09.06.2022

Zwei Länder, eine Partei

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Zwei Länder, eine Partei

Sinn Féin ist stärkste Kraft in der Republik Irland – und erstmals auch in Nordirland

von Daniel Finn

Die Sinn-Féin-Vorsitzenden Michelle O’Neill (links) und Mary Lou McDonald (Mitte)  STEFAN ROUSSEAU/picture alliance /empics
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Mit den Wahlen zum nord­irischen Parlament in Belfast, der Northern Ire­land Assembly, gingen für Sinn Féin („Wir selbst“) zwei bemerkenswerte Jahre zu Ende. Die irisch-nationalistische Partei wurde bereits im Februar 2020 stärkste Kraft in der Republik Irland und überholte damit erstmals die beiden Mitte-rechts-Parteien Fine Gael („Familie der Iren“) und Fianna Fáil („Soldaten des Schicksals“). Die beiden Parteien konnten allerdings im Juni 2020 mit Hilfe der Grünen noch einmal eine Regierung bilden.

Seit dem 5. Mai ist Sinn Féin auch im Belfaster Parlament die stärkste Partei und hat der Democratic Unionist Party (DUP) den Rang abgelaufen. Zum ersten Mal in der hundertjährigen Geschichte des nordirischen Staatswesens überholte damit eine nationalistische Partei die bislang dominierenden Unionisten, die auf die Zugehörigkeit der Provinz Nordirland zu Großbritannien bestehen.

Sinn Féin hat die politische Landschaft Irlands auf eine Weise verändert, wie es noch Ende 2019 kaum vorstellbar war. Das gelang unter der Führung von zwei Frauen, die der Partei erst nach dem Beginn des Friedensprozesses in den 1990er Jahren beigetreten sind: Mary Lou McDonald in der Republik Irland, die seit Februar 2018 auch Parteivorsitzende ist, und Michelle O’Neill in Nordirland, die seit 2019 die Sinn-Féin-Fraktion im Belfaster Parlament anführt.

Um nachzuvollziehen, wie Sinn ­Féin so weit gekommen ist, muss man sich einen kritischen Moment der jüngsten Parteigeschichte in Erinnerung rufen. Als 2008 die Finanzkrise ausbrach, schien der stetige Aufstieg der Partei, der 1994 mit dem von der IRA (dem bewaffneten Arm der Sinn ­Féin) ausgerufenen Waffenstillstand begann, in beiden Teilen Irlands zu einem jähen Ende gekommen zu sein.

In der Republik hatte sich Sinn ­Féin bei den Wahlen von 2007 erhebliche Gewinne ausgerechnet, die sie zum unentbehrlichen Koalitionspartner der regierenden Fianna Fáil gemacht hätte. Aber dann verlor die Partei sogar einen ihrer fünf Sitze. In Nordirland schien es für die Partei in demselben Jahr auf den ersten Blick besser zu laufen. Im Oktober 2006 hatte die Parteiführung unter Gerry Adams und Martin McGuiness mit Ian Paisleys DUP das St.-Andrews-Abkommen1 ausgehandelt, das den Weg für Parlamentswahlen frei machte. Bei den Wahlen im März 2007 konnte die Sinn Féin ihre Position als beherrschende Kraft im nationalistischen Lager konsolidieren und ihren Hauptrivalen, die SDLP (Social Democratic and Labour Party), abhängen. In der Folge bildete sie eine Koalition mit der DUP, die im Gegensatz zu früheren Versuchen fast zehn Jahre lang Bestand haben sollte.

Allerdings war Sinn Féin damit ihrem Hauptziel – einem vereinigten Irland – keinen Schritt näher gekommen. Adams und McGuiness hatten bereits mit ihrer Unterschrift unter das Karfreitagsabkommen zu Ostern 1998 zugestanden, dass Nordirland so lange ein Teil des Vereinigten Königreichs bleibt, bis die nordirische Bevölkerung in einem Referendum mehrheitlich für die irische Einheit stimmt. Doch für einen solchen Umschwung der öffentlichen Meinung gab es neun Jahre nach dem Karfreitagsabkommen noch keinerlei Anzeichen.

Im Gegenteil: Während Sinn Féin von der Regierungsbildung in Dublin ausgeschlossen blieb, bildete sie in Belfast eine Koalition mit ihrem ewigen Feind, den Unionisten. Eine Verfassungsänderung in Richtung Vereinigung lag 2007 in weiter Ferne. Eine damals publizierte Studie konstatierte innerhalb der republikanischen Bewegung sogar eine regelrechte „Endzeitstimmung“.3

15 Jahre später hat sich die Lage auf verblüffende Weise gewandelt. In der Republik konnte Sinn Feín ihren Stim­men­anteil erheblich verbessern: Nach 10 Prozent bei den Wahlen von 2011 und 14 Prozent 2016 kam sie 2020 auf 24,5 Prozent. Seitdem hat Sinn ­Féin weiter zugelegt und dürfte laut Prognosen die nächste Regierung in Dublin bilden. Ende Mai 2022 lag die Partei in einer Umfrage mit 35 Prozent Zustimmung um 14 Prozentpunkte vor ihrer stärksten Konkurrentin, der Fine Gael.

Gleichzeitig scheint ein mehrheitliches Votum für ein vereintes Irland, käme es zu einem Referendum, nicht mehr ausgeschlossen. Das liegt allerdings in erster Linie an der Politik der englischen Konservativen und der nordirischen DUP. Deren Taktieren vor und nach dem Brexit-Referendum von 2016 – bei dem die nordirischen Wäh­le­r:in­nen mit 56 zu 44 Prozent für den Verbleib in der EU stimmten – hat die unionistische Wählerschaft gespalten und neue Handelshindernisse in der Irischen See geschaffen.3 Dafür büßte die DUP mit einem schmachvollen Stimmenverlust; sie fiel hinter Sinn ­Féin zurück.

Der lange Schatten der IRA

In beiden Teilen Irlands gehen die tieferen Ursachen für die dramatischen politischen Entwicklungen auf den Finanzcrash von 2008 und die darauffolgende Austeritätspolitik zurück. Besonders deutlich zeigt sich dieser Zusammenhang im Süden, wo die Mitte-rechts-Parteien wegen des ökonomischen Einbruchs und der bis heute spürbaren sozialen Folgen jeden Kredit verspielt haben. In Nordirland machte sich die Wirkung der globalen Krise in Form der Brexit-Kampagne geltend, weil damit die Instabilität vom Zentrum des Vereinigten Königreichs in London auf die Peripherie ausgedehnt wurde.

Erst diese Veränderung der politischen Landschaft eröffneten Sinn Féin neue Chancen, die sie zu nutzen wusste. In den kommenden Jahren wird sich zeigen, ob die Partei den politischen Wandel bewirken kann, den sie ihrem Wähleranhang versprochen hat. Das gilt auch für ihr erklärtes Hauptziel, die Teilung Irlands zu überwinden.

Dass Sinn Féin die irische Einheit anstrebt, ist nicht weiter verwunderlich. Das tut auch die SDLP, die in Nord­irland bis zur freiwilligen Entwaffnung der IRA die größte nationalistische Partei gewesen war; und ebenso die traditionellen Regierungsparteien in der Republik: Fianna Fáil, Fine Gael und Labour.

Bevor sich Sinn Féin in den 1990er Jahren auf den Friedensprozess einließ, unterschied sie sich von diesen konkurrierenden Strömungen des irischen Nationalismus – im Norden wie im Süden – in zwei zentralen Punkten: Sie hielt es nicht für nötig, eine Änderung der Verfassung durch ein Mehrheitsvotum der nordirischen Bevölkerung abzusichern. Und sie bestärkte die IRA, das zu tun, was diese selbst als bewaffneten Kampf, ihre Gegner aber als Terrorismus bezeichneten.

Mit dem Karfreitagsabkommen wurden diese klaren Unterscheidungslinien verwischt. Nach ihrer Unterschrift verurteilte Sinn Féin die republikanischen Splittergruppen, die sich weiterhin zum bewaffneten Kampf bekannten. Am Ende billigte sie auch die Umwandlung der Royal Ulster Constablory (RUS), die vorwiegend aus Protestanten bestanden hatte, in einen reformierten Police Service of ­Northern Ireland (­PSNI) und forderte ihre Gefolgschaft auf, den Kampf der PSNI gegen para­mili­tä­rische Gewalt zu unterstützen.

Das Karfreitagsabkommen von 1998 schloss nicht nur die Gewaltanwendung durch Gruppen wie die IRA aus, sondern auch die traditionelle republikanische Position in Sachen Selbstbestimmung, wonach eine nationalistische Mehrheit in ganz Irland eine unionistische Mehrheit in Nordirland überstimmen könne. Im Vertragstext wird festgehalten, dass die Einheit Irlands nur „in Übereinkunft und mit Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung von Nordirland“ erreicht werden kann.

Damit hat Sinn Féin akzeptiert, dass sie, um die Teilung zu beenden, ein nordirisches Referendum gewinnen muss. Damit befindet sie sich auf demselben politischen Terrain wie ihre moderatere nationalistische Konkurrenz. Dabei ist sie jedoch gegenüber der Fianna Fáil in der Republik und der nord­iri­schen SDLP im Vorteil, weil sie als panirische Partei auftreten kann. Alles deutet darauf hin, dass eine von Sinn Féin geführte Regierung in Dublin die irische Einheit energischer anstreben wird, als es die Fianna Fáil je getan hat.

Nachdem sich Sinn Féin in Nordirland zu einer modernen Version des pan­irischen Nationalismus entwickelt und sie zu Beginn der 1980er Jahre ihre Bindungen an die IRA gekappt hatte, wurde sie in Nordirland zur zweitgrößten nationalistischen Partei und zur viertgrößten Partei überhaupt. Gerry Adams wollte als Vorsitzender (1983–2018) den neuen Wählerrückhalt im Norden mit einer stärkeren politischen Präsenz im Süden kombinieren. Bis die IRA 1994 einen Waffenstillstand erklärte, war die Partei hier aber praktisch chancenlos. 1997 gewann sie dann mit 2,5 Prozent der Wählerstimmen ihren ersten Sitz im Dáil, dem Unterhaus des Dubliner Parlaments.

Kommt das Einheitsreferendum?

Seither ist der politische Kurs von Sinn Féin darauf gerichtet, zur Stimme des irischen Nationalismus im Norden zu werden. Nachdem sie das Handicap losgeworden war, eine IRA-Strategie unterstützen zu müssen, die jenseits ihres engsten Wählerkerns extrem unpopulär war, konnte sie ihrem einzigen echten Rivalen, der SDLP, rasch das Wasser abgraben. Dank ihrer aktiven Basis und einer geschlossenen Führung konnte die Partei die Mehrheit der Nationalisten davon überzeugen, dass sie deren Interessen im Rahmen des Karfreitagsabkommens am effizientesten vertreten könne – aber zum geeigneten Zeitpunkt auch nach wie vor ein vereintes Irland anstrebe. Zwischen 2007 und 2017 kam Sinn Féin bei den nord­irischen Wahlen im Schnitt auf 26 Prozent der Stimmen, 2022 auf 29 Prozent.

Im Süden hingegen war die Sympathie für die Nationalisten im Norden kein ausreichendes Motiv, um für Sinn Féin zu stimmen. Gerry Adams hatte bereits 1983 argumentiert, die Partei müsse sich als linke Opposition gegen das Dubliner Establishment und dessen „monetaristische Thatcher-Politik“ aufstellen.4 Doch bis diese Strategie Früchte trug, dauerte es. 2007 war Sinn Féin im Süden noch immer eine Kleinpartei – weit abgeschlagen hinter Fianna Fáil und Fine Gael. Zwar konnte man im städtischen Milieu von Dublin und Cork gewisse Erfolge erzielen, doch die blieben weit hinter den Resultaten in Belfast und Derry zurück.

Das alles änderte sich schlagartig mit der Finanzkrise. Von 2007 bis 2020 konnte Sinn Féin seine Stimmenanteile in der Republik nahezu vervierfachen. In ganz Irland wird sie heute von etwa 30 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Dass eine politische Partei derart starken Rückhalt in zwei getrennten Staaten findet, ist im modernen Europa ohne Beispiel.

Für Sinn Féin wird es jetzt entscheidend darauf ankommen, ihr Profil als linke Partei zu schärfen. Bislang hat sie ihrem Hauptziel eines vereinten Irland alle sozialen und ökonomischen Themen untergeordnet. Doch zwischen diesem Ziel und dem sozialdemokratischen Programm, auf dem die Erfolge der Partei im Süden basieren, gibt es keinen Widerspruch. Im Gegenteil. In Nordirland hört man häufig das Argument, in einem Einheitsreferendum würden die Leute für den Status quo stimmen, weil sie das britische Natio­nal Health System (NHS) behalten wollen. Dieses Argument würde kaum mehr ziehen, wenn in Dublin eine von Sinn Féin geführte Regierung ein ähnlich umfassendes Gesundheitssystem aufbauen würde, um das ungerechte System von heute abzulösen.

In der Republik würden die meisten Wäh­le­r:in­nen von Sinn Féin das Ende der Teilung zwar begrüßen, aber vor allem spürbare Fortschritte etwa in der Gesundheits- und Wohnungspolitik erwarten. Hier stehen die nächsten Wahlen erst 2025 an; dass vor diesem Termin noch ein Referendum stattfindet, ist eher unwahrscheinlich.

In Nordirland lag der Stimmenanteil für die nationalistischen Parteien am 5. Mai mit etwa 40 Prozent noch immer etwas niedriger als der für die Unionisten. Zudem gibt es mehrere „blockfreie“ Parteien, die sich weder den Unionisten noch den Nationalisten zurechnen. Stärkste Kraft dieser Blockfreien ist die Alliance Party, die mit 13,5 Prozent drittstärkste Partei wurde. Sinn Féin dürfte erst dann auf ein Referendum dringen, wenn sie mit einem sicheren Erfolg rechnen kann.5

Mit ihrem Ziel, bestehende Staatsgrenzen in Westeuropa zu verändern, will Sinn Féin etwas durchsetzen, was seit dem Ende des Kalten Kriegs nirgendwo erreicht wurde – weder in Schottland oder Wales noch in Katalonien oder im Baskenland. Bevor die Partei diese Herausforderung angeht, muss sie erst ihre neu errungenen Machtpositionen stabilisieren und ausbauen. Das wiederum setzt voraus, dass sie all jene Hindernisse überwindet, die es anderen linken Parteien in Europa immer wieder verwehrt haben, ihre Ziele auch umzusetzen.

1 Das Abkommen führte zur Wiedereinsetzung der Nordirland-Versammlung, die wegen Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Karfreitagsabkommens suspendiert worden war. In dem Abkommen willigte die Sinn Féin ein, die Legitimität der lokalen Polizei und Justiz anzuerkennen, und die DUP erklärte sich bereit, die Macht mit den Nationalisten zu teilen.

2 Kevin Bean, „The New Politics of Sinn Féin“, Liverpool (University Press) 2007.

3 Siehe, „Nordirlands Unionisten und der Brexit“, LMd, Juli 2021.

4 Michael Farrell, „We have now established a sort of Republican veto“, Magill, 30. Juni 1983.

5 Die Äußerung der Parteivorsitzenden Mary Lou McDonald von Anfang Mai, wonach ein Referendum innerhalb von fünf Jahren stattfinden könne, ist daher ziemlich unverbindlich.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Daniel Finn ist Journalist und Autor von „One Man’s Terrorist: A Political History of the IRA“, London (Verso) 2019.

Le Monde diplomatique vom 09.06.2022, von Daniel Finn