Mit Schieferöl und LNG
Energie als zentraler Faktor der US-Außenpolitik
von Michael Klare
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat das Thema Energie die Außen- und Militärpolitik der USA maßgeblich beeinflusst, entscheidend war dabei das Gefühl der Verwundbarkeit: die Angst vor künftiger Energieknappheit, die in dem Maße wahrscheinlicher wurde, wie die inländische Ölförderung zurückging. Die USA schienen unwiderruflich immer stärker auf Importe aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens angewiesen zu sein.
Die beiden Ölkrisen der 1970er Jahre haben diese Gefahr deutlich vor Augen geführt: Zum einen die von 1973/74, als die arabischen Ölproduzenten ein Lieferembargo gegen die USA verhängten, als Reaktion auf die Unterstützung Washingtons für Israel im Oktoberkrieg 1973; zum anderen der Ölpreisschock von 1979, der durch Förderausfälle infolge der Islamischen Revolution in Iran ausgelöst wurde.
Um dieser Energieunsicherheit zu begegnen, bauten die USA eine militärische Präsenz am Persischen Golf auf und setzten ihre Streitkräfte auch mehrfach ein, um eine konstante Ölzufuhr abzusichern.1 Diese Militärpräsenz in der Golfregion besteht bis heute, obwohl die USA in Sachen Öl und Erdgas längst zum Selbstversorger geworden sind. Ihre Energiepolitik ist also nicht mehr durch ein Gefühl der Verwundbarkeit motiviert. Vielmehr wird die Tatsache, dass man mittlerweile über mehr als ausreichende Energiereserven verfügt, in Washington als strategisches Instrument gesehen, das es geopolitisch zu nutzen gilt.
Dieses Umdenken im Hinblick auf die Rolle der Energie in der US-Außenpolitik vollzog sich während der Präsidentschaft Obamas: Der Einsatz der Fracking-Technologie machte es möglich, die einheimische Ölförderung durch die Ausbeutung der gigantischen Schieferölvorkommen zu erhöhen.
Nach Daten der Energy Information Administration (EIA) des US-Energieministeriums sank die Ölproduktion in den zwei Jahrzehnten zwischen Januar 1990 und Januar 2010 von 7,5 Millionen auf 5,5 Millionen Barrel pro Tag (mbd). Dann aber setzte die Wirkung der „Schieferölrevolution“ ein und sorgte für einen steilen Anstieg der einheimischen Rohölförderung, die im Januar 2016 auf 9,2 mbd und im Januar 2020 auf 12,9 mbd anstieg.2 Angesichts dieser Entwicklung begann die politische Klasse der USA über den geopolitischen Nutzen der überschüssigen Ölförderung nachzudenken.
Dass man den Energieüberschuss zum eigenen außenpolitischen Vorteil nutzen konnte, zeigte sich erstmals in den Verhandlungen mit Teheran, in denen es darum ging, die Aktivitäten Irans zur Entwicklung einer eigenen Atombombe zu stoppen. Während frühere US-Regierungen gezögert hatten, harte Sanktionen gegen die iranische Ölindustrie zu verhängen, um keine globale Ölknappheit auszulösen, ging die Obama-Regierung 2013 davon aus, dass der Rückgang der iranischen Produktion durch eine Steigerung der einheimischen Ölförderung kompensiert werden könne.
Der damalige Nationale Sicherheitsberater Tom Donilon drückte es so aus: „Die Steigerung des Energieangebots in den USA wirkt wie ein Kissen, das unsere Verwundbarkeit bei globalen Versorgungsengpässen abfängt.“3 So könne Washington die Ziele seiner internationalen Sicherheitspolitik mit starker Hand verfolgen. Das habe sich besonders deutlich bei den Bemühungen gezeigt, andere Länder zur Teilnahme am Sanktionsprogramm gegen Iran zu bewegen, so Donilon. Dank der Steigerung der eigenen Ölproduktion habe man täglich mehr als eine Million Barrel iranischen Öls vom Markt nehmen und dennoch die Belastung für den Rest der Welt minimal halten können.
Der Glaube daran, dass der heimische Energieüberfluss Washington eine „stärkere Hand“ bei der Verfolgung strategischer Ziele verleiht, blieb bis zum Ende der Obama-Regierung ungebrochen und hat das strategische Denken in den USA auch seitdem weiter bestimmt. Und er spielt eine entscheidende Rolle bei den Bemühungen der USA, die europäischen Verbündeten dazu zu bringen, ihre Abhängigkeit von russischen Energieimporten zu beenden. Seit die damalige Europäische Gemeinschaft (EG) in den frühen 1980er Jahren begann, Gas aus der Sowjetunion zu importieren, wurde diese Abhängigkeit von US-Seite als potenzielle Bedrohung der Solidarität innerhalb des westlichen Bündnisses gesehen. Denn damit sei Moskau theoretisch in der Lage, die europäischen Regierungen in einer Krise zu erpressen.
Damals war die Kritik aus den USA allerdings nicht besonders überzeugend, da sie zur Deckung ihres Energiebedarfs selbst auf ausländische Lieferanten angewiesen waren. Erst als sie sich von dieser Abhängigkeit befreit hatten, konnten die USA bei diesem Thema gegenüber den Verbündeten echten Druck machen.
Dieselben Bohrtechnologien, die es möglich machen, große Mengen Erdöl aus Schiefergesteinsschichten zu extrahieren, haben auch die Gasproduktion im Inland erhöht. Diese stieg von 2,1 Billionen Kubikfuß (tcf) pro Monat im Januar 2005 auf 3,6 tfc im Dezember 2019.4 Anfangs musste der Großteil dieser zusätzlichen Menge in den USA selbst oder in den Nachbarstaaten abgesetzt werden, weil es noch nicht ausreichend Kapazitäten für den Transport in Form von Flüssiggas (LNG) gab. Als dann jedoch die Produktion stetig zunahm, wurde die Infrastruktur für die Verarbeitung und den Export von LNG zügig ausgebaut.
Die Trump-Administration machte den Bau neuer LNG-Anlagen zu einer ihrer obersten Prioritäten, wobei sie als Absatzmärkte vor allem die EU-Länder im Auge hatte. Obwohl Trump wenig Neigung zeigte, sich mit Moskau anzulegen, trieb er die Expansion der LNG-Kapazitäten mit der Begründung voran, Europa müsse seine Abhängigkeit von russischem Gas durch erhöhte Importe aus den USA reduzieren. Im Juli 2017 pries er sein Land in Warschau als „verlässlichen Partner“ für den Verkauf „unserer qualitativ hochwertigen und kostengünstigen Energieträger“ und erklärte, die USA würden Energie niemals als politisches Druckmittel einsetzen – und auch nicht zulassen, dass andere Mächte das tun.5
Unter Trump wurde auch die neue Doktrin der „Großmächtekonkurrenz“ (Great Power Competiton) entwickelt, deren Grundprinzipien in der National Defense Strategy (NDS) vom Februar 2018 ausformuliert wurden. Sie geht davon aus, dass sich die USA und ihre Verbündeten in einem gnadenlosen geopolitischen Konkurrenzkampf mit Russland und China befinden. Um zu verhindern, dass diese beiden Mächte ihren globalen Einfluss ausdehnen, muss der Westen jeder aggressiven Handlung Moskaus und Pekings geschlossen entgegentreten; zu diesem Zweck müssen die USA nicht nur ihre militärische Schlagkraft erhöhen, sondern auch ihre wirtschaftlichen und technologischen Potenziale einsetzen, wobei der Energie eine Schlüsselrolle zukommt.
Dieses Konzept wurde von der Biden-Regierung komplett übernommen. Auch für sie ist die globale Konkurrenz mit Russland und China das zentrale Axiom der US-amerikanischen Außen- und Militärpolitik. Zwar gilt für viele Entscheidungsträger in Washington China nach wie vor als Hauptgegner,6 doch seit Januar ist der Blick fast ausschließlich auf Russland gerichtet. Und in den Überlegungen, wie man auf die russische Aggression in der Ukraine reagieren soll, spielt der Faktor Energie eine besonders wichtige Rolle. Denn Moskau ist auf die Einnahmen aus den Öl- und Gasexporten angewiesen, um die Kriegsführung in der Ukraine zu finanzieren.
Logischerweise muss daher jeder Versuch, die militärischen Kapazitäten Russlands zu beschränken, mit Maßnahmen gegen diese Exporte beginnen. Diese lassen sich aber nur schlecht umsetzen, solange Europa so stark von fossiler Energie aus Russland abhängig ist. Das macht die Energieversorgung Europas mit Öl und Gas durch den „verlässlichen“ Lieferanten USA zu einem zentralen Aspekt in Bidens Ukraine-Strategie, der ebenso großes Gewicht hat wie die Versorgung des ukrainischen Militärs mit Waffen und Informationen.
Ganz auf dieser Linie verkündeten Präsident Biden und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen am 25. März das gemeinsame Vorhaben, die Abhängigkeit Europas von den russischen fossilen Brennstoffen zu reduzieren.7 Nach diesem Plan wird die EU den Bau neuer LNG-Terminals beschleunigen, während die USA ihre LNG-Exportkapazitäten ausweiten, sodass sie den Europäern pro Jahr bis zu 50 Milliarden Kubikmeter (bcm) liefern können. Das wäre ein Anstieg gegenüber der Liefermenge von 2021 um nahezu 150 Prozent. Darüber hinaus versprach Biden, der EU bei der Beschaffung zusätzlicher LNG-Mengen anderswo zu helfen, sodass sie bis 2027 die völlige Unabhängigkeit von russischem Gas erlangen könnte.
Allerdings wird der dieser gemeinsame Plan allein die europäische Abhängigkeit von russischem Gas noch nicht beenden. Dafür bedarf es sehr viel größerer Anstrengungen, zum Beispiel eines massiven Ausbaus der nötigen Infrastrukturen, der Beschaffung von LNG und Pipelinegas aus mehreren ausländischen Bezugsquellen wie auch verbesserter Energiesparprogramme. Doch das Ergebnis wird auf jeden Fall eine große geopolitische Verschiebung sein, durch die Europa sehr viel näher an die USA heranrückt.
Und der Plan hat noch viel weitreichendere Folgen: Er läuft auf eine grundlegende Transformation der globalen Energieversorgung hinaus, die künftig nicht mehr von den Marktkräften bestimmt, sondern entlang geopolitischer Linien aufgeteilt wird. Wobei wir davon ausgehen können, dass der Faktor Energie in der „Großmächtekonkurrenz“ eine zentrale Rolle spielen wird – mit den USA als dem maßgeblichen Player.
Die Zukunft steht also – leider – nicht im Zeichen der Kooperation, sondern der geopolitischen Rivalität. Nach der russischen Invasion und den Reaktionen in Washington und anderen westlichen Hauptstädten hat dieser Aspekt die Oberhand über alle anderen Erfordernisse gewonnen. Da die diplomatischen Kanäle zwischen Washington, Moskau und Peking weitgehend stillgelegt sind, ist die internationale Kooperation in Sachen Klimawandel (und bei anderen globalen Bedrohungen) fast unmöglich geworden.
Russland hat mit seiner Sabotage der Verhandlungen, die auf die Rückkehr zum Atomabkommen mit Iran zielen, bereits demonstriert, dass es zu Gesprächen mit dem Westen über wichtige Themen nicht mehr bereit ist. Und angesichts der wachsenden Feindseligkeit zwischen China und den USA ist damit zu rechnen, dass auch diese beiden größten CO2-Emittenten (die zusammen für 44 Prozent des globalen Ausstoßes verantwortlich sind) zu keiner Kooperation bereit sein werden.
Die internationale Zusammenarbeit auf diesem Gebiet, die ohnehin nur mühsam in Gang gekommen ist, scheint damit nun am Ende zu sein. Das bedeutet, dass alle Bemühungen, die Erderwärmung gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, zum Scheitern verurteilt sind. Falls sich die Beziehungen zwischen den Großmächten nicht deutlich verbessern, dürfte selbst das „Ersatzziel“ von 2 Grad schon bald überholt sein – mit albtraumhaften Folgen wie immer mehr Dürreperioden, Wüstenbildung, extremen Wetterphänomenen wie Wirbelstürmen und verheerenden Flächenbränden.
Und das ist nur die Spitze des schmelzenden Eisbergs. Angesichts der sich abzeichnenden globalen Katastrophe müssen wir heute feststellen: Die Herrschaftseliten dieser Welt sind entschlossen, ihre geopolitischen Rivalitäten wichtiger zu nehmen als alle anderen Aufgaben von globaler Dimension – einschließlich der Rettung unseres Planeten.
4 „U.S. Natural Gas Gross Withdrawals“, EIA.
5 „Donald Trump’s Remarks at the Three Seas Initiative Summit in Poland“, Time, 6. Juli 2017.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Michael Klare ist Professor am Hampshire College, Amherst, Massachusetts, und Autor von „All Hell Breaking Loose: The Pentagon’s Perspective on Climate Change“, New York (Metropolitan Books) 2019.