09.06.2022

Fünfzig Jahre Umweltschutz für den Globalen Norden

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Fünfzig Jahre Umweltschutz für den Globalen Norden

Der jüngste Weltklimagipfel „Stockholm+50“ war ein Jubiläum. Doch die Ergebnisse seit der ersten globalen Umweltkonferenz 1972 sind überschaubar – und gehen vor allem in eine Richtung.

von Aurelien Bernier

Minamata, 20. März 1973: ein Scheck von der Firma Chisso für die Quecksilberopfer ullstein bild-jiji press photo
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Ende 1967 wurde den Vereinten Nationen eine Anfrage Schwedens vorgelegt, das erstmals eine Weltkonferenz zu „Umweltproblemen“ veranstalten wollte. Beherrschendes Thema war damals der Kalte Krieg, nicht die Ökologie. Doch in den Industrieländern begann man sich zunehmend Gedanken zu machen über die Risiken für die öffentliche Gesundheit durch Umweltverschmutzung.

In den 1960er Jahren kamen in den Vereinigten Staaten mehrere Bücher heraus, die auf unerwartet starke Resonanz stießen: 1962 erschien Rachel Carsons „Der stumme Frühling“. Die Biologin und bekannte Wissenschaftsjournalistin rechnete darin mit der Intensivlandwirtschaft ab und erklärte, welch verheerende Folgen der Einsatz von Pestiziden für die Natur hat, insbesondere für die Vogelwelt, 1966 problematisierte Barry Commoner, ebenfalls Biologe, in seinem Erstlingswerk „Science and Survival“ die Umweltrisiken von Kernwaffen und bestimmten modernen Industrietechnologien. Am 18. März 1967 sank der Öltanker „Torrey Canyon“ bei den Scilly-Inseln vor Cornwall und verursachte eine Ölpest von gigantischem Ausmaß vor der französischen und britischen Küste.

In Japan litten die Menschen in den Fischerdörfern an der Minamata-Bucht schon länger an einer rätselhaften Krankheit, die schließlich auf eine chronische Quecksilbervergiftung zurückgeführt werden konnte. Der Chemiekonzern Chisso hatte seine Abwässer ungefiltert ins Meer entsorgt, wodurch Meeresalgen und Fische verseucht wurden. Doch erst 1968, zwei Jahre nachdem dieser Zusammenhang entdeckt worden war, wurde die Fabrik geschlossen. Seitdem werden chronische, durch Industrieabfälle verursachte Quecksilbervergiftungen als Minamata-Krankheit bezeichnet.

Es sollte noch über vier Jahre dauern, bis die erste internationale Konferenz zu „Umwelt und Entwicklung“ unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen in Planung ging. Die Organisationsleitung wurde dem kanadischen Unternehmer Maurice Strong übertragen, der im Ölgeschäft tätig gewesen war und sich zunehmend um die Umwelt sorgte. Wie andere maßgebliche Industriekapitäne fürchtete er, dass Umweltverschmutzung und Raubbau an den natürlichen Ressourcen die Wirtschaftsordnung langfristig gefährden würden.

Die für Juni 1972 in Stockholm geplante Konferenz war überschattet von geopolitischen Verwerfungen. Einige Ostblockstaaten waren an den Vorbereitungen beteiligt, zogen sich jedoch zurück, als die Vereinten Nationen beschlossen, die DDR nicht einzuladen, die erst 1973, ein Jahr später, zusammen mit der Bundesrepublik, in die UNO aufgenommen werden sollte. Nach diesem Eklat rückte das globale Nord-Süd-Gefälle ins Zentrum der Debatten. Die Entkolonialisierung lag noch nicht lange zurück und der Kalte Krieg hatte sich in den Süden verlagert. Dementsprechend angespannt waren die Beziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Viele arme Länder verurteilten den Rassismus und Imperialismus der westlichen Staaten und wandten sich gegen ein strukturell ungerechtes Wirtschaftssystem, das ihnen jede eigenständige Entwicklung versagte.

Die Sorge des Nordens um die Umwelt machte viele Länder im Süden misstrauisch. Sie fürchteten, dass neue Standards zu Müll oder Verschmutzung ihre Entwicklung behindern oder dass eine zukünftige Recyclingwirtschaft den Bedarf an Rohstoffen und somit an ihren Exporten senken könnte. Die ehemaligen Kolonialmächte, allen voran Frankreich und Großbritannien, hegten ihrerseits den Verdacht, arme Länder könnten den Umweltschutz zum Anlass nehmen, um mehr finanzielle Hilfen zu fordern.

Die Bedenken des Südens bekamen durch zwei Veröffentlichungen neue Nahrung: In seinem Buch „The Population Bomb“ („Die Bevölkerungsbombe“1 ), die im englischen Original 1968 erschien, vertrat der Schmetterlingsforscher Paul R. Ehrlich die Ansicht, dass der Planet auf eine Katastrophe zusteuere, wenn nichts gegen das globale Bevölkerungswachstum unternommen würde. Ehrlich, der an der Stanford University Biologie lehrte, nahm gezielt die armen Länder in den Blick und forderte eine strikte Geburtenkontrolle mit teilweise autoritären Methoden.

Ebenfalls im Jahr 1968 gründete der italienische Industrielle und ehemalige Widerstandskämpfer Aurelio Peccei den Club of Rome, um „die Welt zu ergründen, zu ersinnen, zu erfassen (…) unter allen Gesichtspunkten, auf allen Ebenen: natürlich, wirtschaftlich, menschlich, sozial und philosophisch“. Finanziert von Großindustriellen und Bankiers, die um die Zukunft des Kapitalismus bangten, darunter die Familie Agnelli, Eigentümer der Fiat-Gruppe, die Rockefeller-Stiftung, Volkswagen und andere, gab dieser Thinktank beim Massachusetts Institute of Technology (MIT) eine Untersuchung über die Verfügbarkeit und den Verbrauch von Ressourcen in Auftrag.

Die Studie von Dennis Meadows (Ökonom), seiner Frau Donella Meadows (Umweltwissenschaftlerin) und Jørgen Ran­ders (Physiker) erschien drei Monate vor der Stockholmer Konferenz unter dem Titel „The Limits to Growth“ („Die Grenzen des Wachstums“). Auf der Grundlage von Modellrechnungen zum ökologischen Fußabdruck wurde darin exemplifiziert, dass in einer begrenzten Welt ein unbegrenztes Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum früher oder später zu einer Erschöpfung der Ressourcen führt.

Als die erste globale Umweltkonferenz am 5. Juni 1972 in Stockholm eröffnet wurde, war bereits mancher Konflikt durch Maurice Strong im Zuge der Vorbereitungen entschärft worden. Die teilnehmenden Umweltminister, Vertreter von Umweltagenturen und Diplomaten lehnten einstimmig die Idee eines Nullwachstums ab. Die demografische Frage wurde zwar lang debattiert, aber die verabschiedeten Schlussfolgerungen dazu blieben am Ende ausgesprochen vage: „Besondere Aufmerksamkeit“ sollte „den Bevölkerungsproblemen“ gewidmet sein, „Programme zur Familienplanung“ sollten stärker unterstützt werden, ebenso wie die „Forschung zur menschlichen Fortpflanzung“.

Die Erklärung von Stockholm mit 109 Empfehlungen griff zahlreiche Argumente der südlichen Länder auf.2 Unter der Annahme, dass Armut die schlimmste aller Umweltzerstörungen ist, kam es für sie überhaupt nicht in Frage, Entwicklung und Umwelt zu entkoppeln. Um die dortigen Ressourcen zu schützen und Umweltverschmutzung zu begrenzen seien daher „zusätzliche“ Technologie- und Finanztransfers in Ergänzung zur Entwicklungshilfe erforderlich. Außerdem einigte man sich darauf, dass die Staaten zwar verpflichtet seien, Umweltschäden zu begrenzen, jedoch auch das „souveräne Recht“ hätten, ihre „eigenen Ressourcen entsprechend ihrer Umweltpolitik zu erschließen“.

Den großen Worten folgten konkret zwar nur sehr kleine Taten. Doch seitdem gehören ökologische Fragen zu den Anliegen mit internationaler Tragweite. Aus der Stockholmer Konferenz ging das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Environment Programme, Unep) hervor, und die Einrichtung von Umweltbehörden beschleunigte sich: Frankreich, die Schweiz und Kanada gründeten schon 1971 Umweltministerien, Brasilien richtete 1973 ein Sondersekretariat für Umwelt innerhalb des Innenministe­riums ein, Indien hat seit 1980 eine Umweltbehörde, das deutsche Bundesumweltministerium gab es ab 1986, bis Robert Habeck 2021 sein Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz schuf. Des Weiteren wurden nach Stockholm verschiedene Abkommen getroffen, darunter 1979 das Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung (CLRTAP), durch das der Ausstoß von Schwefeldioxid, der Ursache des sauren Regens, vermindert werden konnte.

Die ökologische Entwicklung in den 1970er Jahren war einigermaßen paradox: Umweltanliegen etablierten sich in Medien und Politik, die Länder des Nordens verschärften ihre nationalen Umweltschutzgesetze, es wurden internationale Regeln zum Umgang mit Meeresverschmutzung und grenzüberschreitender Umweltzerstörung auf den Weg gebracht. Doch gleichzeitig nahm die internationale Arbeitsteilung und die Fertigung im Ausland an Fahrt auf. Die großen Unternehmen begannen, ihre Produktion in Länder zu verlagern, in der die Sicherheitsvorschriften und Umweltauflagen lascher und die Arbeitskosten niedriger waren. Die ersten Branchen auf diesem Weg waren ausgerechnet diejenigen mit dem größten Verschmutzungs­po­ten­zial: die Automobil-, Textil-, Metall- und Chemieindustrie.

Nach dem Gipfel von Stockholm wurde die Kritik aus den Ländern des Südens deutlicher. Auf der dritten Konferenz der Blockfreien Staaten 1973 in Algier wurde eine „neue internationale Wirtschaftsordnung“ gefordert, um sich von der Dominanz der reichen Länder zu befreien. Und die Erklärung zu Umwelt und Entwicklung, die ein Jahr später auf dem Unep-Symposium von Cocoyoc in Mexiko verfasst wurde, war wesentlich ambitionierter als die Deklaration von Stockholm.3 Doch die Ölkrise, die im Herbst 1973 ihren Anfang nahm, untergrub die Allianz des Südens wieder (siehe den Artikel auf Seite 18).

Viele arme Länder kämpften mit den Folgen der steigenden Rohstoffpreise und gerieten in eine schwere Schuldenkrise, als der Chef der US-Notenbank Paul Volcker 1979 die Zinsen um 20 Prozent anhob („Volcker-Schock“). Mit Margaret Thatcher in Großbritannien ab 1979 und Ronald Reagan in den USA 1981 beschleunigte sich die Hinwendung zum Ultraliberalismus. Die Vereinten Nationen spielten fortan eine untergeordnete Rolle, und es kam zu massiven Deregulierungen in der globalen Umweltpolitik.

Der zweite Weltgipfel zu Umwelt und Entwicklung fand 1982 in Nairobi statt. Doch in der Wirtschaftskrise hatten die Staaten wenig Interesse daran, er war am Ende nur eine Unep-Konferenz, die nach einem Jahrzehnt Bilanz zog. Trotz der in Stockholm eingegangenen Verpflichtungen wurde festgestellt, dass „sich der allgemeine Zustand der natürlichen Umwelt nicht verbessert hat, sondern eine gewisse Anzahl ihrer Grundelemente sich vielmehr noch schneller verschlechtert“.4

Die in Nairobi veröffentlichten Berichte zeigen, dass die Anliegen und Sorgen der südlichen Länder weniger präsent waren; öffentliche Planung wurde kaum noch erwähnt. Vielmehr wurden „die Bemühungen der Indus­trie zur Einführung neuer Produk­tions­tech­niken“ betont, „die Ersatzstoffe verwenden und Müll aufbereiten, um schädliche Auswirkungen auf den Einzelnen und das Ökosystem zu verringern oder zu vermeiden“. Als Beispiele wurden die chemische Industrie und die Papier-, Öl- und Metallindustrie angeführt. Obwohl „wegen des Mangels an Daten nicht festzustellen ist, ob diese Verbesserungen weltweit angewandt werden“, wurde davon ausgegangen, dass „die Industrie wettbewerbsfähig und produktiv sein kann, ohne dass dadurch schädliche Verschmutzung verursacht würde“.

Während zehn Jahre zuvor noch zugestanden wurde, dass Investitionen und Finanztransfers in erheblicher Höhe unumgänglich seien, vertraten die Repräsentanten der in Nairobi versammelten Staaten nun die Ansicht, dass wirtschaftliche Zwänge das Bemühen um effizientere Maßnahmen von selbst verstärkt hätten. Man komme nicht umhin, „die Kosten für den Umweltschutz und die sich daraus ergebenden Vorteile gegeneinander abzuwägen“.

Das entsprach eins zu eins der Position der USA, die auf „Kosten-Nutzen-Analysen“ stützten, um neue Verpflichtungen abzulehnen und die Deregulierung voranzutreiben. So kam der Nairobi-Gipfel zu der Schlussfolgerung, dass das Festhalten am Prinzip Wachstum,„wahrscheinlich der einzige Weg sei, auf dem sich die Entwicklungsländer die für den Umweltschutz notwendigen Mittel beschaffen können“.

Nach dieser deprimierenden Feststellung richteten die Vereinten Na­tio­nen 1983 eine „Weltkommission für Umwelt und Entwicklung“ (WCED) ein, deren Aufgabe darin bestand, eine langfristige Strategie zu umweltschonender Entwicklung bis zum Jahr 2000 und darüber hinaus zu entwickeln. Der Vorsitz wurde der norwegischen sozialdemokratischen Umweltministerin Gro Harlem Brundtland übertragen, die wegen ihres autoritären Führungsstils gelegentlich als „Margaret Thatcher der Linken“ bezeichnet wurde.

Vier Jahre später legte diese unabhängige Sachverständigenkommis­sion ihren Bericht unter dem Titel „Our common future“ („Unsere gemeinsame Zukunft“)5 vor, der das Schlagwort von der „nachhaltigen Entwicklung“ mit Inhalten füllte und popularisierte. Der 1982 in Nairobi eingeleitete Richtungswechsel wurde dadurch bestätigt und verstärkt.

Der „Brundtland-Bericht“ trat für „eine Beschleunigung des Wirtschaftswachstums sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern“ ein, was voraussetze, dass die reichen Staaten „eine Expansionspolitik in den Bereichen Wirtschaftswachstum, Handelsbeziehungen und Investitionen verfolgen“. Die Industrie war aufgerufen, „mehr mit weniger zu produzieren“.

Die Au­to­r:in­nen zweifelten nicht daran, dass die multinationalen Konzerne eine stärkere Rolle bei der nachhaltigen Entwicklung spielen könnten. Sie schlugen sogar vor, die Umweltpolitik zur gemeinsamen Sache von Privatwirtschaft und öffentlichem Sektor zu machen: „Die Zusammenarbeit zwischen Regierungen und Industrie würde noch rascher voranschreiten, wenn beide Partner sich darauf verständigten, gemischte Beratergremien für nachhaltige Entwicklung einzurichten“, die „gemeinsam an der Ausarbeitung und Umsetzung von politischen Strategien, Gesetzen und Regelungen arbeiteten“.

Das Konzept passte perfekt zum damaligen Zeitgeist. Das Ziel einer „nachhaltigen Entwicklung“ wurde im Juni 1992 in Rio de Janeiro dann auch zum Motto des dritten Weltgipfels. Das Ereignis traf auf ein großes Medienecho und endete mit der Verabschiedung einer Grundsatzerklärung sowie eines Aktionsplans, der zunächst Action 21, später Agenda 21 hieß. Darin wurden Herausforderungen, Strategievorschläge und Umsetzungsmöglichkeiten aufgeführt.

In Kapitel 30, das sich mit der „Stärkung der Rolle von Handel und Industrie“ befasst, ist zu lesen, dass „Handel und Industrie, einschließlich der multinationalen Konzerne und der Organisationen, die sie vertreten, vollumfänglich an der Umsetzung und an der Bewertung von Aktivitäten im Rahmen des Programms teilnehmen müssen“. Bereits hätten „einzelne aufgeklärte Unternehmensleitungen“ den Weg gewiesen, es müsse aber noch mehr getan werden, insbesondere indem „die Nutzung von Marktmechanismen“ und staatliche Konsultationen mit Vertretern der Industrie gefördert werden, um eine „zweckmäßige Kombina­tion aus Wirtschaftsinstrumenten und Maßnahmen des Gesetzgebers“ zu erreichen.6

Mit einer eigenen Organisation, dem Weltwirtschaftsrat für Nachhaltige Entwicklung (WBCSD), dessen Name wie eine UN-Einrichtung klingt, stellten die mächtigen Unternehmensvorstände sicher, dass die in Rio verabredeten wirtschaftsliberalen Grundsätze eingehalten wurden, insbesondere bei der Definition einer internationalen Strategie gegen den Klimawandel. Bei den Verhandlungen zum Kioto-Protokoll im Dezember 1997 entschied sich die internationale Gemeinschaft dann auch für den Emissionshandel und gegen eine Besteuerung von Emissionen.7

Sowohl im Bereich Biodiversität als auch beim Thema Treibhausgas-Emissionen wurde das Kompensa­tions­prinzip zur Regel. Umweltbelastungen wurden damit gerechtfertigt, dass man dafür an anderer Stelle angeblich „grüne“ Maßnahmen einleite. Nach der Wende zum Konzept „Nachhaltige Entwicklung“ räumten die folgenden Weltgipfel der Industrie und Finanzbranche immer mehr Gewicht ein: Sowohl in Johannesburg 2002 als auch 2012, wieder in Rio, bekam der private Sektor eine ideale Plattform für Werbung und Debatten. Die zwischenstaatlichen Diskussionen drehten sich derweil im Kreis und gerieten in Bezug sowohl auf die zu erreichenden Umweltziele als auch auf die dafür nötigen Gelder ins Stocken.

Seit dem ersten Weltgipfel von 1972 sind bei den internationalen Verhandlungen über Umweltschutz und Entwicklung immer mehr Rückschritte zu verzeichnen: wenig ehrgeizige Verträge, die zu nichts verpflichten, keine nennenswerten Finanztransfers in arme Länder. Die Frage ist berechtigt, ob die entscheidenden Punkte nicht schon vorher feststanden.

Ein Jahr vor dem Stockholm-Gipfel von 1972 fand im Schweizer Founex ein entscheidendes Treffen statt. Maurice Strong hatte 27 Intellektuelle aus Nord und Süd eingeladen. Sie sollten im Vorfeld des ersten Gipfels die Unstimmigkeiten zwischen reichen und armen Staaten aus dem Weg räumen.

Sowohl die Konferenz der Vereinten Nationen über Handel und Entwicklung (United Nations Conference on Trade and Development, Unctad) als auch das Sekretariat des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (General Agreement on Tariffs and Trade, Gatt)8 lieferten vorbereitende Mitteilungen. In einem Gatt-Dokument mit dem Titel „Kontrolle industrieller Verschmutzung und internationaler Handel“ hieß es: „Ein mögliches Ergebnis der nationalen Reaktionen auf Umweltprobleme könnte eine beschleunigte Verlagerung derjenigen Industrien oder Verfahren mit dem größten Verschmutzungs­potenzial in Länder sein, wo das Problem der Umweltzerstörung weniger dringlich ist.“

Wenig überraschend ist auch, dass das Freihandelsforum die Ansicht vertrat, Umweltschutzmaßnahmen „dürften sich nicht negativ auf den internationalen Handel auswirken und müssten die Einhaltung der Rechte und Verpflichtungen gewährleisten, welche die Länder im Rahmen des Gatt-Abkommens eingegangen sind“.

Der Abschlussbericht der in Founex versammelten Expertenrunde folgte dieser Vorgabe exakt.9 „Die strukturellen Veränderungen in Produktion und Handel, sowie die Verlagerung von Produktionsstätten infolge von Umweltbedenken stellen neue Chancen dar, um den Bedürfnissen der Entwicklungsländer zu entsprechen“, heißt es dort, und noch expliziter: „In bestimmten Fällen haben die Entwicklungsländer die Möglichkeit, mehr ausländische Investitionen zu erhalten und neue Indus­trien anzusiedeln.“ Der Bericht erkannte den Rahmen des Gatt-Abkommens an, das „schon im Vorfeld genutzt werden muss, um Probleme zu lösen“, die zu Konflikten zwischen Handel und Umwelt führen könnten.

Auf keinen Fall dürfe der Freihandel unter den Produktionsbedingungen leiden: „Die größte Gefahr sowohl für Industrie- als auch Entwicklungsländer liegt darin, dass Umweltschutzanliegen als Argument für mehr Protektionismus missbraucht werden. Wenn das Thema die Produktionsbedingungen sind und nicht nur die Umweltverträglichkeit eines Erzeugnisses, so müssen in der ganzen Welt die Alarmglocken schrillen, denn dies könnte die schlimmste Form von Protektionismus einläuten.“ Im Grunde ging es nur darum, wie die Verlagerung in Umwelt­verschmutzungs­paradiese zu fördern sei.

Damit auch die südlichen Länder diesen Konsens unterstützten, wurde der Founex-Bericht zwischen August und Oktober 1971 in Afrika, Lateinamerika und Nahost vorgestellt und verteidigt. Mit Erfolg: Die am Gipfel von Stockholm vorgelegte Empfehlung 103 forderte, dass „sich alle an der Konferenz teilnehmenden Staaten bereit erklären, ihre Sorge um den Umweltschutz nicht zum Vorwand zu nehmen, um andere Länder mit ihrer Handelspolitik zu diskriminieren oder ihnen den Zugang zu ihren Märkten zu erschweren“. Darüber gab es keine Diskussion.

Ein halbes Jahrhundert später steht die Umweltpolitik immer noch im Schatten des Freihandels. Beschränkungen der Handelsströme bleiben die Ausnahme oder werden zeitlich befristet, außer bei eindeutig gesundheitsschädlichen Produkten. Für die Verbraucher in den reichen Ländern ist die industrielle Umweltverschmutzung immer weniger sichtbar, da sie zum Teil in Billiglohnländer mit laxen Vorschriften ausgelagert wird.10 Aber weltweit steigt das Ausmaß der Verschmutzung weiter an.

Die vielen Berichte des Weltklimarats (IPCC) und Publikationen über den bevorstehenden Kollaps sind an die Stelle des Club-of-Rome-Berichts von 1972 getreten und spielen ihre Rolle als Warnsignale an die Entscheidungsträger. Statt der Sorge um die Überbevölkerung steht heute die Angst vor der Klimakatastrophe im Fokus, geblieben ist, dass man immer noch Schwellenländern wie China und In­dien die Schuld daran gibt. Die Verhandlungen auf den offiziellen Weltgipfeln sind nach wie vor von dem Wunsch beherrscht, die bestehende Wirtschafts- und Handelsordnung zu bewahren. Dabei ist sie der Ursprung all dieser Krisen.

1 Paul R. Ehrlich, „Die Bevölkerungsbombe“, München (Carl Hanser) 1971.

2 „Erklärung der Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt des Menschen“ – Stockholm, 5.bis 16. Juni 1972“, Vereinte Nationen, New York 1973.

3 Siehe „Der Süden zuerst. Die vergessene Weltkonferenz von 1974“, LMd, Dezember 2011.

4 Nairobi Declaration On The State Of Worldwide Environment, 1972–1982, Unep, Nairobi 1982.

5 „Our Common Future“, Vereinte Nationen, 1987.

6 Siehe „Report of the United Nations Conference on Environment and Development“, Rio de Janeiro, 3. bis 14. Juni 1992 und 12. August 1992.

7 Siehe „Monopoly mit dem Weltklima“, LMd, Dezember 2007.

8 Aus Gatt ging 1994 die World Trade Organisation (WTO) hervor.

9 „Development and environment: report and working papers of a panel of experts convened by the Secretary-General of the United Nations Conference on the Human Environment“, Founex, 4. bis 12. Juni 1971.

10 Vgl. Aude Vidal, „Unser Müll in Java“, LMd, Mai 2021.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Aurélien Bernier ist unter anderem Autor von „Comment la mon­dia­li­sation a tué l’écologie“, Paris (Mille et une nuits) 2012.

Le Monde diplomatique vom 09.06.2022, von Aurelien Bernier