Indiens andere Sorgen
Warum Modi an der Allianz mit Russland festhält
von Samrat Choudhury
Am 13. April, einen Tag nach einem Onlinetreffen mit US-Präsident Biden, absolvierte Indiens Premierminister Narendra Modi einen weiteren digitalen Auftritt in seinem Heimatstaat Gujarat. Anlass war die Einweihung eines neuen Schulkomplexes samt Internat bei Ahmedabad, gebaut und betrieben von einem Lebensmittelkonzern, der sich nach der Hindugöttin Annapurna (Die Nahrungspendende) benannt hat.
Modi hatte diesen Auftritt in seinen Terminkalender gequetscht, weil er außer über das Internat vor allem über Weltpolitik reden wollte. „Der Krieg hat dazu geführt, dass alle sehr mit ihrer eigenen Lage beschäftigt sind“, sagte er. Die Welt habe ein neues Problem: „Die globalen Nahrungsmittelvorräte nehmen ab. Darüber habe ich gestern auch mit dem US-Präsidenten gesprochen. Mein Vorschlag war, dass uns die Welthandelsorganisation erlaubt, die bei uns lagernden Vorräte zu nutzen. Wir sind bereit, diese morgen zu versenden.“
Einen Monat später verkündete die indische Regierung eine „Änderung der Exportpolitik für Weizen“. Mit Vermerk vom 13. Mai wurde der Export von indischem Weizen schlicht untersagt. Santosh K. Sarangi, der Generaldirektor für Außenhandel, begründete den Schritt wie folgt: „Die Weltmarktpreise sind sehr plötzlich angestiegen, was mit vielen Faktoren zu tun hat; das gefährdet die Nahrungsmittelversorgung Indiens wie auch benachbarter und anderer verwundbarer Länder.“ Seine Regierung fühle sich vor allem verpflichtet, den Bedarf Indiens, aber auch anderer von den plötzlichen Weltmarktbewegungen betroffener Länder zu decken.
Im Westen hatte man gehofft, dass Indien – nach China der zweitgrößte Weizenproduzent der Welt – wenigstens teilweise die Versorgungslücken füllen könnte, die durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine, dem dritt- beziehungsweise sechstgrößten Produzenten, entstanden sind. Diese Hoffnung hat sich zerschlagen.
Seit Beginn des Ukrainekriegs bezieht Neu-Delhi eine Position, die das eigene Interesse über alle anderen Erwägungen stellt. Vor den UN hat sich Indien in allen Abstimmungen, in denen Russland wegen seiner Invasion verurteilt wurde, konsequent enthalten.
Diese unbeirrt neutrale Grundhaltung war begleitet vom Ausdruck „tiefer Besorgnis über die sich verschlimmernde Lage“ und der Forderung nach „unverzüglicher Beendigung der Gewalt und aller Feindseligkeiten“ – so Außenminister Jaishankar am 23. März vor dem Parlament. Zugleich hat Indien allerdings seine Ölimporte aus Russland seit Kriegsbeginn massiv erhöht, von etwa 3 Millionen Barrel im März auf gut 7 Millionen im April und über 24 Millionen im Mai.1
Die indische Haltung missfällt den Regierungen vieler westlicher Länder: Am 26. April erklärte die norwegische Außenministerin Anniken Huitfeldt bei einer Konferenz in Neu-Delhi: „Die russische Aggression gegen die Ukraine ist ein Beispiel für den Angriff eines autoritären Staats auf eine Demokratie. Viele würden sogar sagen, dass Russland gerade deshalb angegriffen hat, weil die Ukraine eine Demokratie ist.“ Und dann fragte sie ihren indischen Kollegen: „Wie sieht Indien als die größte Demokratie der Welt seine Rolle bei der Verteidigung freier Gesellschaften in aller Welt?“
Was den Konflikt in der Ukraine betreffe, habe man eine klare Position, antwortete Jaishankar. Man habe die sofortige Einstellung der Kämpfe gefordert, die Rückkehr zu Diplomatie angemahnt und die Notwendigkeit betont, die territoriale Integrität von Staaten zu respektieren. Doch dann verwies er auf die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber Afghanistan, wo man ein Jahr zuvor „die gesamte Zivilgesellschaft im Stich gelassen hat“. Sein Fazit lautete: „Wir alle würden gern die richtige Balance zwischen unseren Überzeugungen, unseren Interessen und unseren Erfahrungen finden, und genau das versuchen wir alle zu tun.“2
Tradition der Blockfreiheit
Damit war die indische Position im Fall Ukraine schlüssig beschrieben. Bei den genannten Erfahrungen spielt natürlich auch eine Rolle, dass die Geschichte der Republik Indien nicht – wie die einiger westeuropäischer Staaten – die Geschichte einer Kolonialmacht ist, sondern die eines kolonisierten Landes, das als unabhängiger Staat erst 1947 aus der Asche des Zweiten Weltkriegs erstanden ist.
1961 gehörte Indien unter Premierminister Jawaharlal Nehru zu den Gründungsmitgliedern der Bewegung der Blockfreien Staaten. Und die indische Außenpolitik hat stets am Prinzip der Blockfreiheit festgehalten. Allerdings vollzog sie noch während des Kalten Kriegs einen Schwenk: Dass die USA ein Bündnis mit Pakistan eingingen, trieb Indien in die Arme der Sowjetunion.
Ein entscheidender Moment dieser Entwicklung ist im kollektiven Gedächtnis Indiens bis heute präsent: 1971 begann die pakistanische Militärdiktatur unter General Yahya Khan einen Bürgerkrieg im heutigen Bangladesch (damals Ostpakistan), der zu einem Völkermord mit schätzungsweise einer bis drei Millionen Toten führte.
Als Millionen Flüchtlinge über die Grenze kamen, griff Neu-Delhi direkt in den Krieg ein. Im Dezember 1971 eroberten indische Truppen die ostbengalische Hauptstadt Dhaka. Die US-Regierung Nixon/Kissinger unterstützte trotz des Genozids weiterhin den pakistanischen Diktator und schickte sogar den Flugzeugträger „USS Enterprise“ in den Golf von Bengalen.3 Die Sowjetunion unterstützte damals Indien, auch durch ein Veto im UN-Sicherheitsrat.
Als sich die Sowjetunion 1991 auflöste und eine unipolare Weltordnung entstand, musste Indien außenpolitisch umdenken. Die jahrzehntelange stabile Allianz mit Moskau hatte jedoch dauerhafte Verbindungen geschaffen, vor allem im militärischen Bereich: Praktisch alle Panzer, Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe, U-Boote, ja selbst die Scharfschützengewehre der indischen Armee stammten aus der Sowjetunion. Auch nach deren Untergang blieben alle drei indischen Waffengattungen auf das alte sowjetische Kriegsgerät angewiesen – und damit auch auf Ersatzteile, Munition und Wartungsleistungen.
Obwohl sich Indien seit den 1990er Jahren bemühte, seine Rüstungskäufe zu diversifizieren, ist es nach wie vor der weltweit größte Abnehmer russischer Waffensysteme – noch vor China.4 Außerdem gründeten die beiden Länder 1998 das Joint Venture BrahMos Aerospace. Das Unternehmen entwickelte einen Überschallmarschflugkörper, der aus der Luft, von der See und von Land aus abgefeuert werden kann.
Das indische Arsenal besteht heute zu rund 75 Prozent aus Militärgerät sowjetischer/russischer Provenienz. Zu den neuesten Erwerbungen gehört das Raketenabwehrsystem S-400, das gegen Flugzeuge, Raketen und Drohnen eingesetzt werden kann. Es wurde Anfang 2022 im Pandschab an der Grenze zu Pakistan stationiert.
Kompliziert wird die indische Position allerdings dadurch, dass man militärisch auch von der Ukraine abhängig ist, die sowjetische Rüstungsbetriebe geerbt hat. So stammt etwa das wichtigste Transportflugzeug der indischen Streitkräfte, die AN-32, aus den Antonow-Fabriken in der Region Kiew. Die militärischen Beziehungen zwischen beiden Ländern bestehen weiter; die indische Antonow-Flotte wurde noch bis zum Beginn der russischen Invasion modernisiert.
Diese verbesserte AN-32-Version hat sich in jüngster Zeit bei der Verlegung indischer Truppen in die Himalaja-Region bewährt. Dort hat Indien eine 3488 Kilometer lange Grenze mit China, wobei ein Territorium von 127 000 Quadratkilometern umstritten ist. Der letzte indisch-chinesische Krieg liegt sechzig Jahre zurück, aber die Lage hat sich wieder zugespitzt: Im Juni 2020 gingen Grenzsoldaten beider Seiten mit Stöcken und Steinen aufeinander los, Dutzende kamen dabei um.5 Nach Berichten seriöser indischer Medien hat China seit diesen letzten Feinseligkeiten weitere 1000 Quadratkilometer im Ladakh besetzt, was die Modi-Regierung allerdings bestreitet.
Die Hauptsorge Indiens gilt China und Pakistan, die wie Indien selbst Atomwaffen besitzen. Es braucht also angemessene militärische Ressourcen, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Und es wird Jahrzehnte dauern, die Abhängigkeit von sowjetischen Waffen zu überwinden. Bis dahin ist das Land aufgrund seiner Interessenlage gezwungen, im Verhältnis zu Russland, zur Ukraine und zum Westen ein möglichst präzises Gleichgewicht zu wahren.
Größter Abnehmer russischer Waffensysteme
Anfangs spielte beim Lavieren zwischen Moskau und Kiew im Krieg vor allem die Sicherheit der eigenen Staatsangehörigen eine Rolle. Zu Beginn der russischen Invasion gab es in der Ukraine 18 000 indische Studierende. Um diese sicher außer Landes zu bringen, brauchte man diplomatischen Beistand der Ukraine wie Russlands, aber auch benachbarter Staaten wie Polen, Ungarn und Rumänien. In den Berichten indischer Medien über den Krieg in der Ukraine war die Evakuierung dieser Landsleute das beherrschende Thema.
In der indischen Bevölkerung gibt es zwar große Sympathien für die Ukraine, aber die neutrale Haltung Indiens genießt quer durch das politische Spektrum breite Unterstützung. In dem tief gespaltenen Land, in dem sich die Hindunationalisten von Modis Bharatiya Janata Party (BJP) und eine Reihe vorwiegend säkularer Konkurrenzparteien feindlich gegenüberstehen, gibt es eigentlich nur ein Konzept, bei dem sich alle einig sind: Indien sollte sich aus den Konflikten anderer Länder heraushalten und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.
Modi und seine BJP haben es sich zwar zur Aufgabe gemacht, das Erbe Nehrus zu zerstören, und der Regierungschef selbst hat die immer noch existierende Bewegung der Blockfreien links liegen lassen. Aber auch unter Modi vermeidet Indien die Bindung an ein bestimmtes Lager. Das Land gehört zu den sogenannten Brics-Staaten (zusammen mit Brasilien, Russland, China und Südafrika) wie auch zur Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), in der China und Russland dominieren.
Andererseits ist Indien auch Mitglied der rivalisierenden Quadrilateral Group (abgekürzt Quad), mit den USA, Japan und Australien. Aus Sicht Neu-Delhis ist es gerade diese „Multiausrichtung“, die die strategische Autonomie des Lands garantiert. Die in westlichen Hauptstädten geäußerte Hoffnung, Neu-Delhi könnte seine Position ändern, wird wohl enttäuscht werden. Das hat mit einem eigenartigen Widerspruch in der Einstellung vieler Inderinnen und Inder gegenüber dem Westen zu tun.
Indien ist zwar eng mit den USA und Westeuropa, zumal Großbritannien verbunden, durch die vielen Studierenden und Berufstätigen in diesen Ländern oder durch den Tourismus in beide Richtungen. Dennoch gibt es bei der indischen Linken wie der Rechten immer noch starke Ressentiments, die im Fall Großbritannien aus der kollektiven Erinnerung an die Kolonialzeit und ihre Hinterlassenschaft – einschließlich der Teilung von „British India“ – entspringen. Gegenüber den USA gehen sie auf alle möglichen Gemeinheiten der Weltmacht zurück, die in einigen Fällen auch Indien zu spüren bekommen hat.
Der außenpolitische „Realismus“, den die USA angeblich betreiben, beruft sich gern auf das von Thukydides überlieferte Axiom, wonach das „Recht“ nur bei „Gleichheit der Kräfte“ gelte, während bei ungleichen Kräften „das Mögliche der Überlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt“.6
In Indien, wo die historische Erinnerung über 2300 Jahre bis in die Zeit zurückreicht, da der erste westliche Imperialist in Gestalt Alexander des Großen bis zum Indus vordrang, wird diese Lehre sehr genau verstanden. Ebenso die Tatsache, dass die USA die von ihnen verkündeten moralischen Tugenden nur praktizieren, wenn und wo und so lange es ihnen dient. Deshalb ist es eine unrealistische Erwartung, Indien könnte seine historischen Erfahrungen und seine nationalen Interessen zugunsten demokratischer Prinzipien vernachlässigen, die in diesem zunehmend autoritären Land ohnehin nur schwach verankert sind.
1 „India’s imports of cheap Russian crude surge since Ukraine invasion“, Reuters, 30. Mai 2022.
3 Siehe: „Calling the U.S.’s bluff in 1971“, The Hindu, 29. Dezember 2019.
5 Siehe Vaiju Naravane, „Konfrontation im Himalaja“, LMd, Oktober 2020.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Samrat Choudhury ist Journalist und Autor.
© LMd, Berlin