09.06.2022

Plötzlich kein Benzin mehr

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Plötzlich kein Benzin mehr

Die Ölkrise von 1973

von Akram Belkaïd

Nürnberg, November 1973 picture alliance/ap
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Im Oktober 1973 herrschte in den Industrieländern plötzlich Stillstand. In Europa und Nordamerika bildeten sich lange Schlangen an den Tankstellen. Angesichts drohender Knappheit rationierten die Regierungen des Westens den Kraftstoff. Das hatte es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht gegeben. Zahlreiche Maßnahmen zur Energieeinsparung wurden eingeführt, autofreie Sonntage etwa oder die Umstellung auf Sommer- und Winterzeit in Europa.

Das Klischee vom Scheich, dem die Petrodollars aus den Taschen quellen, erhitzte die Gemüter. In Frankreich erlebte der Sänger Frédéric Gérard seinen größten Erfolg mit dem Chanson „Donne-moi du pétrole …“, in dem er zu vermeintlich orientalischen Klängen schmetterte: „Gib mir Öl, mein Bruder, für meine kleine Klapperkiste.“

Innerhalb weniger Monate kletterte der Rohölpreis von 2,50 auf 18 Dollar pro Barrel, was die Industrieländer in eine lang anhaltende Krise stürzte: Arbeitslosen- und Inflationsraten explodierten, die Wirtschaft erlahmte. Fassungslos stellten die Erdöl importierenden Länder fest, dass die Zeiten des spottbilligen Öls vorbei waren.

Wie jedes einschneidende Ereignis hatte der Ölpreisschock 1973 einen unmittelbaren Auslöser und strukturelle Ursachen. Eine zentrale Rolle spielte der Jom-Kippur-Krieg (6. bis 25. Oktober 1973) zwischen Israel und einer von Ägypten und Syrien angeführten Koalition arabischer Staaten. Um den Konflikt zu beeinflussen, beschlossen mehrere arabische Länder drei einschneidende Maßnahmen: Sie hoben den Rohölpreis um 70 Prozent an, drosselten die Produktion um 5 Prozent und verhängten ein Embargo gegen die Länder, die sie als „feindlich“ einstuften, weil diese Israel mit Waffenlieferungen unterstützten – allen voran die USA und die Niederlande.

Anders als viele glauben, wurden die Preisanhebung und das Embargo nicht von der Opec (Organisation der erdölexportierenden Länder) beschlossen, sondern von der Organisation der arabischen erdölexportierenden Staaten (Oapec). Dabei war diese Institution 1968 genau dafür gegründet worden, den stärker werdenden radikalen Stimmen zu widersprechen, die gegen die Multis die Bodenschätze ganz oder teilweise wieder unter die Kontrolle der arabischen Länder bringen wollten.

Die drei Oapec-Gründungsmitglieder Kuwait, Saudi-Arabien und Libyen wollten außerdem Algerien, Ägypten, Irak und Syrien beschwichtigen, die zunehmend dazu neigten, das Öl als politische Waffe einzusetzen. So sollte der Westen dazu bewegt werden, Israel unter Druck zu setzen, damit es die besetzten Gebiete, die es im Sechstagekrieg (5. bis 10. Juni 1967) erobert hatte, wieder zurückgibt.

Im Oktober 1973 hatte sich die Großwetterlage allerdings verändert. Zu den Oapec-Mitgliedern zählten inzwischen auch Länder, die der radikalen Position zuneigten. In Libyen hatte Oberst Muammar al-Gaddafi die Monarchie gestürzt und träumte von einer geeinten arabischen Welt. Algerien hatte seine Ölindustrie verstaatlicht; und in der gesamten arabischen Welt verbreitete sich immer mehr die Vorstellung, sich an Israel zu rächen.

Den nichtarabischen Opec-Mitgliedern blieb nichts anderes übrig, als die Preis- und Fördermengenbeschlüsse der Oapec zur Kenntnis zu nehmen und mitzutragen. Sie kritisierten auch nicht, dass Saudi-Arabien fest entschlossen war, die USA und im zweiten Schritt die Niederlande mit einem Embargo zu belegen. Riad deckte damals 21 Prozent der weltweiten Rohölexporte ab und konnte mit seinen Entscheidungen die Ölmärkte in London und New York beeinflussen.

Vor allem zwei Männer verkörperten den härteren Kurs. Der erste, Scheich Ahmed Saki Jamani, war von 1962 bis 1986 saudischer Ölminister. Er vertrat die Interessen des Königreichs sowohl innerhalb der Opec als auch gegenüber dem Westen. Die zweite Schlüsselfigur war König Faisal bin Abdelaziz Al Saud, dessen Vater das Königreich gegründet hatte. Er saß seit November 1964 auf dem Thron und war alles andere als ein gefährlicher Revolutionär. Innenpolitisch setzte er auf eine behutsame Öffnung, und was die Sicherheit seines Landes betraf, war ihm klar, dass diese weitgehend von den USA abhing.

Doch König Faisal musste einsehen, dass die Palästinenserfrage auch in Saudi-Arabien viele Menschen beschäftigte. Zudem missbilligten nicht wenige seinen Modernisierungskurs, selbst wenn es nur um Technik ging – wenige Jahre zuvor hatte etwa die Einführung des Fernsehens blutige Unruhen ausgelöst. Man warf der politischen Führung vor, sie betreibe die Abkehr von den strengen Vorschriften des Wah­habismus.

Für Washington kam das von Faisal verhängte Embargo überraschend. Die bereits in die Watergate-Affäre verstrickte Nixon-Administration reagierte sofort mit unverhohlenen Drohungen. Die saudischen Exporte machten damals zwar nur 4 Prozent der US-Ölimporte aus, aber auch im Weißen Haus wusste man, dass das Königreich großen Einfluss auf den Ölpreis hat.

Auch Washington drehte an der Preisschraube

Entsprechend eindeutig war die Botschaft an die Saudis: Falls nötig, würden die USA auf der Arabischen Halbinsel militärisch intervenieren, um sich die Ölquellen zu sichern und zu verhindern, dass durch eine absichtliche Verknappung die Preise in die Höhe getrieben werden. Man war auch bereit, Iran die Rolle des Gendarmen am Persischen Golf zu übertragen – zum Nachteil der Golfmonarchien und anderer arabischer Länder wie dem Irak und Ägypten.

Die Tragweite des Embargos war allerdings begrenzt. Die Spannungen zwischen den USA und Saudi-Arabien waren zwar real – so real, dass viele Saudis überzeugt waren, dass sie König Faisal, der am 25. März 1975 nach offizieller Darstellung von einem „Geisteskranken“ ermordet wurde, das Leben kosteten. Aber sie führten nicht zum Bruch, weil sich Riad nachgiebig zeigte. Die US-Militärflugzeuge, die Menschen und Material aus Vietnam evakuierten, konnten weiterhin auf den saudischen Flugplätzen tanken. Doch auch nach der Aufhebung des Embargos im März 1974 wurde das Öl nicht billiger. Der Preisschock legte den Grundstein für eine geopolitische Wirklichkeit, die bis zum Ende der 2000er Jahre bestehen sollte. Wegen der Bedeutung der arabischen Förderländer und der Möglichkeit, den Ölpreis zu beeinflussen, stieg die Opec zu einem wichtigen Akteur auf. Sie sah sich als Garant für eine reibungslose Belieferung des Markts. Was ihre Kritiker, allen voran die US-Abgeordneten im Kongress, nicht davon abhielt zu lästern, das Akronym Opec stünde für „One Pure Evil Cartel“ (Kartell des Bösen).

Nach und nach begannen die Importeure die Tatsache hinzunehmen, dass es mit dem spottbilligen Öl endgültig vorbei war. Sie verstärkten ihre Bemühungen, Energie einzusparen und die Versorgung zu diversifizieren – insbesondere durch Atomkraft. Deswegen wurde unter anderem 1974 auch die Internationale Energieagentur (IEA) gegründet.

In den folgenden Jahrzehnten war Washingtons Energiepolitik durch die Doktrin der „drei Säulen“ bestimmt (siehe den Artikel auf Seite 16), mit besonderem Augenmerk auf die Sicherheit der Ölmonarchien: So musste unbedingt verhindert werden, dass deren gigantische Ölreserven in die Hände von Amerikagegnern geraten; die Ölversorgung der US-Wirtschaft musste stets gewährleistet sein und die Interessen der multinationalen Konzerne hatten Vorrang, was auch bedeutete, dass der Ölpreis auf einem bestimmten Niveau gehalten werden musste.

Hierin liegt im Übrigen eine der strukturellen Ursachen für den Ölpreisschock von 1973 – und zwar unabhängig vom Jom-Kippur-Krieg. Damals bekam die Welt bereits die Auswirkungen zu spüren, die mit Nixons Entscheidung vom August 1971 zusammenhingen, die Goldkonvertibilität des Dollar zum Kurs von 35 Dollar pro Unze zu beenden. Da Ölgeschäfte in Dollar abgewickelt werden, hatte das System frei schwankender Wechselkurse in Kombination mit der Dollarschwäche Folgen sowohl für die Förderländer als auch für die multinationalen und insbesondere die US-Konzerne.

Zugleich erlebten die USA das angekündigte Ende ihrer autarken Ölversorgung. Schon in den 1940er Jahren hatte der Geophysiker Marion King Hubbert prognostiziert, dass 1970 die maximale Fördermenge erreicht sein würde. Bekräftigt wurde diese Prognose 1956 bei einer berühmt gewordenen Konferenz im American Petroleum Institute (API), durch die der Begriff des Fördermaximums – „Peak Oil“ – populär wurde.

Mitte der 1960er Jahre setzte sich die Einsicht durch, dass der Geophysiker recht hatte. Damit US-Unternehmen die Möglichkeit bekamen, ihre Reserven durch die Ausbeutung von Vorkommen zu vergrößern, die bis dahin wegen der niedrigen Ölpreise nicht rentabel gewesen waren, konnte Washington nicht umhin, einen Preisanstieg zu unterstützen.

Es setzte die Opec-Mitglieder diskret unter Druck, die erhebliche Anhebung des Rohölpreises mitzutragen. Das war ein heikles Manöver: Während ein höheres Preisniveau erreicht werden sollte, durften die Autofahrer in den USA aber auf keinen Fall ihrer Regierung die Schuld dafür geben. Im Gegenteil: Sie mussten davon überzeugt werden, dass für den Preisanstieg allein die Opec verantwortlich ist.

Der Ölpreisschock von 1973 kam die westlichen Volkswirtschaften teuer zu stehen und trug nicht nur zur Verlängerung des Erdölzeitalters bei, sondern läutete auch einen Prozess ein, der langfristig den Einfluss der Opec schwinden ließ. Weil der Preis für ein Barrel Rohöl im Laufe der Zeit und diverser Krisen die 20-, 30- und 50-Dollar-Marke überschritt, wurde es profitabel, die Erdölvorkommen in der Nordsee, im Golf von Mexiko und in Alaska auszubeuten.

Hinzu kommen die Ölsandvorkommen in Kanada, das venezolanische Schweröl und vor allem das berühmte Schieferöl, von dem zu Beginn des neuen Jahrtausends noch niemand oder fast niemand sprach und das die USA neuerdings zum Selbstversorger macht. Diese Entwicklung konnte Hubbert nicht vorhersehen. Andere schon: „Für die Opec ist die Technologie ein echter Feind. Sie führt zu weniger Verbrauch und größeren Fördermengen in Nicht-Opec-Ländern“, erklärte der saudische Minister Jamani im September 2000 anlässlich des vierzigjährigen Jubiläums der Organisation.1

1 Siehe „Obituary: Yamani, the Saudi oil minister who brought the West to its knees“, Reuters, 23. Februar 2021.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Le Monde diplomatique vom 09.06.2022, von Akram Belkaïd