09.06.2022

Muslimbrüder im Jemenkrieg

zurück

Muslimbrüder im Jemenkrieg

Am 2. Juni wurde die im April verabredete Waffenruhe um zwei Monate verlängert. Die islamistische Al-Islah-Partei, die der Muslimbruderschaft nahesteht, könnte dadurch wieder stärker unter Druck geraten.

von Adlene Mohammedi und Khaled al-Khaled

Audio: Artikel vorlesen lassen

Wenn es um die politische Situation im Jemen geht, konzentriert sich die mediale Aufmerksamkeit meist auf die Huthis, gegen die die von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) angeführte Koalition Krieg führt.1 Auch um die separatistischen Kräfte im Süden und die mit al-Qaida verbündeten dschihadistischen Gruppierungen geht es häufig. Die Rolle der Al-Islah-Partei, der Jemenitischen Sammlungsbewegung für Reform, wird hingegen eher heruntergespielt.

Dabei ist die Partei, die oft als jemenitischer Zweig der Muslimbruderschaft bezeichnet wird, ein zen­tra­ler militärischer Akteur innerhalb des Anti-Huthi-Lagers. Allerdings sind ihre Beziehungen zu Saudi-Arabien schwierig und ihr Verhältnis zu den VAE ist angespannt. Das wurde etwa Ende Dezember 2021 deutlich, als Riad widersprüchliche Signale an seinen vermeintlichen Verbündeten sendete.

Einerseits empfing der saudische Botschafter im Jemen, Mohammed al-Jaber, eine Delegation der al-Islah mit dem erklärten Ziel, „die Reihen gegen die Huthi-Milizen zu schließen“. Andererseits ging der bekannte saudische Kommentator Hassan al-Shehri, der als regierungsnah gilt, im emiratischen Sender Sky News Arabia die Partei scharf an und verwies auf ihre Verbindungen zur Muslimbruderschaft, die sowohl in Saudi-Arabien als auch in den VAE als Terrororganisation gelistet ist.

Die saudische Regierung fährt also zweigleisig: Man braucht al-Islah als Verbündete, will aber die strategische Allianz mit dem – besonders bruderschaftsfeindlichen – regionalen Verbündeten VAE nicht aufs Spiel setzen. Denn die 2015 vom saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman (MBS) geschmiedete Koalition, die die Huthis in wenigen Wochen besiegen wollte, befindet sich inzwischen militärisch in einer Sackgasse und besteht heute fast nur noch aus dem störungsanfälligen saudisch-emiratischen Tandem.

Im Herbst 2021, als die Huthis immer tiefer in die Region Marib im Westen des Jemen vordrangen, kritisierten mehrere der Islah nahestehende Militär- und Stammesführer öffentlich die Strategie der Koalition. Sie warfen ihr vor, eigene Interessen über die des jemenitischen Volkes zu stellen. Daraufhin setzte die Koalition ihre Luftangriffe auf die Huthis für einige Tage aus. Erst nachdem der Gouverneur von Marib, Sultan al-Arada, ein Pro-Islah-Stammesführer, eine unterwürfige Erklärung abgegeben hatte, nahmen sie die Angriffe wieder auf.

Diese Ereignisse spiegeln die Komplexität der Beziehungen zwischen al-Islah und dem Regime in Riad. Dabei hat Saudi-Arabien bei der Entstehung dieser islamistischen Bewegung im Nordjemen eine zentrale Rolle gespielt. Und al-Islah selbst – die 1990 offiziell gegründet wurde – hat ihre Wurzeln zumindest teilweise im parallelen Bildungssystem der „wissenschaftlichen Institute“ (al-Ma’âhid al-ilmiyya), die, vom saudischen Königshaus finanziert, seit den 1970er Jahren den wahhabitischen Islam im Jemen verbreiten.

Brüche im Anti-Huthi-Lager

Genau genommen kamen in der Islah die Einflüsse von drei Akteuren zusammen: erstens natürlich Saudi-Arabien; zweitens die Muslimbruderschaft, deren transnationale sunnitische Ideologie ab Ende der 1960er Jahre vor allem von Lehrern aus Ägypten, Syrien und dem Sudan im Jemen verbreitet wurde. Und drittens die Stämme.

Es war der Führer der mächtigen Haschid-Stammeskonföderation, Abdallah al-Ahmar, der die Al-Islah-Partei 1990 zusammen mit dem religiösen Führer Abdelmadschid al-Zindani gründete. Letzterer war auch Initiator der Universität al-Iman (der Glaube) in Sanaa, die für ihre dschihadistische Ausrichtung bekannt ist.

Trotz dieser Verbindungen und der umfangreichen finanziellen Hilfen aus Saudi-Arabien für die islamistische Bewegung im Jemen standen Riad und al-Islah in der Vergangenheit zweimal auf entgegengesetzten Seiten: Im Bürgerkrieg von 1994 unterstützte Riad die Separatisten im Süden, während al-Islah die Speerspitze der Truppen von Präsident Ali Abdullah Saleh bildete (von 1978 bis 1990 Präsident des Nordjemen und von 1990 bis 2012 Präsident des Vereinigten Jemen). Die Regierungstruppen konnten den Konflikt für sich entscheiden.

Anfang 2011 dann wiederum nutzte al-Islah – sehr zum Missfallen der Saudis – den sogenannten Arabischen Frühling, um reformistische und sogar revolutionäre Vorstellungen im Land zu fördern. Zuvor war der Einfluss von al-Islah im Parlament kontinuierlich zurückgegangen; die Partei hatte damals noch rund 50 der 301 Sitze. Vor dem Hintergrund der länderübergreifenden Protestwelle war die Partei dann überzeugt, die Zeit sei reif, Präsident Saleh und seine Partei, den Allgemeinen Volkskongress (GPC), abzusetzen und selbst die Macht zu übernehmen.

Das saudische Regime wurde von diesem Aufstand zunächst überrumpelt, trug 2012 dann allerdings selbst dazu bei, Saleh aus dem Amt zu entfernen. Die islamistische Bewegung im Jemen stimmte sich auf die Haltung der Muslimbrüder in der übrigen arabischen Welt ein, und der Aufstand wurde von Riads engen Verbündeten unterstützt: von Hamid al-Ahmar etwa, dem Al-Islah-Abgeordneten und Sohn des Parteigründers Abdullah; von Abdelmadschid al-Zindani, dem umstrittenen Leiter der Al-Iman-Universität und geistigen Vater von al-Islah; sowie von dem den Islamisten nahestehenden General Ali Mohsen al-Ahmar, der im März 2011 auf die Seite der Revolutionäre wechselte.

Kurz darauf ließ Abed Rabbo Man­sur Hadi, Vorsitzender des GPC, Präsident Saleh fallen und wurde dessen Nachfolger. Hinter den Kulissen nahm jedoch al-Islah eine führende Rolle im jemenitischen Regime ein und Hamid al-Ahmar stieg zum eigentlichen starken Mann im Land auf. Zwischen 2011 und 2013 bekleidete er offiziell den Posten des Generalsekretärs im Vor­berei­tungs­komitee für die Konferenz des Nationalen Dialogs. Doch Saleh, der auch nach seinem Abgang die Kontrolle über Teile der Armee behielt, hatte in der Auseinandersetzung mit den „Islahis“ noch nicht das letzte Wort gesprochen. Seine Rache kam in Form eines Zweckbündnisses mit den Huthis, ­denen es 2014 gelang, Sanaa einzu­nehmen.

Mit Blick auf diese Phase existieren zwei einander widersprechende Erzählungen: Salehs Anhänger beharren bis heute darauf, die Einnahme der Hauptstadt sei das Resultat der schlechten Regierungsführung von al-Islah gewesen; die Islahis hingegen sehen im „Verrat“ Salehs und seiner Verbündeten die Ursache. Bezahlen mussten für den Sieg der Huthis letztlich beide: Saleh wurde nach seinem x-ten Lagerwechsel 2017 von den Huthi-Rebellen getötet, und die meisten Al-Islah-Führer mussten ebenso ins Exil gehen wie Präsident Hadi. Die Huthis ihrerseits gehen so weit, den Aufstand von 2011 für sich zu reklamieren, und werfen al-Islah vor, ihn nachträglich für sich zu vereinnahmen.

2015 wurden die Islahis wiederum von den Saudis überrascht. Als MBS, inzwischen Verteidigungsminister, beschloss, militärisch gegen die Huthis vorzugehen, verweigerte die Partei zunächst aus humanitären Erwägungen ihre Unterstützung. Am 26. März 2015 betonte die Parteiführung ihr „Bedauern“ angesichts der saudischen Luftangriffe, die viele zivile Opfer forderten. Sie änderte aber ihre Haltung, als die Huthis vermehrt gegen al-Islah aktiv wurden und am 2. April mehrere Parteimitglieder entführten. Am Tag darauf verkündete al-Islah ihre Unterstützung für die saudische Militärope­ra­tion.

Heute ist die politische Landschaft im Jemen stark fragmentiert. Die einstige Saleh-Partei GPC, zentraler Gegner der al-Islah, ist in drei Lager gespalten: die Hadi-Fraktion unter saudischer Kontrolle, eine andere um den Saleh-Clan, die nun unter dem Einfluss der VAE steht, und eine dritte, die sich mit den Huthis in Sanaa arrangiert hat.

Al-Islah ihrerseits ist heute sowohl ein Netzwerk als auch eine Bewegung, deren einzelne Teile eine gewisse Autonomie für sich beanspruchen. In mehreren Punkten sind sie sich jedoch einig: Sie wollen einen sunnitischen Islam; sie stehen für Reformismus und transnationale Solidarität mit anderen Vertretern eines politischen Islam sunnitischer Prägung. Sie wollen Konservatismus und politische Modernität miteinander verbinden; rhetorisch geben sie sich volksnah.

Al-Islah und der Arabische Frühling

Zugleich wollen einige der al-Islah nahestehende oder sogar als deren Führungsfiguren geltende Persönlichkeiten nicht als Islahis oder als Muslimbrüder bezeichnet werden. Wir haben einige von ihnen befragt: Hamid al-Ahmar; Abdallah al-Zindani, Sohn von Abdelmadschid al-Zindani, und Hamud al-Makhlafi (Gründer einer „Volksfront“ gegen die Huthis im südjemenitischen Taizz). Alle drei bestreiten jegliche Verbindung zur Muslimbruderschaft, zu al-Islah bekennt sich nur al-Ahmar.

Die Herausbildung einer islamistischen jemenitischen Bewegung unabhängig von al-Islah scheint glaubwürdig, was auch am geopolitischen Kontext liegen mag: Al-Ahmar, al-Zindani und al-Makhlafi leben ebenso wie Al-Islah-Parteichef Mohammed al-Jadumi in Istanbul. Sie genießen den Schutz der Türkei, eines der Länder, die sich im Rahmen des Arabischen Frühlings, insbesondere in Ägypten und Syrien,2 am stärksten für die Muslimbruderschaft eingesetzt haben.

Die drei Befragten teilen auch eine kritische Haltung gegenüber der Anti-Huthi-Koalition, deren Aufrichtigkeit sie infrage stellen. Auch hier zeichnen sich (innerhalb des jemenitischen islamistischen Lagers) verschiedene Tendenzen ab: der eher „loyalistische“ (pro­saudische) Flügel, der von der Partei repräsentiert wird; der „kritische“ Flügel um Hamud al-Makhlafi, mit engen Verbindungen in die Türkei und nach Katar; eine antisaudische Fraktion (zu der auch die ehemalige Friedensnobelpreisträgerin Tawakkol Karman gehört, die sich von der al-Islah distanziert hat, aber weiterhin der Türkei und Katar nahesteht); und schließlich die in Sanaa verbliebenen Islahis, die zu einem Modus Vivendi mit den Huthis gezwungen sind.

Dass viele Islahis die Kategorie „Muslimbruder“ ablehnen, hat vor allem mit ihrer Angst zu tun, als Terroristen abgestempelt zu werden. Sie halten den Terrorvorwurf, der vor allem von den VAE erhoben wird, für eine Waffe, um sie politisch ins Abseits zu drängen. Ex-Präsident Hadi wurde von Abu Dhabi lange Zeit dafür kritisiert, dass seine Truppen von Al-Islah-Kämpfern dominiert wurden, ebenso für die formelle Präsenz der al-Islah in seiner Regierung und anderen Organen des Staats.

Allerdings konnte Hadi gar nicht ohne die Partei auskommen. Einerseits war er in den Gebieten, die von Akteuren mit emiratischer Unterstützung kontrolliert wurden, Persona non grata (etwa in Aden, das von den Süd-Separatisten dominiert wird). Andererseits verdankte das loyalistische Lager seine wenigen Siege den Islahi-Truppen.

Al-Islah befindet sich heute in einer politisch äußerst prekären Position. Die Partei muss ständig damit rechnen, von der militärischen Koalition fallen gelassen werden und selbst zur Zielscheibe zu werden. Allerdings ist ihr politischer Einfluss in der Bevölkerung enorm, teils auch in Regionen unter Kontrolle der Huthis oder der Separatisten im Süden.

Mit anderen Worten: Al-Islah dient dem loyalistischen Lager einerseits als Kanonenfutter und ist andererseits dessen stärkstes und am besten verankertes Element in der jemenitischen Gesellschaft. Solange der Krieg gegen die Huthis andauerte, mussten sich die Saudis – im Gegensatz zu den VAE – mit diesen Kämpfern gut stellen, denn die Islahis waren nicht nur die stärkste Fraktion, sondern auch die einzige ideologische Alternative zu den Huthis im Norden des Landes.

Seit dem 7. April hat sich die Lage jedoch grundlegend geändert. An diesem Tag trat Hadi als Präsident zurück und übergab seine Befugnisse an einen „Präsidialrat“. Dieser wird von Personen dominiert, die den Vereinigten Arabischen Emiraten nahestehen, was die Emirate zum größten Gewinner dieser Umgestaltung macht. Auch Vizepräsident Ali Mohsen al-Ahmar wurde – gemäß den Wünschen der VAE – aus dem Amt gedrängt. Im Präsidialrat ist kein offizielles Mitglied der al-Islah vertreten. Mit Sultan al-Arada sitzt zwar eine Person im Rat, der eine Nähe zur Partei nachgesagt wird, aber lediglich als Gouverneur der Schlüsselregion Marib.

Anfang April einigten sich die Huthis und die Koalition anlässlich des Ramadan auf eine zweimonatige Waffenruhe, die jüngst verlängert wurde. Und auch darüber hinaus scheinen die Saudis nicht gewillt zu sein, den Krieg in Marib lange fortzusetzen. Das zeigen die zahlreichen Aufrufe zum Dialog mit den Huthis. Das Resultat eines solchen Dialogs wäre sicher nicht zum Vorteil der al-Islah.

Selbst die Türkei hat offenbar eine strategische Neuausrichtung eingeleitet, bei deren Bewertung allerdings Vorsicht geboten ist. Ankara hat seine Unterstützung für die Aufständischen und für die Muslimbrüder zumindest teilweise aufgegeben und verfolgt pragmatische Ziele auf bilateraler Ebene – auch mit früheren Gegnern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten. Präsident Recep Tayyip Erdo­ğan könnte sogar bereit sein, die in seinem Land aufgenommenen Islahis fallen zu lassen oder ihren Rückzug aus dem politischen Leben zu erzwingen, für finanzielle Gegenleistungen, die womöglich Katar beisteuern könnte. Allerdings wäre auch ein solcher Deal keine Garantie dafür, dass der politische und militärische Einfluss von al-Islah im Jemen endet.

1 Siehe Pierre Bernin, „Wirre Fronten im Jemenkrieg“,  LMd, März 2019, und „Jemens skrupellose Nachbarn“, LMd, Januar 2021.

2 Siehe Killian Cogan, „Zuflucht am Bosporus“, LMd, Juni 2021.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Khaled al-Khaled ist Journalist und Forscher am Centre de Recherche Stratégique AESMA. Adlene Mohammedi ist Journalist und Direktor des AESMA.

Le Monde diplomatique vom 09.06.2022, von Adlene Mohammedi und Khaled al-Khaled