Der Maghreb entdeckt seine Macht
Marokko will seinen Anspruch auf die Westsahara durchsetzen, indem es durch Migration Druck auf Spanien ausübt. Algerien unterstützt dagegen die Unabhängigkeitsbewegung und nutzt seine Energieexporte als Druckmittel.
von Ignacio Cembrero
Algier ist verärgert. „Spanien hat Strafe verdient“, ging es lautstark durch die sozialen Medien, und die Regierung setzte am 8. Juni den spanisch-algerischen „Vertrag über Freundschaft und gute Nachbarschaft“ nach 20 Jahren mit sofortiger Wirkung außer Kraft. Am selben Tag stoppte der algerische Verband der Banken und Finanzinstitute (Abef) auch die Finanzierung von Handelsgeschäften mit Spanien.
Das ist eine keineswegs harmlose Maßnahme, da Spanien mit Exporten im Wert von 2,7 Milliarden Euro – das war der Stand ein Jahr vor Ausbruch der Coronapandemie – Algeriens fünftgrößter Warenlieferant ist. Außerdem war Spanien bislang Algeriens drittgrößter Gaskunde, mit Zahlungen von rund 2,3 Milliarden Euro pro Jahr. Zumindest das bilaterale Öl- und Gasgeschäft ist bisher noch nicht von den restriktiven Maßnahmen betroffen.
Hintergrund der gestörten Beziehungen ist der Konflikt um die Westsahara. Das bis 1976 von Spanien besetzte Gebiet wird von Marokko beansprucht, das auch einen großen Teil des Territoriums kontrolliert. Algerien tritt hingegen – wie von den Vereinten Nationen vorgesehen – für die Selbstbestimmung der sahrauischen Bevölkerung ein und unterstützt den Kampf der Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario. Marokko aber lehnt die Unabhängigkeit strikt ab. Stattdessen hat das Königreich einen Autonomiestatus für die Westsahara vorgeschlagen, bei dem es weiterhin die Souveränität über das Territorium behielte.
Spanien als ehemalige Kolonialmacht hat bislang eine scheinbar ausgewogene Position eingenommen und sogar eher „die Einhaltung von UN-Entscheidungen“ angemahnt. Gleichzeitig unterstützte die Madrider Regierung aber auch diskret die Bemühungen der marokkanischen Diplomatie in der Europäischen Union, was König Mohammed VI. freilich nicht genügte.
Umstrittener Status der Westsahara
Am 18. März traf Madrid dann eine überraschende Entscheidung: Die spanische Regierung schloss sich der marokkanischen Position an und unterstützte den Autonomieplan für die Westsahara. Der Zorn Algiers ließ nicht lange auf sich warten.
Um die Hintergründe dieser regionalen Krise zu verstehen, muss man auf die letzten Tage der Amtszeit von US-Präsident Trump zurückgehen. Am 10. Dezember 2020 fädelten die USA einen Deal ein: Sie würden die Souveränität Marokkos über die Westsahara anerkennen, wenn sich Marokko im Gegenzug verpflichtete, seine Beziehungen zu Israel zu normalisieren. Bis dahin hatte keine westliche Macht einen Schritt in die Richtung einer solchen Anerkennung getan. Die Regierung in Rabat fühlte sich mit dieser Rückendeckung in ihrer Haltung bestärkt.
Am 15. Januar 2021 rief der marokkanische Außenminister Nasser Bourita die europäischen Länder dazu auf, ihre „Komfortzone“ zu verlassen und dem Beispiel der USA zu folgen. Frankreich äußerte sich zwar positiv über den von Marokko vorgeschlagenen Autonomieplan zur Lösung des Westsahara-Konflikts, ging jedoch nie so weit, die marokkanische Souveränität über das Gebiet anzuerkennen.
Nach der Schützenhilfe durch Trump war die marokkanische Regierung überzeugt, dass sich auch andere europäische und auch lateinamerikanische Staaten anschließen würden, wenn Spanien auf ihre Linie einschwenken würde. Allerdings stand es bis vor Kurzem mit den marokkanisch-spanischen Beziehungen nicht zum Besten.
Im Dezember 2020, als Trump seine Westsahara-Entscheidung bekannt gab, sagte Marokko unter einem fadenscheinigen Vorwand den spanisch-marokkanischen Gipfel ab, der eine Woche später hätte stattfinden sollen. Für weiteren Zündstoff sorgte am 18. April 2021 die Aufnahme des schwer an Covid erkrankten Chefs der Polisario und Präsidenten der Demokratischen Arabischen Republik Sahara,1 Brahim Ghali, in einem Krankenhaus im nordspanischen Logroño. Die spanische Regierung hatte „aus rein humanitären Gründen“ der Anfrage aus Algier zugestimmt. Madrid versuchte zunächst, den Aufenthalt Ghalis geheim zu halten, wohl um Rabat nicht zu brüskieren, wo der Polisario-Chef als Staatsfeind gilt.
Der marokkanische Geheimdienst hatte jedoch von Ghalis Ankunft in Spanien Wind bekommen. Dabei könnte hilfreich gewesen sein, dass er mit Hilfe der israelischen Pegasus-Software tausende algerische Handys angezapft hatte, wie die Website Forbidden Stories2 im vergangenen Jahr enthüllte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass das Telefon der spanischen Außenministerin Arancha González ebenfalls mit der Spyware infiziert war, wie die spanische Regierung später kleinlaut zugab. Jedenfalls wurde die brisante Nachricht von Ghalis Klinikaufenthalt zuerst auf der bis dahin unbekannten Website El Noticiario veröffentlicht und dann sofort von allen palastnahen marokkanischen Zeitungen aufgegriffen.
Daraufhin bestellte Rabat empört den spanischen Botschafter Ricardo Díez Hochleitner ein. Es folgte eine Erklärung des marokkanischen Außenministeriums, in der von einem „Akt, der dem Geist der Partnerschaft und der guten Nachbarschaft widerspricht“, die Rede war. Die Krise eskalierte. Schließlich wurde im Mai 2021 die marokkanische Botschafterin in Spanien, Karima Benyaich, für Konsultationen zurückgerufen.
Die nächste Stufe war der Einsatz irregulärer Migration als Druckmittel. In weniger als 48 Stunden kamen am 17. und 18. Mai 2021 mehr als 10 000 Einwanderer in Ceuta an, ein Fünftel davon Minderjährige. Die meisten erreichten die spanische Exklave schwimmend vom marokkanischen Fnideq aus. Außenminister Bourita erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur EFE, die marokkanische Polizei sei „nach den Ramadan-Feiern zu müde“ gewesen. Zwei Drittel der Migranten kehrten nach wenigen Tagen nach Marokko zurück. Die Machtdemonstration hatte ihr Ziel erreicht.
Auch auf den Kanarischen Inseln gab es einen steten Zustrom von Migranten. 2021 wurden dort 22 351 „irreguläre Einreisen“ gezählt (siehe Karte). Als die Verhandlungen zwischen Rabat und Madrid zur Beendigung der Krise ihrem Ende entgegengingen, stiegen die Ankünfte im Januar und Februar 2022 wieder – nach Angaben des spanischen Innenministeriums um 135 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die 5496 harragas (illegale Einwanderer aus dem Maghreb), die im Januar und Februar auf den Kanaren landeten, kamen fast alle aus Südmarokko und dem marokkanisch kontrollierten Teil der Westsahara.
Anfang März versuchten 2500 Menschen aus Subsahara-Afrika in einem gemeinsamen Anlauf den meterhohen Zaun zu überwinden, der die spanische Exklave Melilla in Nordafrika umgibt. Rund 900 von ihnen gelang dies. Das Ganze wiederholte sich zuletzt am 25. Juni, als rund 2000 Menschen aus Südsudan den Grenzzaun stürmten; etwa 400 kamen durch, doch diesmal kamen laut Menschenrechtsorganisationen 37 ums Leben. Videoaufnahmen legen nahe, dass sie von marokkanischen Grenzschützern totgeprügelt wurden. Erst auf internationalen Druck hin hat die spanische Generalstaatsanwältin Dolores Delgado drei Tage später – kurz nach Beginn des Nato-Gipfels in Madrid – wegen der „Schwere der Ereignisse, die die Menschenrechte und die Grundrechte von Personen betreffen könnten“, Ermittlungen eingeleitet.
Mit einer dritten Vergeltungsmaßnahme gegen Spanien stoppte Marokko 2021 den Passagierverkehr über die Straße von Gibraltar und schloss die Landgrenze von Ceuta und Melilla. Als Marokko den wegen der Coronapandemie 2020 unterbrochenen Passagierschiffsverkehr nach Frankreich und Italien wieder aufnahm, blieb Spanien außen vor.
Dadurch entgingen den spanischen Häfen und Tankstellen saftige Einnahmen, aber die Hauptleidtragenden waren die in Europa lebenden Marokkaner:innen, die bis 2019 vor allem über die andalusischen Häfen zum Sommerurlaub in ihre Heimat gereist waren. Rund 3,3 Millionen von ihnen mit 760 000 Autos nutzten normalerweise die Fähren über die Straße von Gibraltar; die fuhren allerdings erst im April 2022 wieder. Am 17. Mai wurden die Landgrenzen zwischen den spanischen Exklaven und Marokko wieder geöffnet.
Die spanischen Behörden bemühten sich während dieser Krise, die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. Seit Sommer 2021 umgarnte die spanische Regierung Marokko mit allen möglichen versöhnlichen Gesten. So entschloss sich Ministerpräsident Sánchez bei der Regierungsumbildung im Juli 2021, seine Außenministerin, die dafür gesorgt hatte, dass der Polisario-Chef Ghali in einem spanischen Krankenhaus aufgenommen wurde, nicht wieder ins Kabinett zu berufen. Arancha González war für die Marokkaner schlichtweg ein rotes Tuch. In der Causa Ghali musste sie sich im September 2021 sogar vor einem Gericht in Saragossa verantworten, wurde jedoch im Mai 2022 von dem Vorwurf freigesprochen, sie habe dem Chef der Polisario die illegale Einreise nach Spanien ermöglicht.
Spanien nutzte auch die Gelegenheit, als sich die Spannungen zwischen Algerien und Marokko verschärften,3 in Rabat wieder gut Wetter zu machen. Als Algier am 31. Oktober 2021 die Maghreb-Europa-Pipeline (MEG) schloss und damit Marokko das Erdgas vorenthielt, das es für den Betrieb zweier Stromkraftwerke braucht, war die spanische Regierung sofort bereit, den Verlust auszugleichen. Es wurde vereinbart, dass von Marokko eingekauftes Flüssiggas in Spanien regasifiziert und über die MEG nach Marokko transportiert werden sollte.
Auch König Felipe VI. wurde mobilisiert, um die Krise zu beenden. Beim feierlichen Empfang des diplomatischen Korps im Januar forderte der spanische Monarch Marokko dazu auf, „gemeinsam voranzuschreiten, um eine neue bilaterale Beziehung zu aufzubauen“. Sein Appell stieß in Rabat allerdings auf taube Ohren. Die ausgestreckte Hand genügte den Marokkanern nicht. Madrid sollte seine neutrale Haltung in der Westsahara-Frage aufgeben und den Autonomieplan unterstützen.
Tatsächlich war Sánchez schließlich bereit, den hohen Preis für eine Versöhnung zu zahlen, den Marokko forderte. „Spanien betrachtet den marokkanischen Autonomievorschlag von 2007 als die ernsthafteste, glaubwürdigste und realistischste Grundlage für die Lösung dieses Konflikts“, schrieb er König Mohammed VI. am 14. März in einem Brief, den der Palast am 18. März in einem Kommuniqué auszugsweise zitierte. So erfuhren die meisten Mitglieder der Regierung und die Bürger:innen Spaniens ausgerechnet über eine Verlautbarung des marokkanischen Königshauses vom wichtigen Sinneswandel in der Westsahara-Frage. Dieser diplomatische Erdrutsch wurde von den rechten Oppositionsparteien ebenso schlecht aufgenommen wie von Podemos, Sánchez’ Juniorpartner in der Regierungskoalition.
Als Sánchez am 7. April zu seinem zweiten Staatsbesuch nach Rabat gereist war, verabschiedete das Abgeordnetenhaus in Madrid während seiner Abwesenheit eine Resolution, die sich an der bisherigen Position Spaniens zur Westsahara-Frage orientierte – eine Ohrfeige für den Regierungschef. Nur die Sozialisten, Sánchez eigene Partei, stimmten dagegen, während sich die extreme Rechte enthielt.
Mit seiner starken Unterstützung für den marokkanischen Autonomieplan wollte der spanische Regierungschef vor allem die seit 15 Monaten andauernde Krise zwischen den beiden Ländern beenden. Aber es ging auch darum, Zugeständnisse von Rabat zu erlangen. Nach einem Iftar (Essen zum abendlichen Fastenbrechen während des Ramadan) mit König Mohammed VI. veröffentlichten die beiden eine gemeinsame Erklärung, in der sie die Einrichtung von Arbeitsgruppen zum See- und Luftraum ankündigten.
Des Weiteren deuteten sie an, dass die Zollstelle in Melilla, die Marokko 2018 einseitig und ohne Spanien vorher davon in Kenntnis zu setzen, geschlossen hatte, wieder eröffnet und eine weitere in Ceuta eingerichtet werden soll. Was allerdings nicht heißt, dass Rabat die spanische Souveränität über die beiden Städte anerkennt.
Danach ging die Zahl der ankommenden Geflüchteten vor allem auf den Kanarischen Inseln stark zurück. Im April sank ihre Zahl auf durchschnittlich 25 pro Tag, im Januar und Februar waren es noch 93 gewesen.
Spaniens Ministerpräsident gelang es, die Krise mit Marokko zu beenden. Dafür handelte er sich eine mit Algerien ein. Bereits einen Tag nachdem Rabat Sánchez’ Brief veröffentlicht hatte, rief Algier seinen Botschafter aus Madrid zurück. Die algerische Regierung war umso aufgebrachter, als sie die Nachricht vom „spanischen Verrat“ – so die Formulierung in den offiziellen Medien – aus der Presse erfahren hatte. Einen Monat später meldete sich der algerische Präsident Abdelmadjid Tebboune erneut zu Wort und bezeichnete Spaniens Kehrtwende als „ethisch und historisch untragbar“.
Während Rabat seine Vergeltungsmaßnahmen gegen Spanien nach und nach aufgab, übernahm Algier gewissermaßen den Staffelstab. Zunächst setzte es die Rückführung irregulärer Migranten aus, die an den Küsten von Murcia und Almeria angekommen waren. Am 1. April verkündete dann der Chef des staatlichen Energieunternehmens Sonatrach, Toufiq Hakkar, dass Spanien zukünftig einen höheren Preis für algerisches Erdgas zahlen müsse.
Ende April verlangte das algerische Energieministerium schließlich von den spanischen Behörden eine Art Zertifikat über die Herkunft des Gases, das nach Marokko geliefert werden soll, und drohte damit, Spanien den Hahn zuzudrehen, falls sich herausstellen sollte, dass es algerisches Erdgas an Marokko weiterleitet.
Spanien begann daraufhin, seine Abhängigkeit von algerischen Energielieferungen zu verringern. Inzwischen ist Algerien zum ersten Mal nicht mehr Spaniens wichtigster Energielieferant: 2021 stammten noch 44 Prozent des in Spanien verbrauchten Erdgases aus Algerien. Zwischen Januar und März 2022 ist dieser Anteil auf 26 Prozent gesunken. Jetzt kommt das Gas aus den USA: Im ersten Quartal 2022 stiegen die spanischen Importe von US-Flüssiggas um 460 Prozent. Schiefergas aus den USA macht inzwischen 37 Prozent der spanischen Importe an fossilen Energien aus. Es wird sogar über zwei kleine Pipelines im Baskenland und in Navarra nach Frankreich weiterexportiert.
Bis Ende Juni deutete nichts darauf hin, dass die Spannungen zwischen Madrid und Algier bald nachlassen könnten. Am 20. Juni wies das algerische Tourismusministerium die Reiseveranstalter sogar an, „alle touristischen Unternehmungen und Beziehungen mit dem Königreich Spanien sofort einzustellen“. Madrid hat sich mittlerweile an die Europäische Kommission gewandt und hofft, dass Brüssel die algerische Regierung zur Vernunft bringen wird. Die Kommission könnte etwa darauf hinweisen, dass die Sanktionen gegen das 2005 zwischen Algier und der EU geschlossene Assoziierungsabkommen verstoßen.
Darüber hinaus hat Spanien die Anrufung eines internationalen Schiedsgerichts ins Spiel gebracht, falls Algier den Gashahn tatsächlich zudrehen sollte. Die algerischen Behörden scheinen jedoch fest entschlossen, den spanischen Ministerpräsidenten für seinen „Verrat“ einen hohen Preis zahlen zu lassen; auch indem sie die interne Spaltung ausnutzen, die der Konflikt in Spanien ausgelöst hat.
Unterdessen gossen zwei spanische Minister noch mehr Öl ins Feuer, indem sie die unbewiesene Behauptung aufstellten, hinter der algerischen „Aggression“ stecke der Kreml. Wladimir Putin würde seinen algerischen Partner dazu drängen, Spanien zu bestrafen – als Vergeltung für die Sanktionen infolge der russischen Invasion in der Ukraine. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die algerisch-spanische Krise bis zum Ende der aktuellen Legislaturperiode in Spanien – also bis Ende 2023 – anhalten wird. Bevor Algier eine Geste der Versöhnung nach Madrid sendet, wartet es erst einmal ab – bis zur Abwahl der sozialistischen Regierung, die nach bisherigen Umfragen wahrscheinlich ist.
4 „Madrid officialise l’insultante campagne ‚main de Moscou‘ à Alger“, 24hdz.com, 14. Juni 2022.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Ignacio Cembrero ist Journalist.