07.07.2022

Der gemachte Hunger

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Der gemachte Hunger

Beim Elmauer Gipfel haben die G7 angekündigt, 4,3 Milliarden Euro zusätzlich auszugeben, um den schlimmsten Hunger im Globalen Süden zu lindern. Mit Geld allein lässt sich diese Dauerkrise aber nicht lösen – ein Riesenproblem ist auch die verfehlte Entwicklungshilfe, vor allem von großen NGOs wie der Gates-Stiftung.

von Christelle Gérand

Traditionelle Landwirtschaft in Ruanda VITO FINOCCHIARO/zumapress/picture alliance
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Mehr als ein Fünftel der Bevölkerung Afrikas – 281,6 Millionen Menschen – war 2020 von Hunger betroffen. Schuld daran waren die bewaffneten Konflikte in Zentralafrika und im Sahel, Extremwetter und Klimaschwankungen sowie die pandemiebedingte weltweite Rezession.1 Zwei Jahre später zeichnet sich durch den Krieg in der Ukraine eine noch bedrohlichere Hungerkrise ab.2 Allein 25 afrikanische Länder importieren über ein Drittel ihres Weizenbedarfs aus Russland und der Ukraine3 – Benin und Somalia sogar zu 100 Prozent.

Trotz dieser traurigen Bilanz werden afrikanische Regierung selten wegen ihrer Agrarpolitik und Ernährungssysteme kritisiert. Meist verfolgen sie einen produktivistischen Ansatz. Als die Staats- und Regierungschefs der Afrikanischen Union (AU) 2014 in der äqua­to­ri­al­gui­ne­ischen Hauptstadt Malabo versprachen, bis 2025 „den Hunger beenden“, empfahlen sie, „das Wachstum der Landwirtschaft zu beschleunigen“. Mit Hilfe von Dünger, Pestiziden und „verbessertem“ Saatgut müsste die Produktivität „mindestens verdoppelt“ werden.

Diesen Ansatz vertritt auch die Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika (Agra), die 2006 unter anderem von der Bill & Melinda Gates Stiftung (BMGF) gegründet wurde. Letztere stellt zwei Drittel des 1 Milliarde US-Dollar umfassenden Jahresbudgets.4 Ungeachtet dieser Summen hat die Agra, deren Verantwortliche genauso wenig auf unsere Anfragen reagiert haben wie die BMGF, ihr Ziel nicht erreicht, die landwirtschaftliche Produktion in Afrika bis 2020 zu verdoppeln und die Nahrungsmittelunsicherheit zu halbieren. Insgesamt stieg die Produktivität lediglich um 18 Prozent.

Ein besonders eindrückliches Beispiel für die verfehlte Entwicklungshilfe liefert Ostafrika: Während der Anbau von Mais, der am stärksten subventioniert wurde, zwischen 2006 und 2018 in Äthiopien um 71 Prozent, in Ruanda um 66 Prozent und in Uganda um 64 Prozent gestiegen ist, lag der Anteil der Unter- und Mangelernährten immer noch bei über 30 Prozent.5

In der Region lebt nur ein Viertel der Gesamtbevölkerung Afrikas, aber über die Hälfte der Mangelernährten. Das liegt daran, dass die intensive Monokultur sich nur auf die Kalorienzufuhr konzentriert, was auf Kosten der Lebensmittelvielfalt geht. Die Ruanderin Agnès Kalibata, Agra-Präsidentin und UN-Sonderbotschafterin für den Welternährungsgipfel 2021, tut diese als „Luxus“ ab.6 In Ruanda wurden beispielsweise Mais und Reis statt Sorghum und Hirse angebaut, die weitaus mehr Mikronährstoffe enthalten und resilienter gegen klimatische Veränderungen sind.

Trotz dieses Misserfolgs hält die Agra an ihrer Strategie fest und kann dabei auf die Unterstützung afrikanischer und internationaler Organisa­tio­nen zählen. Viele Kleinbauern, zum Beispiel in Ruanda, wehren sich indes gegen die aufgezwungene Umstellung, pflanzen heimlich weiter traditionelle Grundnahrungsmittel wie Süßkartoffeln oder Sorghum oder bauen auch einfach gar nichts mehr an.

„In Ruanda wird das Phänomen der ‚unbebauten Erde‘ immer sichtbarer“, berichtete vor zwei Jahren die belgische Entwicklungsökonomin An Ansoms, „während hier normalerweise aufgrund des Bodenmangels und der Überbevölkerung kaum Land brachliegt“. An manchen Orten blieben ganze Terrassen leer, weil man in den Vorjahren so enttäuschende Erfahrungen gemacht hat oder weil der Boden in so schlechtem Zustand war.7 Mittlerweile gestattet Ruandas Präsident Paul Kagame, eigentlich ein Anhänger der intensiven Landwirtschaft, wieder den Anbau althergebrachter Sorten.

Die Agra-Opposition ist auch institutionell organisiert. So vertritt das Bündnis für Lebensmittelsouveränität in Afrika (Alliance for Food Sovereignty in Africa, Afsa), das 2011 auf der UN-Klimakonferenz im südafrikanischen Durban gegründet wurde, 200 Mil­lio­nen Kleinbäuerinnen und -bauern. Spender werden aufgefordert, sich von dem Modell, für das die Agra steht, zu distanzieren.

Monokultur und chemische Keule

Im Interview mit al-Dschasira kritisierte der äthiopische Afsa-Koordinator Million Belay am 22. September 2021, dass die Kommission der Afrikanischen Union unter Druck gesetzt werde, damit sie „die Gesetze und Anbauverordnungen“ an internationale Vorgaben anpasst. Afsa setzt sich stattdessen für eine Agrarökologie ein, die man laut der UN-Expertengruppe für Lebensmittelsicherheit und Ernährung (HLPE) gleichermaßen als „eine Wissenschaft, eine Reihe landwirtschaftlicher Praktiken und eine soziale Bewegung“ beschreiben könnte.8

Im Großen und Ganzen geht es bei der Agrarökologie darum, vielfältigere, widerstandsfähigere und produktivere landwirtschaftliche Ökosysteme aufzubauen, mit biologischer Schädlingsbekämpfung und Recycling von Nährstoffen, Energie und Abfällen. Je nach Boden und Umgebung braucht es verschiedene Praktiken und einen diversifizierten Anbau.

Im Norden von Äthiopien untersucht Afsa beispielsweise die Anbaumethoden für Teffsamen (Zwerghirse); in Uganda geht es um den Einsatz von biologischem Dünger und in Tansania um die Speicherung von Regenwasser. Auf dem Vorbereitungstreffen für den UN-Ernährungsgipfel in Brazzaville im März 2021 zeigten die Geberländer allerdings kaum Interesse an dem agrar­öko­logischen Ansatz.9

Hier wurden vielmehr Agrarprodukte als das „neue Öl“ gepriesen. Bis 2030, so stellte man sich das vor, könnten aus dieser Einnahmequelle 1 Billion US-Dollar sprudeln. Um dieses Wachs­tums­potenzial zu „befreien“, müsse man allerdings die Erträge steigern und das Tempo beschleunigen, mit dem neue „produktionsfördernde Technologien“ eingesetzt werden. Positiv vermerkt wurde, dass die afrikanischen Bauern und Bäuerinnen 2020 im Schnitt nur noch 10 Kilometer laufen mussten und nicht mehr wie noch vier Jahre zuvor 30 Kilometer, um die Verkaufsstellen für Dünger und Pestizide zu erreichen.

Die Chemieindustrie triumphiert, klagt Belay. Er hält der BMGF vor, dass sie, statt den Bauern zu helfen, die Öffnung der afrikanischen Märkte für agrochemische Produkte und genveränderte Organismen (GVO) fördert. Eine Untersuchung der internationalen NGO Grain10 hat bestätigt, dass zwischen 2003 und 2021 fast die Hälfte der Stiftungsfördermittel für die Landwirtschaft an große Organisa­tio­nen gingen, die Monokulturen befürworten. Neben Agra sind hier die Beratungsgruppe für Internationale Agrarforschung (CGIAR), die Afrikanische Stiftung für Landwirtschaftstechnologie (AATF) oder verschiedene UN-Behörden zu nennen.

Die Fördermittel der BMGF fungieren quasi wie ein trojanisches Pferd für die großen Saatguthersteller. Vier Jahre nach der Afsa-Gründung erwarb die Stiftung 500 000 Aktien des US-Konzerns Monsanto,11 der das weltweit meistgenutzte – und mutmaßlich krebserregende – glyphosathaltige Breitbandherbizid Roundup herstellt. Monsanto wurde 2018 für 66 Mil­liar­den US-Dollar von dem deutschen Chemiekonzern Bayer aufgekauft, der dadurch zwar zum weltgrößten Produzenten für Gentechpflanzen und Pestizide aufgestiegen ist. Seit Jahren nun schon muss sich Bayer wegen des umstrittenen Monsanto-Produkts Round­up vor US-Gerichten verantworten.12

Die BMGF versichert zwar, dass „80 Prozent der Fördermittel für afrikanische Landwirte bestimmt“ seien, doch die NGO Grain widerspricht dem: Im Gegenteil sei ein Großteil, nämlich 82 Prozent, an Institutionen mit Sitz in Nordamerika und Europa ausgeschüttet worden, weniger als 10 Prozent sei an afrikanische Organisationen ge­gangen.

In einem offenen Brief, der von 500 Würdenträgern unterzeichnet wurde, wirft das südafrikanische Umweltinstitut der Glaubensgemeinschaften (Safcei) der BMGF vor, sie fördere die Ausbreitung einer industriellen Landwirtschaft, die die „humanitäre Krise verschärft“.13 Dieses Modell habe Bäuerinnen und Bauern um ihr Land gebracht und die Ökosysteme vor Ort geschwächt: „Wenn man jedes Jahr die gleiche Sorte anbaut, ohne jeden Fruchtwechsel, dann werden die Pflanzen anfällig für Schädlinge und Krankheiten und der fruchtbare Boden wird zerstört; die reiche Artenvielfalt reduziert sich und das genetische Erbe der afrikanischen Ernährungssysteme verkümmert“, erläutert die geschäftsführende Direktorin des Ins­ti­tuts Francesca De Gasparis.

Kann die Agrarökologie eine Alternative bieten? 2015 hat die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) Senegal zum Pilotland für die Erprobung dieses Transformationsprozesses ausgewählt. Der UN-Sonderbotschafter für das Menschenrecht auf Nahrung Michael Fakhri hofft nun auf die Unterstützung „einer starken Bauernbewegung“.

Im Senegal gibt es zahlreiche unabhängige Vereine, deren Leiter auch in lokalen Entscheidungsgremien sitzen und Verbindungen zu anderen westafrikanischen Organisationen pflegen. Derweil kritisieren europäische For­sche­r:in­nen den großen Einfluss von NGOs und internationalen Geldgebern auf die Agrarökologie und vergleichen die heutige Situation mit der Einführung von Pestiziden durch französische Agrarwissenschaftler in kolonialer und postkolonialer Zeit.14

Den ersten UN-Gipfel für Ernährungssysteme eröffnete Generalsekretär António Guterres am 23. September 2021 mit dem Appell, „unsere Auffassung von Nahrung zu überdenken – sie nicht als Ware zu betrachten, die es zu vermarkten gilt, sondern als Recht eines jeden Menschen“. Und er erinnerte an die Notwendigkeit, die Nahrungsmittelsysteme zu verändern, die für „ein Drittel der Treibhausgasemissionen und 80 Prozent des Artensterbens“ verantwortlich seien.

Den Verlauf der Konferenz, Co-Veranstalter war das Weltwirtschaftsforum, dominierten dann allerdings wieder einmal die großen Konzerne, wie Michael Fakhri frustriert feststellt. Seit der Gründung der FAO 1945 bis zu den Welternährungsgipfeln von 1974, 1996 und 2001 standen das Recht auf Nahrung und die Rolle der Zivilgesellschaft stets auf der Agenda. Heute setzt die Agroindustrie die Themen. Darum haben hunderte Organisationen, darunter Afsa, die Konferenz boykottiert und einen Gegengipfel veranstaltet.

1 „Africa – Regional Overview of food security and nutrition 2021: Statistics and trends“, FAO, UN-Wirtschaftskommission für Afrika (ECA) und Afrikanische Union (AU), Accra, November 2021.

2 Siehe Akram Belkaïd, „Weniger Brot für die Welt“, LMd, Mai 2022.

3 „The impact on trade and development of the war in Ukraine“, Unctad, Genf, 2022.

4 Timothy A. Wise, „Failing Africa’s farmers: an impact assessment of the Alliance for a Green Revolution in Africa“, Global Development and Environment Institute, Tufts University, Medford, Juli 2020.

5 „State of Food Security and Nutrition 2019“, FAO, Rom 2019.

6 „Good food for all – Averting a Covid-19 hunger crisis“, Youtube, 27. Juli 2020.

7 An Ansoms, „The End of the Green Revolution in Rwanda?“, African Review of Political Economy, Johannesburg 2020.

8 „Agroecological and other innovative approaches for sustainable agriculture and food systems that enhance food security and nutrition“, High-Level Panel of Experts (HLPE) of the Committee of World Food Security (CFS), Rom, Juli 2019.

9 „Africa Regional Forum on Sustainable Development – Regional Dialogue: African Food Systems“, Arbeitsdokument von ECA, FAO, Welternährungsprogramm, dem Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (Ifad) und der Afrikanischen Entwicklungsbank, Brazzaville, März 2021.

10 „How the Gates Foundation is driving the food system, in the wrong direction“, Grain, Barcelona, Juni 2021.

11 John Vidal, „Why is the Gates foundation investing in GM giant Monsanto?“, The Guardian, 29. September 2010.

12 Am 21. Juni 2022 lehnte der Supreme Court einen Revisionsantrag Bayers gegen eine Verbraucherklage ab, der in diesem Fall nun 25 Millionen US-Dollar Schadenersatz zahlen musste. In Deutschland reichten 320 Bayer-Aktionäre wegen der Verbraucherklagen in den USA am 31. Dezember 2021 Klage ein und fordern ihrerseits Milliardenentschädigungen.

13 „Open letter to the Bill and Melinda Gates Founda­tion from the Safcei and faith community representatives from the African continent“, 10. September 2020.

14 Patrick Bottazzi und Sébastien Boillat, „Political Agro­ecology in Senegal: Historicity and Repertoires of Collective Actions of an Emerging Social Movement“, in: Sustainability, Band 13, Nr. 11, Basel, Mai 2021.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Christelle Gérand ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 07.07.2022, von Christelle Gérand