anklage ist die Regel. Die Akten sind oft auffällig dünn: „Die Parteien treffen offenbar vor Prozessbeginn Absprachen, um einen rechtlich einigermaßen tragfähigen Fall zu konstruieren“, schreibt Moisejewa. Plädoyers vor Gericht seien sinnlos, die Deals seien schon gemacht. Etwa indem ein Anwalt in ein beschleunigtes Sonderverfahren einwilligt und dafür eine Strafmilderung erreicht.

Richter sind also nicht Schiedsrichter zwischen den Prozessparteien, sondern eine Art Verhandlungspartner, die dem Druck von Ermittlern und Staatsanwälten ausgesetzt sind. Zudem stammt inzwischen, wie Korotejew von Agora moniert, die Hälfte der Richter aus dem Personal der Justizverwaltung. So sei es kein Wunder, „dass die Richter sich als verlängerter Arm der Strafverfolgungsbehörden sehen. Sie wurden nur zum Gehorsam ausgebildet.“

Diese Unterwürfigkeit wird noch gesteigert, weil Richter an der Anzahl ihrer erfolgreich abgeschlossenen Fälle gemessen werden. Erfolg heißt, dass die Akte geschlossen werden kann, ohne dass die Arbeit der Polizei infrage gestellt wurde. Einen Angeklagten freizusprechen oder ein Verfahren einzustellen, gilt hingegen als Affront gegen die Ermittler, der dem Richter Sanktionen oder gar eine Amtsenthebung einbringen kann. Offiziell kann man einen Richter wegen einer hohen Freispruchquote zwar nicht entlassen, aber „Gerichtspräsidenten können immer irgendeine kompromittierende Akte über einen missliebigen Richter aus dem Hut zaubern“, erklärt die Journalistin Romanowa.

Trotz rückläufiger Häftlingszahlen wird das russische Strafsystem also keineswegs humaner. Im Gegenteil, mehr denn je segnen die Gerichte die Arbeit der Polizei lediglich ab und geben fast allen Anträgen auf Überwachung, Durchsuchung oder Untersuchungshaft statt. Offiziellen Statistiken zufolge liegt der Anteil von Freisprüchen bei 0,4 Prozent, das ist nur noch die Hälfte des eh schon niedrigen Anteils von vor zehn Jahren.

Und wenn doch einmal ein Freispruch unterläuft, legen die Staatsanwälte ­umgehend Berufung ein, meist mit Erfolg. Und das kann die Staatsanwaltschaft tun, so oft sie will, erklärt Kirill Titajew. „Bei einem aktuellen Fall läuft gerade die siebte Berufungsverhandlung.“

Nach Ansicht des Politologen Solomon ist Russland längst zur sowjetischen Justiz der 1950er Jahre zurück­gekehrt, zu einer Bürokratie also, „in der die Laufbahn von einer formalen Leistungsbewertung abhängt“.9 Solomon spricht von einem „inquisitorischen System“, in dem die Ermittlungsarbeit nicht dazu dient, Fakten für das Gerichtsverfahren zusammenzutragen, sondern eine „vermeintlich korrekte objektive Wahrheit“ festzumachen. In den juristischen Prozess ist damit die Gerichtsverhandlung nicht der entscheidende Moment, sondern lediglich ein formaler Akt, mit dem die Arbeit des Ermittlers abgeschlossen wird.

In Wladimir Putins dritter Amtszeit (2012–2018) erhielt die Staatsanwaltschaft mehr Kontrollbefugnisse über die Ermittler, wobei der Generalstaatsanwalt und seine Stellvertreter vom Präsidenten selbst ernannt werden. Für die Exekutive ist es in Zeiten sozialer Proteste und Kriege schließlich von entscheidender Bedeutung, sich rasch den direkten Einfluss auf die Justiz zu sichern. Damit ist die Staatsanwaltschaft wieder zu den „Augen des Herrschers“ geworden – dient also genau dem Zweck, zu dem sie ursprünglich im russischen Zarenreich geschaffen wurde.

Während sich Putin einen Kanal für die Intervention bei wichtigen Justizfällen offenhält, lässt er den Strafverfolgungsbehörden bei gewöhnlichen Straftaten weitgehend freie Hand. Wie Pomeranz vom Washingtoner Wilson Center feststellt, mag die russische Regierung zwar punktuell sehr mächtig sein, bleibt jedoch insgesamt schwach. In einem derart großen Land reichen ihre Mittel schlicht nicht aus, um die alltägliche Arbeit ihrer Repressions­bürokratie zu kontrollieren. Sie greift nur ein, wenn es soziale Unruhen zu verhindern gilt – wie im Dezember 2018, als die Duma Artikel 282 des Strafgesetzbuchs revidierte.

Dieser Artikel hatte es bis dahin jedem Polizisten erlaubt, gegen Personen wegen Beiträgen in sozialen Netzwerken vorzugehen, die sich als „Aufruf zum Hass“ interpretieren ließen. „Die Leute machten online einen Witz und konnten dafür ins Gefängnis kommen“, erzählt Davidis. Die Polizei nutzte das Gesetz sehr häufig, um ihre Erfolgs­quote zu heben. Das entpuppte sich allerdings als gefährlich, weil dadurch zuvor eher passive Bürger politisiert wurden.

Als man das im Kreml erkannte, wurden diese Usancen umgehend gestoppt. Nachdem aber in jüngster Zeit alle Menschen, die gegen den Krieg in der Ukraine protestierten, von der Polizei verfolgt wurden, während zugleich die Folgen der internationalen Wirtschaftssanktionen Wirkung zeigten, beschloss die Duma im März 2022, die Verfolgung von Steuerdelikten einzuschränken. Also erließ sie ein Moratorium für Steuerprüfungen in kleinen und mittleren Unternehmen.

Kirill Bobro ist ein ehemaliger Häftling, der heute als politischer Flüchtling in Frankreich lebt. „Man darf sich nicht täuschen lassen“, sagt er. „Die Russen glauben, dass sie in Ruhe gelassen werden, solange sie nicht über Politik reden und keine Kritik äußern. Jetzt aber müssen sie erkennen, dass das immer weniger gilt.“

1 Das Menschenrechtszentrum Memorial wurde im Dezember 2021 in Russland gerichtlich verboten, mit der Begründung, dass es gegen Auflagen für ausländische Agenten verstoßen habe. Am 5. April wurde die Auflösung rechtskräftig. Als neues Menschenrechtsprojekt wurde „Unterstützung für politische Gefangene. Memorial“ ­unter der Leitung von Sergei Davidis gegründet: www.memorial.de/index.php/8020-unsere-arbeit-geht-weiter.

2 Sergei Furgal gehörte der rechten LPDR an. Vgl. Benjamin Bidder, „Machtprobe mit Moskau Rebellion in Russlands Fernem Osten“, Der Spiegel, 11. Juli 2020: www.spiegel.de/ausland/russland-sergej-furgal-in-chabarowsk-festgenommen-vom-fsb-a-aa84526c-be95-483b-8b98-4a83db491027.

3 Maria Litvinova, „Sitzen statt bauen“ (auf Russisch), Kommersant, Moskau, 2. Juni 2021: www.kommersant.ru/doc/4838196.

4 Marcelo Aebi und Mélanie Tiago, „Space I – Council of Europe annual penal statistics: Prison popula­tions“, Europarat, Straßburg 2020:.

5 Ella Paneyakh, „Faking performance together: systems of performance evaluation in Russian enforcement agencies and production of bias and privilege“, Post-Soviet Affairs, Band 30, London (Routledge) 2014.

6 Siehe Peter H. Solomon, „Post-Soviet criminal jus­tice: The persistence of distorted neo-inquisitorialism“, Theoretical Criminology, Band 19, Thousand Oaks (­Sage Publishing) 2015.

7 Siehe Audrey Lebel, „Schutzlos in Russland“, LMd, November 2019:.

8 Ekaterina Moiseeva, „Plea bargaining in Russia: the role of defence attorneys and the problem of asymmetry“, International Journal of Comparative and Applied Criminal Justice, Band 41, London (Routledge) 2017.

9 Siehe Peter Solomon, „Criminalisation, decriminalisation and post-communist transition: The case of the Russian Federation“, Building Justice in Post-Transition Europe?, London (Routledge) 2014.

10 William E. Pomeranz, „Law And The Russian State: Russia’s Legal Evolution from Peter The Great To Vladimir Putin“, London (Bloomsbury) 2018.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Charles Perragin ist Journalist und Mitglied des Col­lec­tif Singulier.

Le Monde diplomatique vom 07.07.2022, von Charles Perragin