07.07.2022

Algerische Depressionen

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Algerische Depressionen

von Lagdar Benchiba

Ein Bild aus besseren Tagen: Algier, 8. März 2019 alamy
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Die Worte hat jemand auf eine Mauer im Stadtteil Ain Naâdja von Algier geschrieben, auf der Facebookseite „À travers lahyout“ (über Mauern) kann man sie nachlesen: „Wie sagt man dem Meer, dass man an Land ertrinkt?“ Der Blick auf die Zukunft ist in Algerien von Verbitterung, Müdigkeit und Verzweiflung verdunkelt.

Erst Mitte Mai ertranken wieder 19 Menschen vor der Küste bei Fouka, 55 Kilometer westlich von Algier, als ihr Boot sank. Am 4. Juni starben zwei junge Männer, die sich in den Frachtraum eines Flugzeugs geschlichen hatten. Eine Viertelstunde vor dem Start hatten sich die beiden Freunde noch gefilmt und in die Kamera gelacht. Sie dachten, sie würden nach Barcelona fliegen, eine kurze Strecke von 45 Minuten. Doch der Flug dauerte viel länger. Sie starben an Unterkühlung und Sauerstoffmangel und wurden erst nach der Rückkehr des Flugzeugs in Algier entdeckt.

„In Algerien ertrinkt man mittlerweile auch in der Luft“, seufzt ein pensionierter Akademiker1 , der seine Social-Media-Accounts gelöscht hat, weil er die schleichende Banalisierung der menschlichen Dramen nicht mehr erträgt. Er hat sich, wie viele andere, für eine innere Emigration entschieden. „Ich will nicht mehr leiden“, rechtfertigt er sich. „Stattdessen ertränke ich mich in Büchern.“

Die Auswanderung, die harga – was sowohl ein symbolisches „Niederbrennen“ der Grenze als auch das konkrete Verbrennen der Pässe bezeichnet –, ist nichts Neues. Schon in den 1980er Jahren träumte die algerische Jugend vom „Babor Australia“ (einem Schiff nach Australien), aber die, die das Land verlassen wollen, werden immer mehr. Daran hat auch die mit so vielen Hoffnungen verbundene friedliche Protestbewegung Hirak von 2019/20 nichts geändert.2

Nach Angaben der spanischen Regierung stammten 2021 fast 10 000 von insgesamt 14 000 nordafrikanischen illegal eingereisten harragas aus Alge­rien – 20 Prozent mehr als 2020. Keine Woche vergeht, ohne dass die Presse über massenhafte Aufbrüche und über Schiffbrüche berichtet. Die Überfahrt kostet zwischen 1000 und 5000 Euro pro Person, je nach Art des Boots. Manchmal machen sich ganze Großfamilien auf den Weg, vom Baby bis zur Großmutter.

„Die jungen Leute gehen weg, weil sie keine Perspektive haben: keine Arbeit, keine Wohnung, sehr wenig Zerstreuung. Die Älteren, weil ihre materielle Situation untragbar ist“, sagt ein ehemaliger Minister aus den 1970er Jahren verbittert. „Und als ob die Si­tua­tion nicht schon schlimm genug wäre, beschneidet das Regime auch noch die persönlichen Freiheiten.“ Am 7. Juni 2022 saßen 271 Personen wegen ihrer religiösen oder politischen Einstellung im Gefängnis. Die Staatsmacht verfolgt ein klares Ziel: die gewaltsame Wiederherstellung der autoritären Ordnung. Niemand soll mehr auf die Straße gehen, und die ohnehin unterdrückte Opposition soll sich kein Gehör mehr verschaffen können.3

Bereits im Juni 2021 wurden politische Aktivitäten noch weiter eingeschränkt, das geschah insbesondere durch einen neuen Absatz im Artikel 87 des Strafgesetzbuchs, mit dem die Definition terroristischer Straftaten erweitert wird. Dazu zählt nun auch jedweder Versuch, „darauf hinzuarbeiten oder dazu anzustiften, an die Macht zu gelangen oder das Regierungssystem mit nicht verfassungsgemäßen Mitteln zu ändern“.

Millionen Arbeitslose mit Hochschulabschluss

Das „neue Algerien“, das die Regierung mit Abdelmadjid Tebbounes Amtsantritt im Dezember 2019 ausgerufen hat, unterscheidet sich offenbar kaum vom Autoritarismus Abdelaziz Bouteflikas, der von April 1999 bis April 2019 an der Macht war. Seit Kurzem ist zwar viel von einer Politik der „ausgestreckten Hand“ die Rede, aber es ist nicht klar, was damit gemeint sein soll. Die Repression geht weiter.

Ende Mai wurde die Sozialistische Arbeiterpartei (PST) per Gerichtsbeschluss gezwungen ihr Büro zu schließen und sämtliche Aktivitäten einzustellen. „Im neuen Algerien kann man für einen simplen Facebook-Post in den Knast kommen“, berichtet ein Menschenrechtsaktivist, der vorsichtshalber alle seine Social-Media-Accounts gelöscht hat. „Man kann nicht einmal mehr seine schlechte Laune rauslassen, ohne eine Vorladung zu riskieren.“

Der Auswanderungsdruck ist keine Frage der sozialen Klasse. Alle wollen weg. Qualifizierte Fachkräfte, zumal Ärztinnen und Ärzte, können auf eine legale Einwanderung nach Frankreich oder in andere westliche Länder hoffen, wie Deutschland oder Kanada, oder auch in eine der Golfmonarchien oder die Türkei. Jedes Jahr kommen 5000 Medizinerinnen und Mediziner von den Universitäten, von denen sehr viele später das Land verlassen. Eine offizielle Statistik über diese Abwanderung existiert nicht. Aufschlussreich sind allerdings die Ergebnisse der alljährlichen Prüfungen zur Kon­trolle medizinischer Kenntnisse (EVC) in Frankreich. Wer diese besteht, kann seine medizinischen Abschlüsse anerkennen lassen. Von den 2000 offenen Stellen in Frankreich im Februar 2022 wurden 1200 mit erfolgreichen Be­wer­be­r:in­nen aus Algerien besetzt.

„Im zweiten Jahr meines Medizinstudiums habe ich angefangen, Türkisch- und Deutschkurse zu belegen“, erzählt ein Ausreisekandidat. „Ich möchte nicht in einem Land bleiben, das Ärzte ausbildet, ohne zu wissen, was es mit ihnen anfangen soll, und gleichzeitig die Krankenhausinfrastruktur abbaut. Mir geht es da nicht nur ums Geld: Es ist mein Lebensplan.“

Sobald es im Frühjahr wärmer wird, werden die botis (Boote) immer voller. Darin sitzen Menschen aus Algerien Seite an Seite mit Mi­gran­t:in­nen aus der Sahelzone und syrischen Geflüchteten. Sie riskieren damit eine Gefängnisstrafe von zwei bis sechs Monaten sowie eine Geldstrafe von 20 000 bis 60 000 Dinar (100 bis 300 Euro) wegen „illegaler Ausreise“. Manche Maßnahmen, die die Flucht aus dem Land verhindern sollen, wirken geradezu lächerlich – etwa wenn am Strand von Oran im Westen Algeriens Betonmauern hochgezogen werden. Die sollen die botis daran hindern, in See zu stechen.

Es kommt nicht selten vor, dass auf dem Meer abgefangene Emigranten vom Personal der Küstenwache oder der Polizei, die sie in Empfang nimmt, misshandelt werden. Angesichts der großen Zahl von harragas erklärte Präsident Tebboune mehrfach, die Exilkandidaten würden vor allem durch den „westlichen Lebensstil“ verführt. Im Januar 2020, kurz nach seiner Wahl, hatte er die Idee, junge Leute auf eine Kurzreise in europäische Länder zu schicken. Dadurch sollten ihnen die Augen geöffnet werden über die harten Lebensbedingungen in Europa. Diese Methode dürfte ihre beabsichtigte Wirkung verfehlen. Allein Ende Mai sind elf Jugendliche, die in Frankreich an der Schul-Olympiade teilgenommen hatten, nicht mehr zurückgekehrt.

Die Hirak-Proteste hatten eine gewisse Euphorie im Land ausgelöst und das Selbstwertgefühl vieler Algerierinnen und Algerier gestärkt. Doch inzwischen herrscht in den sozialen Netzwerken eine düstere Stimmung, depressiv bis zum Selbsthass. Die bewährte Ablenkung Fußball zieht auch nicht mehr: Die algerische Nationalmannschaft konnte sich nicht für die Weltmeisterschaft in Katar im November qualifizieren.

Die Politologin Louisa Dris-Aït Hamadouche will aber dennoch nicht von einem Rückschritt sprechen. Schließlich sei die Hirak-Bewegung die erste friedliche soziale Bewegung in Algerien gewesen, „die die Würde in den Mittelpunkt ihrer Forderungen gestellt hat“, erklärt sie. Am 5. Juli, dem Jahrestag der Unabhängigkeit, schwelgt seither nicht nur die Generation von 1962 in Erinnerungen – auch die Hirak-Generation hat daran teil. „Da ist natürlich viel Nostalgie im Spiel, aber es gibt eben auch viele Gründe, daran zu glauben, dass in der Zukunft nichts unmöglich ist.“

Die Hochschullehrerin will allerdings auch nichts schönreden. Die Lage sei ernst. In Algerien gibt es 1,7 Mil­lio­nen Studierende an 106 Universitäten in fast allen Wilayas (De­parte­ments).4 Aber „auch die Unis entgehen dem allgemeinen Verfall der Institutionen nicht“. Die Hochschulen steckten in einer Legitimitätskrise, weil ihre Ab­sol­ven­t:in­nen keine angemessene Arbeit finden können. Oft müssen sie sich im informellen Sektor durchschlagen. Im März hat die Regierung eine Unterstützung für arbeitslose Akademiker eingeführt. Die monatliche Zahlung von umgerechnet 65 Euro bekamen mehr als 1 Million Menschen.

60 Jahre Unabhängigkeit und kein Jubel

Solche Maßnahmen kann sich die Regierung in diesem Jahr leisten, weil sie von den gestiegenen Öl- und Gaspreisen infolge des Kriegs in der Ukraine profitiert. Laut IWF-Prognosen wird Algerien 2022 voraussichtlich 58 Milliarden US-Dollar einnehmen – gegenüber 34 Milliarden 2021 und rund 20 Mil­liar­den im Jahr 2020. Trotz der explodierenden Preise für Weizen und andere importierte Lebensmittel hat sich die finanzielle Lage des Landes deutlich verbessert. Und die sprudelnden Einnahmen aus dem Energieexport könnten, wie so oft in der Geschichte, die Verantwortlichen dazu verleiten, dass sie alles beim Alten lassen.

Zum Beispiel kann die politisch heikle Neugestaltung des Subventionssystems für Grundnahrungsmittel wieder aufgeschoben werden. „Abgesehen von der sozialen Brisanz handelt es sich da um ein hochpolitisches Maßnahmenpaket, über das sich die gesamte Gesellschaft verständigen müsste. Aber das ist heute unmöglich“, meint Abdelkrim Boudra, Berater und Aktivist in einer Bürgerinitiative. Er fürchtet sogar, dass das Regime dazu übergehen wird, Energieträger wie Schiefergas zu fördern, um die Nachfrage aus Europa zu befriedigen.

„Wir werden auch in Zukunft Europas ‚Gaskuh‘ bleiben“, sagt Bou­dra – und zwar zulasten der durchaus möglichen Entwicklung von Industrie, Tourismus und neuer Technologien: „Ein Horrorszenario für die kommenden Generationen.“ Es könnte aber – wie Mitte der 2010er Jahre, als das Regime ein Frackingprojekt in der Sahara umsetzen wollte – wieder zu Protesten kommen. Der damalige Widerstand wurde zum Vorboten der Hirak-Bewegung.

Das große Postamt im Zentrum von Algier, ein neomaurisches Gebäude, hat für die Hauptstadt eine große symbolische Bedeutung. Und ebenso für die Hirak, denn hier versammelten sich die De­mons­trierenden. Heute ist sie mit Blech verbarrikadiert und darf nicht mehr betreten werden. Ganz in der Nähe sitzt der junge Arzt Ahmed A. auf einer Caféterrasse. Auch er hat vor, das Land zu verlassen.

Die Begeisterung, mit der er an den Hirak-Protesten teilgenommen hat, ist nur noch eine blasse Erinnerung. Heute ist er einer von den vielen mdeperssine (Algerianisierung der Wörter „deprimiert“ und „depressiv“), die daran geglaubt haben, dass mit der Hirak der Schwung der Unabhängigkeitsbewegung wiederaufleben könnte. „Ich war dort, mitten in der Menge am Freitag, am 5. Juli 2019 zum Unabhängigkeitstag“, erzählt Ahmed. „Und zum ersten Mal hatte dieser Tag eine tiefere Bedeutung für mich, er verband mich mit der Geschichte.“

Derzeit gehört diese Geschichte offenbar nicht zu den wichtigsten Prioritäten der Regierung. Zum 60. Jahrestag am 5. Juli wurde ein martialisches Logo entworfen und erst kurz zuvor veröffentlicht. Das Budget für die Feierlichkeiten liegt bei fast 6 Milliarden Algerischen Dinar (knapp 38 Millionen Euro), aber inhaltlich scheint sich niemand Gedanken gemacht zu haben.

Der Historiker Hosni Kitouni findet es überhaupt nicht verwunderlich, dass das Regime mit diesem Schlüsseldatum der algerischen Geschichte nicht mehr viel anzufangen weiß. Seit sich durch die „Explosion der Freiheit in der Hirak“ ein Pluralismus der Erinnerungen und kritisches Denken verbreitet haben, könne es sich nicht mehr wie früher darüber legitimieren. Hinzu kommt der offensichtliche Widerspruch zwischen dem nationalistischen Diskurs und dem tatsächlich antinationalen Verhalten der politisch Verantwortlichen.

„Das Bedürfnis nach Demokratie ist auch ein Bedürfnis, Vielfalt anzuerkennen und zu akzeptieren“, sagt Kitouni, der die erste Monografie über die Kabylen veröffentlicht hat und in Algerien eine bekannte Figur ist. Doch die „jahrzehntelange Legitimation über den historischen Bezug auf den Unabhängigkeitskampf“ habe die Entwicklung von Kritikfähigkeit und Weltoffenheit an den Hochschulen verhindert. „Die Folgen spüren wir bis heute.“

1 Wenn nicht mit vollem Namen erwähnt, haben die Gesprächspartner um Anonymität gebeten.

2 Siehe Arezki Metref, „Sie sind viele, und sie sind laut“, LMd, Dezember 2019.

3 „Algérie. Lancement d’une campagne contre la répression croissante des droits humains par le gouvernement“, Amnesty International, 19. Mai 2022.

4 Khaoula Taleb-Ibrahimi, Fatma Oussedik und Louisa Dris-Aït Hamadouche (Hg.), „L’Université désacralisée. Recul de l’éthique et explosion de la violence“, Algier (Koukou Éditions) 2022.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Lakhdar Benchiba ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 07.07.2022, von Lagdar Benchiba