Kroatiens Mann in Bosnien und Herzegowina
Dragan Čović arbeitet seit Jahren an der Abspaltung des mehrheitlich kroatischen Landesteils
von Sead Husic
Er sei ein Optimist, „immer“, sagte Dragan Čović, Vorsitzender der Kroatischen Demokratischen Union (HDZ) in Bosnien und Herzegowina im Februar in der bosnischen Fernsehsendung „Pressing“. Demonstrativ entspannt erklärte er, warum seiner Meinung nach im Oktober keine Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden können: Weil das Wahlrecht, das er gern geändert hätte, das kroatische Volk in Bosnien benachteiligen würde.
Nach dieser Auffassung dürfen nur Kroaten, die zur HDZ gehören, darüber entscheiden, wer ins Dreierpräsidium gewählt wird. Laut Verfassung müssen ein Serbe, ein Kroate und ein Bosniake an der Staatsspitze stehen. Und für Čović ist der einzig wahre Vertreter der Kroaten Dragan Čović.
„Die Kroaten stellen etwa 15 Prozent der Bevölkerung, doch die HDZ beherrscht politisch die Hälfte der Föderation. So viel zur Benachteiligung der Kroaten“, kommentiert der Politologe Ivo Komšić. Für ihn will Čović mit dem Thema Wahlrecht nur den Nationalismus anheizen und von seinen zahlreichen Korruptionsaffären ablenken.
Derzeit sitzt ein Kroate im Staatspräsidium, der Čović ein Dorn im Auge ist. Der Linksliberale Željko Komšić hat Čović bei den letzten Wahlen 2018 deutlich geschlagen. Allerdings behauptet die völkisch-nationalistische HDZ, Komšić habe nicht gewonnen, weil er die Mehrheit der kroatischen Wähler hinter sich hatte, sondern weil die muslimischen Bosniaken, die in der Föderation die übergroße Mehrheit ausmachen, überwiegend für ihn gestimmt hätten.
Komšić ist beliebt, weil er sich in seinem von ethnischen Nationalismen gespaltenen Land für einen Staat gleichberechtigter Bürger einsetzt. Im heutigen Bosnien ist es anders: Es sind die drei Kollektive, die exklusive Rechte genießen. Nur ein Bosniake, Serbe oder Kroate kann zum Staatsoberhaupt gewählt werden – eine diskriminierende Verfassungsbestimmung, die geändert werden muss, wenn das Land der EU beitreten will.
Čovic aber tönt: „Die Bosniaken haben die Kroaten überstimmt. Ein Kroate, der mit den Stimmen von Muslimen gewählt wird, kann kein legitimer Vertreter der Kroaten sein.“ Es ist das Mantra seiner Partei, das Thema, das von allem anderen ablenkt. Vor allem von seinen Affären und wahren Absichten.
Čovićs Karriere war von Beginn an von Skandalen begleitet. Bereits auf seinem ersten Posten – 1992 wurde der 36-jährige Direktor von Soko, der einstigen Staatsfirma, die Militärflugzeuge herstellte – setzte er bosniakische Gefangene als Zwangsarbeiter ein. Damals begann der serbische Angriffskrieg gegen Bosnien und Herzegowina. Es herrschte Chaos im Land. Doch Čović arrangierte sich schnell und führte den Rüstungsbetrieb ganz im Sinne der HDZ, die in Mostar das Sagen hatte.
Überlebende Zwangsarbeiter berichteten von Folterungen und unmenschlichen Bedingungen. Sie hätten Čović jeden Tag auf dem Firmengelände gesehen.1 Damals begann seine Karriere innerhalb der HDZ. Die Partei strebte die Gründung eines ethnisch homogenen Gebiets an (Herceg-Bosna), das sich später Kroatien anschließen sollte.
Der damalige HDZ-Chef Mate Boban hatte sich mit dem serbischen Ultranationalisten und Massenmörder Radovan Karadžić längst über eine Teilung Bosniens verständigt. Der Muslime würde man sich durch Vertreibung und Mord entledigen.
Nach dem Krieg wurde das politische Projekt „Herceg-Bosna“ vom Jugoslawien-Tribunal in Den Haag als kriminelle Vereinigung behandelt. Seine Protagonisten wurden verurteilt, unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Slobodan Praljak, einer der Verurteilten, trank nach dem Urteilsspruch Gift und starb noch im Gerichtssaal. Die Bilder gingen um die Welt. Herceg-Bosna verschwand. Doch in der HDZ lebte die Idee weiter, vor allem in Dragan Čović.
Der neuer Kopf der HDZ gab sich als kühler Technokrat und politisch gemäßigt. Von 1998 bis 2001 war er Vizepremier und Finanzminister der Föderation Bosnien und Herzegowinas. Er nutzte sein Ministeramt, um befreundeten Unternehmern Steuerzahlungen in Höhe von 17 Millionen Euro zu erlassen. Die Gegenleistung bestand in Luxuslimousinen, exklusiven Apartments und hunderttausenden Euro. Gleichzeitig gründete er zusammen mit Gefolgsleuten über ein kompliziertes Firmengeflecht die Hercegovačka Banka.
Der Hohe Repräsentant in Bosnien und Herzegowina, der über die Einhaltung des Daytoner Friedenvertrags von 1995 wacht und mit umfassenden Befugnissen ausgestattet ist, ließ das Finanzinstitut von internationalen Ermittlern durchleuchten. Die fanden heraus, dass über die Bank Gelder gewaschen wurden, die zahlreichen HDZ-Parteigängern zukamen, darunter Čović. Weitere Gelder dienten dazu, parallel zum bosnischen Gesamtstaat Strukturen für ein neues „Herceg-Bosna“-Projekt aufzuziehen und Wahlkämpfe zu finanzieren. Die HDZ-Führung schleuste mehr als 500 Millionen Euro durch die Bank.2
Der Fall brachte Čović vor Gericht. Obwohl der Prozess wegen Machtmissbrauchs und Korruption – in seiner Zeit als Finanzminister – noch im Gang war, wurde er 2002 als kroatischer Vertreter ins dreiköpfige Staatspräsidium gewählt. Nicht zuletzt, weil er sich öffentlich immer wieder zu den „europäischer Werten“ bekannt hatte. Übrigens erlangte er seine Position dank des Wahlrechts, das er heute radikal ändern möchte.
Freispruch wegen unauffindbarer Dokumente
Doch der Prozess setzte dem neuen HDZ-Politstar zu. Wegen zahlreicher Verwicklungen in mehrere Affären wurde er im Mai 2005 von Paddy Ashdown, dem damaligen Hohen Repräsentanten, aus dem Präsidium ausgeschlossen. Knapp ein Jahr später verurteilte ihn das Kantonsgericht in Mostar zu fünf Jahren Haft. Dennoch spielte er als Parteivorsitzender weiterhin eine Hauptrolle auf der politischen Bühne.
2008 kam es zu einem Berufungsprozess, dessen Ablauf an einen Mafiafilm erinnerte. Zwei Kronzeugen der Anklage kamen ums Leben: Gojko Mandić, ein enger Mitarbeiter Čovićs, erschoss sich; Želimir Rebac, ehemals Zolldirektor der bosnisch-kroatischen Föderation und Helfer bei der organisierten Steuerhinterziehung, stürzte sich von einer Brücke. Ein weiterer Zeuge, Zoran Nikolić, floh aus dem Land.
Auf wundersame Weise verschwanden nahezu sämtliche Beweisdokumente der Staatsanwaltschaft.3 Čović wurde freigesprochen. In einem anderen Prozess war er angeklagt, als Finanzminister in den Jahren von 1999 bis 2000 rund 4 Millionen Euro veruntreut zu haben. Die soll er verwendet haben, um Richtern, Staatsanwälten, Polizeiermittlern und Politikern Wohnungen zu kaufen. Auch von dieser Anklage wurde er 2012 freigesprochen, da wichtige Beweisunterlagen angeblich unauffindbar waren.
Seitdem wurde Čović mit weiteren Korruptionsaffären in Verbindung gebracht, die juristisch aber nicht verfolgt wurden. Dafür wurde er ersichtlich immer reicher. In Bare bei Mostar entstand ein Anwesen, das an die protzigen Villen südamerikanischer Drogenbarone erinnert. Trotz seines zwielichtigen Rufs ist er auch in Zagreb eine politische Größe, weil die in Kroatien regierende Schwesterpartei HDZ auf die Wählerstimmen der bosnischen Kroaten angewiesen ist, die im Regelfall auch den kroatischen Pass besitzen.
Als Čović 2018 die Präsidentschaftswahl gegen Komšić verlor, startete er eine Kampagne zur Wahlrechtsreform, die seiner Partei garantieren soll, dass sie allein den kroatischen Kandidaten im Dreierpräsidium bestimmen kann. Für dieses Monopol hat die HDZ den Terminus „legitime Repräsentation“ erfunden. Was die kroatischen Ultranationalisten nicht sagen: Mit einem solchen ethnisch fundierten Wahlrecht kann Bosnien und Herzegowina – laut einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – nie in die EU aufgenommen werden. Und dabei präsentiert sich Čović gern als einziger Vertreter europäischer Werte.
Dieses Image pflegt auch der weltgewandte kroatische Regierungschef Andrej Plenković. Aber auch er unterstützt seinen Parteifreund in Bosnien, obwohl er wissen müsste, dass die Forderungen Čovićs den europäischen Werten Hohn sprechen. Plenković und seine HDZ-geführte Koalition werben in der EU dafür, die Parteien in Sarajevo dazu zu drängen, den HDZ-Forderungen entgegenzukommen. Auch die Zagreber Regierung argumentiert, mit einem kroatischen Präsidiumsmitglied, das den muslimischen Bosniaken genehm ist, sei im Grunde kein echter Kroate gewählt worden. Dieses nationalistische Narrativ verbreiten Plenković und sein Außenminister Gordan Grlić Radman auch in den westlichen Hauptstädten.
Und es hat den Anschein, als würde diese die kroatische Position von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, aber auch vom Vorsitzenden des EU-Rats Charles Michel und vom EU-Sonderbeauftragten Johann Sattler Unterstützung erfahren. Bosnische Intellektuelle wie der Politologe Reuf Bajrović vermuten, dass dahinter eine Abneigung gegen die Muslime in Bosnien steckt – also die Befürchtung, die mit 51 Prozent stärkste Volksgruppe könnte, obgleich sie säkular orientiert ist, den Staat Bosnien und Herzegowina dominieren.
„Ein bürgerlicher Staat Bosnien und Herzegowina würde einen islamischen Staat zur Folge haben“, sagt Čović im Fernsehen. In den EU-Institutionen trommelt die HDZ für die Wahlrechtsreform und warnt vor dem islamischen Extremismus in Bosnien. Und diese Kampagne, die im Europäischen Parlament von der kroatischen EU-Abgeordneten Željana Zovko angeheizt wird, scheint Wirkung zu zeigen.
Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von EU-Politikern, die das Anliegen der HDZ und von Čović unterstützen. So erklärte der CDU-Abgeordnete David McAllister, der dem Auswärtigen Ausschuss des Europäischen Parlaments vorsteht, dass Plenković nur zehn, fünfzehn Minuten brauche, um einen westlichen Staatschef von der Richtigkeit der HDZ-Forderung zu überzeugen.4 In den bosnischen Medien gilt diese Position als Beleg für das Totalversagen der EU-Politik gegenüber ihrem Land.
Das gewählte Präsidiumsmitglied Željko Komšić stellt sich als bosnischer Kroate vehement gegen den Separatismus der kroatischen Nationalisten: „Es ist geradezu infam, was Herr Čović, Teile der EU-Politik und unser Nachbarland Kroatien von unserem Land verlangen.“ Die Zukunft Bosniens liege nicht in einer weiteren ethnischen Spaltung, sondern in „einer zivilbürgerlichen Gesellschaft, in der jeder und jede gewählt werden und jeder und jede wählen kann, wen er oder sie möchte, ganz gleich welcher Religion oder Kultur jemand angehört“.
Es sei beschämend, dass die Europäer das nicht verstehen, meint Komšić, der als Soldat der Armee Bosnien und Herzegowinas an der Seite von Muslimen, Kroaten und Serben in Sarajevo gegen die serbischen Belagerer gekämpft hat. Und der nie in eine Korruptionsaffäre verstrickt war.
Čović dagegen hat nach wie vor enge Kontakte zur bosnischen Glücksspielindustrie, die er vor einer Besteuerung schützt. Nicht ohne Gegenleistung, wie man vermuten darf. Der HDZ-Chef kann Gesetze nach Belieben verhindern, weil seine Kader in der Föderation mehr als die Hälfte aller Staatsposten besetzen und unter anderem den Vizepremier und die Minister für Finanzen, Justiz, Wirtschaft, Handel und Gesundheit stellen, dazu die Direktoren wichtiger staatlicher Unternehmen. Überdies verfügen die HDZ-Kroaten in allen Belangen über ein verfassungsmäßig garantiertes Vetorecht.
Das politische Leben in Bosnien ist derzeit praktisch lahmgelegt. Der HDZ-Finanzminister Vjekoslav Bevanda gibt die Gelder für die Präsidentschaftswahlen nicht frei und will das Spiel so lange weitertreiben, bis die bosniakischen Parteien einer Wahlrechtsreform im Sinne der HDZ zustimmen.
Vor wenigen Wochen trat Čović im Schlepptau von Plenković auf dem Kongress der Europäischen Volkspartei (EVP) in Rotterdam auf. Die beiden wollten erreichen, dass die EVP in einer Resolution den Begriff „Legitime Repräsentation“ aufnimmt. Der Vorschlag wurde verworfen. Doch Čović verkündete in den bosnischen Medien, er glaube immer noch an eine Lösung für die kommende Präsidentschaftswahl, sprich eine Änderung des Wahlrechts. Er ist wie immer sehr optimistisch.
3 Siehe „Priča o dvadeset godina mutnog poslovanja Lijanovića“, bljesak.info, 23. Januar 2016.
4 Siehe den Filmausschnitt in einem Tweet vom 18. Mai 2022.
Sead Husic ist freier Autor und Schriftsteller in Berlin, zuletzt erschien von ihm der Roman „Gegen die Träume“, Berlin (Divan) 2018.
© LMd, Berlin