09.06.2022

Schwaches Weltgericht

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Schwaches Weltgericht

Die eingeschränkten Möglichkeiten des Internationalen Strafgerichtshofs

von William Bourdon

Driss Ouadahi, Elévation, 2020, Öl auf Leinwand, 80 × 70 cm
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Vor 20 Jahren, am 1. Juli 2002, trat das Römische Statut in Kraft, die vertragliche Grundlage für einen permanenten, unabhängigen, internationalen Strafgerichtshof, der für Fälle von Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig sein sollte.

Der IStGH hatte Vorläufer mit geografisch begrenzter Zuständigkeit: das UN-Jugoslawien-Tribunal (IStGHJ) von 1993 und das UN-Ruanda-Tribunal (IStGHR) von 1994. Zudem gab es hy­bri­de Ad-hoc-Tribunale unter UN-Ägide wie den 2002 in Freetown eingerichteten Sondergerichtshof für Sierra Leone zur Aufarbeitung des Bürgerkriegs, das Sondertribunal für den Libanon in Den Haag, das seit 2005 das Attentat auf Rafiq al-Hariri aufklärt, oder das Rote-Khmer-Tribunal in Phnom Penh, dessen Richter 2006 – 25 Jahre nach den Verbrechen des Pol-Pot-Regimes – vereidigt wurden.1

Allerdings wird das Weltgericht nicht von allen 193 UN-Mitgliedern anerkannt. Innerhalb der letzten 20 Jahre haben 123 Staaten das Römische Statut ratifiziert. Doch viele mächtige Staaten fehlen, darunter die USA, China und Indien, aber auch Israel sowie die meisten arabischen Länder (mit Ausnahme von Palästina, Jordanien und Tune­sien) und Russland, das 2016 erklärte, es werde den Vertrag nicht ratifizieren. US-Präsident Trump hat den IStGH sogar direkt sabotiert, als er im April 2019 der Chefanklägerin Fatou Bensouda die Einreiseerlaubnis entzog, weil es ihm nicht in den Kram passte, dass der Gerichtshof Ermittlungen gegen US-Soldaten wegen mutmaßlicher Verbrechen in Afghanistan begonnen hatte. Die wurden mittlerweile „ausgesetzt“ – offiziell aus Mangel an Ressourcen.

Als eines der ersten Länder hat Frankreich das Römische Statut unterzeichnet, ließ sich dabei aber seine Unterschrift teuer bezahlen, wie ein Bericht des französischen Senats enthüllt hat.2 Nachdem Paris zunächst vergeblich versucht hatte, Kriegsverbrechen von der neuen Jurisdiktion auszuschließen, handelte der französische Vertreter in letzter Minute eine „Übergangsbestimmung“ aus: Laut Artikel 124 kann ein Vertragsstaat erklären, dass er für einen Zeitraum von sieben Jahren die Zuständigkeit des IStGH nicht anerkennt, „wenn angeblich ein Verbrechen von seinen Staatsangehörigen oder in seinem Hoheitsgebiet begangen wurde“.3 Nur Frankreich und Kolumbien haben das Römische Statut mit diesem Artikel ratifiziert – auf den Frankreich 2008 verzichtet hat, ehe er im November 2015 ganz abgeschafft wurde.

Als ich in den 1990er Jahren an den Vorbereitungstreffen in New York teilnahm, habe ich erlebt, wie Frankreichs Vertreter versuchten, die Kompetenzen des Gerichts aufzuweichen. Zwar würdigte man in Paris später, nach der Unterzeichnung des Römischen Statuts, die Einrichtung des IStGH als großen Fortschritt; aber in Wahrheit fürchtete man die Unabhängigkeit eines Gerichts, das der Diplomatie in die Quere kommen könnte.

Die Zuständigkeit des IStGH hängt im Wesentlichen davon ab, auf welchem Territorium eine Straftat begangen wurde, die Staatsangehörigkeit des oder der Verdächtigen spielt eine untergeordnete Rolle. Eine bemerkenswerte Neuerung besteht darin, dass es keine Immunität für aktive politische Figuren gibt. Das galt etwa für den kenianischen Präsidenten Uhuru Ken­yatta, der kurzzeitig unter Anklage stand, weil er nach der Präsidentschaftswahl 2007 „als Strippenzieher agiert haben soll“, als es bei gewalttätigen Zusammen­stößen mehr als 1000 Toten gegeben hatte.4

Ein Dilemma des Römischen Statuts ist seine Doppelmoral. Die einzige Möglichkeit, universal und unabhängig von Staatsgebiet und Staatsangehörigkeit tätig zu werden, liegt in den Händen des Sicherheitsrats und seiner fünf ständigen Mitglieder. Und die können mit ihrem Vetorecht verhindern, dass die Anklagebehörde eingeschaltet wird, wenn sie ihre eigenen Interessen oder die ihrer Verbündeten berührt sehen.

So hat Russland mehrfach sein Vetorecht ausgeübt, um seinen syrischen Verbündeten al-Assad zu schützen, dem aufgrund des mutmaßlichen Einsatzes von Chemiewaffen die Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen drohte.5

Im Fall der Ukraine konnte der seit Juni 2021 amtierende Chefankläger Karim Khan zwar eine Untersuchung einleiten, weil Kiew nach der russischen Annexion der Krim am 9. April 2014 die Zuständigkeit des Gerichtshofs anerkannt hatte. Abgesehen davon, dass auch die Ukraine wie Russland das Römische Statut bislang nicht ratifiziert hat, ist zu erwarten, dass Moskau gegen jede Resolution, die den IStGH anruft, sein Veto einlegen wird. Allerdings zeigt der IStGH-Haftbefehl vom 10. März 2022 gegen drei russische Staatsangehörige, denen Kriegsverbrechen in Südossetien vorgeworfen werden, dass die universale Rechtsprechung doch noch zum Zuge kommen könnte.

Privilegien für die UN-Vetomächte

Wie bevorzugt die mächtigen Vertragsstaaten sind, zeigt sich eklatant im Vergleich mit der Behandlung Afrikas. Da Frankreich und die EU die afrikanischen Staaten massiv gedrängt und zuweilen auch finanziell erpresst haben, das Römische Statut zu ratifizieren, sind die meisten von ihnen inzwischen dem IStGH beigetreten. Das hat automatisch zur Folge, dass alle der 37 Angeklagten aus Afrika stammen. Zehn Personen wurden bislang verurteilt, darunter vier zu langjährigen Freiheitsstrafen.6

Dennoch ist der IStGH in seinen Urteilen unabhängig. Das de­mons­trier­te er etwa im März 2021 mit dem Freispruch von Laurent Gbagbo. Die Anklage gegen den ehemaligen Präsidenten von Côte d’Ivoire lautete auf „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, weil er 2010 in Reaktion auf seine Wahlniederlage seinen paramilitärischen Einheiten den Befehl gegeben hatte, auf Demonstranten zu schießen. Das Urteil war eine regelrechte Ohrfeige für Chefanklägerin Fatou Bensouda, die offenkundig auf eine Verurteilung hingearbeitet hatte.

Der Krieg in der Ukraine könnte für den IStGH eine weitere Zerreißprobe bedeuten. Bereits am 28. Februar, also vier Tage nach der russischen Agres­sion, kündigte der neue Chefankläger Karim Ahmad Khan die Einleitung von Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an, und zwar aufseiten „beider Konfliktparteien“. Khans Vorgehen könnte allerdings zu komplizierten Diskussionen führen.

Nach dem Komplementaritätsprinzip hat die nationale Strafjustiz grundsätzlich Vorrang vor dem IStGH. Der kann erst tätig werden, wenn die nationalen Gerichte aus irgendeinem Grund handlungsunfähig sind oder von lokalen Behörden behindert werden. So konnte die Chefanklägerin Bensouda 2020 keine Ermittlungen über mutmaßliche Kriegsverbrechen der britischen Armee im Irak aufnehmen, weil die britische Justiz beweisen konnte, dass sie dazu selbst willens und in der Lage war.

Im Fall Ukraine kann nichts die einheimische Justiz daran hindern, selbst tätig zu werden, zumal die Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa bereits intensive Ermittlungen betreibt. Aber sie mag es auch politisch sinnvoll finden, mutmaßliche Täter in Den Haag vor Gericht zu bringen. Da allerdings Beschuldigte nicht zweimal abgeurteilt werden dürfen, wird es in diesem Fall zu komplexen – und geheimen – Verhandlungen kommen.

Manche Staaten werden der Ukrai­ne sicher klarmachen, wie wichtig es für die Glaubwürdigkeit des IStGH ist, dass prominente Angeklagte nach Den Haag überstellt werden. Auch in ­Kiew könnte man das so sehen. Chefankläger Khan hat jedenfalls schon eine Kooperationsvereinbarung mit einem internationalen Ermittlungsteam abgeschlossen, dem auch die Ukraine beigetreten ist.

Ein Ukraine-Verfahren beim IStGH könnte ein Katalysator sein, der die internationale Verantwortlichkeit stärker bewusst macht. Allerdings kann die außergewöhnliche Aufmerksamkeit für die Verbrechen in der Ukraine auch dazu führen, dass die Verfolgung von Verbrechen in anderen Teilen der Welt – etwa in Uganda, Libyen, Mali, Georgien, Bangladesch oder Myanmar oder den Philippinen – verlangsamt oder ganz aufgegeben wird.

Wie langsam die Mühlen des IStGH zuweilen mahlen, hat die palästinensische Autonomiebehörde erfahren. Sie musste lange kämpfen, bis der IStGH am 5. Februar 2021 seine Zuständigkeit auf Gaza und das Westjordanland einschließlich Ostjerusalems erweitert hat, um Vorfälle zu untersuchen, die in diesen Gebieten stattgefunden hatte.

Am 13. Juni 2014 hatte Israel nach der Ermordung von drei israelischen Jugendlichen eine große Verhaftungsaktion im Westjordanland gestartet. Bei der Anfang März 2021 eröffneten Untersuchung geht es vor allem um drei Komplexe: um die mutmaßlichen Verbrechen vom Sommer 2014, die von Angehörigen der israelischen Armee wie von der Hamas begangen wurden; um das gewaltsame israelische Vorgehen gegen den „Großen Marsch der Rückkehr“ zum 70. Jahrestag der Nakba, bei dem am 30. März 2018 15 ­Menschen getötet und hunderte verletzt wurden; und um die israelischen Siedlungen im Westjordanland.7 Die Ermittlungen werden sich wahrscheinlich noch ewig in die Länge ziehen, weil weder Israel noch die Hamas kooperieren.

Viele NGOs und Staaten hoffen seit Jahren auf eine Reform der UN-Charta, die das Vetorecht bei der Anrufung des IStGH aufheben würde. Doch bislang sind solche Vorstöße stets gescheitert.

Es gibt aber noch eine andere Option: die Umsetzung der universellen Zuständigkeit. Sie verpflichtet die Staaten, die bestimmte internationale Verträge ratifiziert haben – wie etwa das Übereinkommen gegen Folter von 1984 –, Verdächtige vor Gericht zu stellen, wenn sie in ihrem Gebiet auftauchen. In den 2000er Jahren machten mehrere nationale Gerichte von dieser Möglichkeit Gebrauch. So wurden in Frankreich und anderen EU-Ländern Personen festgenommen, denen die Beteiligung am Völkermord an den Tutsi in Ruanda vorgeworfen ­wurde.

Als Anwalt der Opfer des Habré-Regimes in Tschad habe ich 2000 im Senegal, wo der Diktator seit 1990 im Exil lebte, Klage eingereicht, um die senegalesische Justiz dazu zu bringen, das Prinzip universeller Zuständigkeit anzuerkennen. Jahre später kam es tatsächlich in Dakar zum Prozess. Habré wurde wegen politischen Mordes in 40 000 Fällen angeklagt und am 26. April 2017 für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Folter zu lebenslanger Haft verurteilt. Vier Jahre später starb er im Gefängnis an den Folgen einer Corona-Infektion.

Ein weiteres Beispiel für die Umsetzung dieses Prinzips ist der Haftbefehl des spanischen Richters Baltasar Garzón gegen den chilenischen Diktator Augusto Pinochet, der im Oktober 1998 bei einem Aufenthalt in London verhaftet wurde. Allerdings wollten das einige Staaten nicht hinnehmen. Is­rael und China haben durchgesetzt, dass spanische Richter Fälle von „ausländischen“ Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord nur dann untersuchen dürfen, wenn es um Personen mit spanischem Pass oder mit Wohnsitz in Spanien geht. 2009 hat Frankreich ähnliche Einschränkungen beschlossen.

Der britische Ex-Premier Gordon Brown und der Jurist Philippe Sands setzen sich für die Einrichtung eines Ukraine-Tribunals ein. Sie argumentieren, das Verbrechen der Aggression – der militärische Angriff eines Staats, ohne legitime Notwehr oder aufgrund eines UN-Mandat – sei hinreichend offenkundig, um Putin und seine Regierung vor Gericht zu bringen.8

Das Argument ist berechtigt. Allerdings würde man sich damit außerhalb des UN-Systems stellen, dieses also noch weiter schwächen. Wie so oft gerät hier ein hochmoralisches Ziel in Konflikt mit einer strikten Staatsräson, für die Moral wenig zählt.

1 Siehe Raoul Marc Jennar, „Späte Wahrheitsfindung“, LMd, Oktober 2006.

2 Senatsbericht Nr. 313 (98–99), Paris, 12. April 1999.

3 Römisches Statut, Vereinte Nationen, A/Conf. 183/9 vom 17. Juli 1998.

4 Siehe Gérard Prunier, „Es brennt in Kenia“, LMd, Oktober 2014. Das Verfahren gegen Kenyatta wurde eingestellt, weil die Richter sich nicht einig waren, ob der IStGH oder ein kenianisches Gericht zuständig ist.

5 Siehe Emmanuel Haddad, „Straflos in Damaskus“, LMd, Oktober 2017.

6 Thomas Lubanga, Bosco Ntanganda und Germain Katanga wegen Kriegsverbrechen in der DR Kongo und der malische Dschihadist Ahmad al-Faqi al-Mahdi.

7 Siehe „Report on Preliminary Examination Activities 2019“, S. 53–60, IStGH, 5. Dezember 2019.

8 „Gordon Brown und Philippe Sand­s: „Cré­ons un tribunal pénal spécial pour juger le crime d’agression commis contre l’Ukraine’“, Le Monde, 4. März 2022.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

William Bourdon ist Rechtsanwalt.

Le Monde diplomatique vom 09.06.2022, von William Bourdon