Die arabische Sehnsucht
Verschiedene Wege zu Einheit, Stärke und Recht von Hicham Ben Abdallah El Alaoui
In der arabischen Welt trifft die weltweite Wirtschaftskrise auf eine seit Jahrzehnten bestehende Legitimitätskrise der Regierungen. Wie viele Ursachen dafür auch benannt wurden – Neokolonialismus, unzureichende Demokratisierung, kulturelle oder religiös motivierte Verwerfungen –, das Problem ließ sich weder im Guten noch mit brutalen Methoden lösen. Die fehlende Legitimität lässt sich an einer ganzen Reihe von Gegensätzen ablesen: Abgründe trennen Herrscher und Beherrschte, Laizisten und religiöse Fundamentalisten, Eliten und ärmste Bevölkerungsschichten. In Verbindung mit der durch die Wirtschaftsflaute gedrückten Stimmung kann diese Legitimitätskrise leicht zu unberechenbaren und gewaltsamen Ausbrüchen führen.
Um eine solche Zuspitzung zu verhindern, sollten wir uns auf die Lehren aus unserer eigenen Geschichte besinnen: Es gab eine Zeit, da waren viele von der Idee des „arabischen Nationalismus“ begeistert. Es entstanden zahlreiche Bewegungen, die die gesamte Region verändert haben. Wir wurden Zeugen von Heldentum, Einigkeit und Erfolgen. Den Kolonialismus zu überwinden war keine leichte Aufgabe – und es war das Verdienst des arabischen Nationalismus, dass dieser Kampf gewonnen wurde und Beziehungen entstanden zwischen den neu gegründeten Staaten einer Welt, die man später die „Dritte“ nennen sollte.
Der panarabische Nationalismus war alles andere als vollkommen. Wie andere Reformbewegungen auch wich er oft von seinem Weg ab und unterlag großen Veränderungen. Doch er verhalf den Völkern in ihrem Kampf um Selbstbestimmung zu einer gemeinsamen und vielversprechenden Perspektive: Jenseits von individuellen, konfessionellen und nationalen Interessen war der Panarabismus ein visionäres Projekt. Als gemeinschaftsstiftendes, ja universalistisches Vorhaben lebt es in unseren Köpfen fort, wie die vielen Kundgebungen für die Sache der Palästinenser zeigen – zuletzt während des Gaza-Kriegs vom Dezember 2008 bis Januar 2009. Westliche Regierungen haben zwar nach Kräften die Differenzen geschürt und die mit ihnen befreundeten Länder in der Region unter Druck gesetzt. Doch vom Golf bis zum Maghreb sind sich die verschiedenen Gemeinschaften – Religiöse und Säkularisten, Sunniten und Schiiten, Araber und Perser – nach wie vor einig in ihrer Unterstützung der Palästinenser.
Auch der überraschende Rückhalt, den unterschiedliche fundamentalistische Gruppierungen – von den quietistischen Sekten bis zu den radikalen Salafisten – in der Bevölkerung genießen, ist paradoxerweise dem arabischen Einheitsstreben geschuldet. Nicht nur der Westen, auch nichtreligiöse Araber fürchten diese Bewegungen. Dabei sind sie Ausdruck einer Sinnsuche und der Sehnsucht nach einer neu entstehenden Einheit.
Es ist also überhaupt nicht verwunderlich, dass im politischen Denken die Umma, das heißt die Gemeinschaft der Gläubigen, an die Stelle der Großen Arabischen Nation getreten ist und dass der Islamismus als die führende Kraft des Widerstands gilt und nicht mehr der arabische Nationalismus: Dieser hat schwere Rückschläge erlitten, während der islamische Glaube in unseren Gesellschaften stets eine prägende Kraft geblieben ist. Beide Überzeugungen sind auf eine verzwickte Weise miteinander verbunden, entweder ergänzen sie einander oder sie bekämpfen sich.
In seinen besten Zeiten wollte der arabische Nationalismus ein Supranationalismus sein: Aus dem Kampf gegen den Kolonialismus (watanija) sollte eine transnationale Solidarität zwischen den arabischen Bevölkerungen (qaumija) erwachsen, um den Herausforderungen der Zeit – der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Westen oder der Palästinafrage – die Stirn zu bieten. Doch der arabische Nationalismus durchlebte extreme Höhen und Tiefen. Seinen größten Erfolg hatte er 1956: Ägypten verstaatlichte den Suezkanal und konnte – unterstützt sowohl von den USA wie von der Sowjetunion – dem Druck Großbritanniens, Frankreichs und Israels widerstehen, die Aktion rückgängig zu machen. Der Sechstagekrieg im Juni 1967 bedeutete einen herben Rückschlag, aber das durch den Jom-Kippur-Krieg gegen Israel im Oktober 1973 ausgelöste arabische Ölembargo gab der Bewegung wieder ein wenig Auftrieb.
Am Ende aber verfolgten die verschiedenen Befreiungsbewegungen nur noch ihre jeweiligen nationalen Interessen. Sie erstarrten zu dirigistischen Regimen unter der Führung einer Einheitspartei oder eines „Führers auf Lebenszeit“. Doch während die Regierungen sich erbitterte Kämpfe um die Vorherrschaft in der Region lieferten, blieb die Hoffnung auf eine vom islamischen Erbe geprägte, nationenübergreifende arabische Gemeinschaft lebendig.
Der sich ausbreitende politische Islam musste sich die Ideen und Erfahrungen des Panarabismus – seines Bruders im Geiste – einverleiben und sie seinen Zwecken anpassen. Die Erfolge der schiitischen Hisbollah im Libanon lassen sich unter anderem dadurch erklären, dass sie als entschlossene Verfechterin der nationalen Unabhängigkeit auftritt. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die arabischen Nationalisten und die islamistischen Bewegungen durchaus einige grundlegende Vorstellungen teilen: Das Streben nach einer einheitlichen kollektiven Geisteshaltung, der Wunsch, der arabischen Sprache und Kultur neue Geltung zu verschaffen, und, seit dem Zweiten Weltkrieg, die antiimperialistische Gesinnung.
In Marokko kämpften bereits in den 1920er-Jahren die aufständischen Rif-Kabylen unter ihrem Anführer Abdelkrim al-Chattabi unter dem islamo-nationalistischen Banner gegen die französische Kolonialmacht. Die Berufung auf die Scharia spielte eine wichtige Rolle in ihrer antikolonialen Ideologie. Und als die von Gamal Abdel Nasser geführte „Bewegung freier Offiziere“ 1952 in Ägypten die Macht übernahm, waren die Muslimbrüder ihr wichtigster Bündnispartner. Auch die algerische Nationale Befreiungsfront (FLN) umwarb die Landbevölkerung mit Begriffen wie Dschihad und Mudschahid (arab.: derjenige, der den Heiligen Kampf betreibt). Man kann sogar sagen, dass der israelisch-arabische Krieg von 1973 zu einer Allianz zwischen dem arabischen Nationalismus, für den damals Ägypten stand, und den konservativen islamischen Monarchien unter der Führung von Saudi-Arabien führte – nur so konnte das Ölembargo beschlossen werden.
Arabische Nationalisten und islamische Umma
Selbst die sich in den 1940er-Jahren formierende säkulare Baath-Partei berief sich immer wieder auf die Umma, wenn sie von der ungeteilten arabischen Nation sprach. Der syrische Politiker und Mitbegründer der Partei, Michel Aflaq (1910–1989), war zwar ein Verfechter des weltlichen Nationalismus, aber er hatte erkannt, dass „die Verbindung von Islam und arabischem Nationalismus etwas ganz anderes ist als das Verhältnis anderer Religionen zu nationalen Bewegungen“. Und vorausschauend formulierte er: „Es wird sich zeigen, dass allein die Nationalisten den Islam verteidigen können und dass sie der Religion eine besondere Stellung einräumen müssen, um das Überleben der arabischen Nation zu sichern.“1
Aflaqs Vorhersage hat sich erfüllt, nur unter umgekehrten Vorzeichen: Heute sind es die Islamisten, die als Einzige den arabischen Nationalismus verteidigen. Wie sie dessen Themen aufgreifen, um sich als Kämpfer gegen die Vormacht des Westens und als Bewahrer der nationalen und kulturellen Unabhängigkeit darzustellen, ist hinlänglich bekannt.
Dass der Westen und die reaktionären arabischen Regime in ihrem Bemühen, die Nationalisten klein zu halten, jahrzehntelang die islamistischen Bewegungen gefördert haben, ist die Ironie der Geschichte. Das Verhältnis der Islamisten zu den westlichen Mächten war alles andere als fleckenlos und eindeutig. Der britische Geheimdienst infiltrierte die Muslimbrüder in Ägypten, um gegen Nasser zu konspirieren, und die Hamas wurde anfangs von Israel unterstützt, um sie als Gegenkraft zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) aufzubauen (siehe den Artikel von Adam Shatz, Seite 12/13). Und im Auftrag der USA bekämpften die „arabischen Afghanen“ den „atheistischen Kommunismus“ am Hindukusch. Immer wieder ließen sich die Islamisten auf Allianzen mit fremden Mächten ein, denen es um die Vorherrschaft in der Region ging.
Der Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan stellte einen Höhepunkt des Prozesses dar, der den panarabischen durch einen panislamischen Nationalismus ersetzte. Die Islamisten konnten zwar die Kraft des Glaubens gegenüber der Schwäche des traditionellen Nationalismus herausstreichen, doch es war klar, dass der Sieg in Afghanistan als Modell nicht taugte – schließlich wurde er durch einen Pakt mit dem Westen ermöglicht.
So sah es auch ein ehemaliger CIA-Mitarbeiter, der über Washingtons „schmutziges kleines Geheimnis“, in dieser Phase des Kalten Krieges zu Protokoll gab: „Die [Muslim-] Brüder waren damals unsere stillen Verbündeten, eine Geheimwaffe im Krieg gegen den Kommunismus. Wir dachten: Wenn Allah mit uns ist – uns soll es recht sein.“2 Und die Islamisten zogen den Umkehrschluss: „Wenn Amerika bereit ist, auf unserer Seite in den Kampf zu ziehen – uns soll es recht sein.“ Letztlich besteht das „schmutzige kleine Geheimnis“ der Islamisten wie der weltlichen Nationalisten darin, dass in der Politik niemand gegen die Versuchungen des Opportunismus und der Komplizenschaft mit ausländischen Mächten gefeit ist.
Vergessen wir das ganze Drama der gegenseitigen Anschuldigungen – es bringt uns und dem Westen nur Nachteile. Es hat die Legitimität der großen nationalistischen Bewegungen in Algerien und Ägypten beschädigt und den Islam zu einer Doktrin werden lassen, die zwischen Laizisten und Islamisten und zwischen unseren Regionen und dem Rest der Welt tiefe Gräben aufriss. Darüber hinaus hat es Theorie und Praxis eines bewaffneten Fanatismus genährt, der sich, wie bei Frankensteins Monster, gegen den Westen kehrte.
Zuletzt hat diese unselige Strategie bewirkt, dass aus den alten sozialen und theologischen Streitigkeiten zwischen Sunniten und Schiiten ein geopolitischer Bruch zwischen dem Iran und der arabischen Welt entstand. Israel und die neokonservativen Kreise in den USA haben diese Entwicklung nach Kräften gefördert, weil sie ihren kurzfristigen Interessen dienlich schien. Das muss man schon zynisch nennen, wenn man bedenkt, dass beide Länder zuvor den Iran als Bollwerk gegen den arabischen Nationalismus aufgebaut hatten: In den 1960er- und 1970er-Jahren genoss Teheran als einzige Kraft in der Region noch deren volle Unterstützung – erst die Islamische Revolution von 1979 machte den Iran zum Hauptfeind.3 Mit der US-Invasion im Irak wurde 2003 nicht nur die stärkste Bastion des arabischen Nationalismus geschleift, sondern auch dem Iran zu neuer Stärke in der Region verholfen.
Diese Eingriffe verschärften die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten sowie zwischen Arabern und Persern – aber diese Konflikte waren keineswegs eine Erfindung des Westens, sondern gehen auf die Anfänge des Islam zurück, auf die Zeit der ersten Eroberungen. Manche Araber hegen noch immer den heimlichen Wunsch nach der Neuerschaffung eines sunnitischen Nationalismus unter einer arabischen salafistischen Doktrin. Von ihm erhoffen sie sich die Verbindung des reinen Islams mit dem arabischen Nationalismus und die Überwindung der Häresie der Schiiten und des iranischen Expansionswillens. Diese gefährliche Tendenz zeigte sich in den konfessionell motivierten Gewaltakten, die im Irak und in Zentralasien von verschiedenen Organisationen verübt wurden, die sich als Teil des Al-Qaida-Netzwerks verstehen.
Doch diese Strategie des Westens und der reaktionären arabischen Regime ist nicht sinnvoll. Sie richtet sich gegen eines der wenigen Länder, das von der US-Intervention im Irak 2003 profitierte, das zur Stabilisierung des Irak beitrug und bei der Befriedung Afghanistans eine wichtige Rolle spielen könnte. Absurderweise wird dabei auch noch versucht, die Hamas, die aus der sunnitischen Muslimbruderschaft hervorgegangen ist, zu einer Art Fünfter Kolonne der Schiiten von Teheran zu erklären. Wieder einmal lassen sich bestimmte Kräfte auf ein Spiel mit dem Feuer ein, wenn sie sunnitische Dschihadisten im Libanon für den Irak instrumentalisieren.
Zweifellos wird der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten die panislamische Bewegung zerstören – wie die panarabische Bewegung einst durch den Rückzug auf rein nationale Interessen zerstört wurde. Immerhin haben sich einige Regime der Region diesen Absichten entgegengestellt. Arabische Staaten haben, mit welchen Motiven auch immer, die Forderung erhoben, dass das Problem der atomaren Aufrüstung des Iran im regionalen Rahmen gelöst werden sollte und dabei auch die israelischen Atomwaffen auf den Verhandlungstisch kommen müsste.
Seit Jahren haben die arabischen Bewohner der Länder zwischen Golf und Atlantik immer wieder ihre Unterstützung für Hamas und Hisbollah bekundet. Dabei spielte es keine Rolle, ob man Sunnit oder Schiit war, es ging allein um den Widerstand gegen israelische Angriffe: Schiiten unterstützten den Hamas-Führer Ismael Hanijeh, und Sunniten trugen Plakate mit dem Konterfei des Hisbollah-Chefs Nasrallah durch die Straßen.
In solchen Momenten können wir ermessen, welche Kraft der Traum von der panarabischen und panislamischen Einheit immer noch besitzt, der für Würde, Gerechtigkeit und wahre Unabhängigkeit steht. Auch wenn wir der Meinung sind, dass die islamistischen Bewegungen das alte Versprechen des Nationalismus, das sie längst gefährlich verfälscht haben, nicht einlösen: Wir müssen einräumen, dass sie ihm neuen Widerstandsgeist eingeflößt und wieder kollektiven Auftrieb gegeben haben und dass sie solch populäres Gedankengut sehr effektiv verstärkt haben. So tragen die neuen, oft islamistisch geführten Widerstandsbewegungen zur Renaissance des arabischen Nationalismus bei – vielleicht ohne es zu wollen.
Inzwischen gibt es nämlich noch eine andere Form des staatenübergreifenden arabischen Nationalismus: Eine säkulare Strömung, die sich auf die arabische und islamische Identität beruft und zugleich stolz ist auf ihren Kosmopolitismus. Vor allem unter Jugendlichen hat sie viele Anhänger, wie Beiträge im Internet, bei Facebook oder auch bei al-Dschasira zeigen – wo die Diaspora die Verbindung mit der Heimat aufrecht erhält und die jungen Leute in ihrer Sprache kommunizieren können. Da geht es nicht mehr nur um die Rechte der Palästinenser oder Araber, sondern um Grundsätze des Völkerrechts, es ist also ein eher universalistischer Ansatz. Das konnte man übrigens auch bei den jüngsten Solidaritätskundgebungen für Gaza feststellen.
Dieser „dritte Nationalismus“ fühlt sich in keiner Weise an Regierungen oder Regime gebunden. Er bezieht sich auf panarabische und panislamische Vorstellungen, vertritt aber kein politisches Programm. Er wendet sich ganz allgemein gegen autoritäre Herrschaft und Korruption, tritt für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein, lehnt aber militärische Einmischungen ausländischer Mächte entschieden ab. Er verteidigt die arabische und islamische Identität und will zugleich kulturelle Vielfalt und intellektuelle Erneuerung. Solidarisch im Kampf für Unabhängigkeit und Gerechtigkeit in der arabisch-islamischen Welt und vor allem mit dem palästinensischen Widerstand, weiß er um Erfolge und Niederlagen der politischen Bewegungen in der arabischen Welt wie im Westen.
Noch lässt sich nicht sagen, ob damit der Nationalismus der Väter und Imame am Ende ist. Denn politisch zeigt der „dritte Nationalismus“ bislang kaum Wirkung. Er bemüht sich zwar um politischen Zusammenhalt und Organisationsformen, doch in dem Getöse, das die regierungsamtlichen Phrasendrescher und islamischen Prediger mit ihren Auseinandersetzungen veranstalten, konnte er sich bislang kaum Gehör verschaffen.
Die Völker der Region leiden unter einem tief sitzenden Gefühl der Machtlosigkeit als Folge der vielen Rückschläge, die sie in der jüngeren Geschichte hinnehmen mussten: Von der Niederlage von 1967 bis zur Besetzung des Irak 2003 und den verschärften Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten. Das führte in unseren Gesellschaften zu einer Art „Scheidung auf Italienisch“ zwischen den drei großen Kräften – dem Staat und seiner Klientel, den laizistischen und fortschrittlichen Kräften und den islamistischen Bewegungen: Man redet nicht miteinander, lebt aber weiterhin unter einem Dach.
Die gegenwärtige Wirtschaftskrise bringt nun noch ein neues Element ins Spiel, das überraschende Entwicklungen birgt. Dem dramatischen Rückgang des Lebensstandards haben die Islamisten kein wirksames Wirtschaftsprogramm entgegenzusetzen, allenfalls die Scharia als Mittel gegen Korruption und Kriminalität und als Ordnungsfaktor in unsicheren Zeiten. Denn die islamistische Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit gründet auf Wohlfahrt, nicht auf einem politischen Programm: Anstelle von Strukturveränderungen zur Abschaffung der Armut sollen mildtätige Werke das Leid der Armen lindern.
Und die reichen konservativen Schichten, die an der Macht sind, kritisieren lieber den mangelnden Glaubenseifer in den weltlichen arabischen Staaten, als dass sie die wirtschaftlichen Strukturen verändern, aus denen Armut entsteht – die islamistischen Organisationen kommen ihnen vor allem als Wohlfahrtseinrichtungen zupass. Sozial motivierte Widerstandsbewegungen gelten ihnen daher auch als fitna (Unruhe, Aufstand), als Quelle von Streit und Chaos in der Gemeinschaft der Muslime.
Wohlfahrt statt Gerechtigkeit
So stellten sich die Muslimbrüder hinter die staatliche Privatisierungspolitik, als Ende der 1990er-Jahre zehntausende ägyptische Bauern gegen die Aufhebung der einst von Nasser verfügten Landreform protestierten.4 Und im Frühjahr 2008 waren es fortschrittliche unabhängige Aktivisten, die Streiks und Arbeiterdemonstrationen im Nildelta organisierten.5 Die Kämpfe um Lohnerhöhungen und die Einhaltung internationaler Bestimmungen bei Menschenrechtsfragen fanden so viel Unterstützung, dass die Muslimbruderschaft sich anschloss – allerdings eher halbherzig: Derartige Forderungen sind ihnen fremd. Auch bei den Hungerrevolten und Demonstrationen für höhere Löhne in Tunesien (Gafsa) und Marokko (Sidi Ifni) übernahmen linke Kräfte die Führung, während sich die Islamisten heraushielten.
Die Muslimbrüder können mit alldem wenig anfangen, zum einen aus inhaltlichen Gründen, zum andern weil sie bei dieser Form der Mobilisierung nicht die Richtung bestimmen können. Indessen werden solche Bewegungen immer wichtiger; sie eröffnen große Möglichkeiten, fortschrittliche Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit öffentlich geltend zu machen.6 Doch das ist noch kein Grund zum Optimismus: Bislang sind solche Aufstände selten, lokal begrenzt und isoliert. Die Probleme, um die es dabei geht, müssten auf regionaler oder landesweiter Ebene gelöst werden, doch die Demonstranten wissen oft nicht einmal, was ein paar hundert Kilometer weiter gerade geschieht.
Die arabischen Regime versuchen alles, um zu verhindern, dass solche Bewegungen sich zusammenschließen oder gar mit den Islamisten paktieren. Gewöhnlich greifen sie dafür zum Mittel der brutalen Unterdrückung, manchmal aber auch zu einer bei den religiösen Bewegungen üblichen Rhetorik: das Beharren auf der nationalen und kulturellen Identität, den muslimischen und arabischen Wertvorstellungen gegenüber den als Einmischung des Westens verteufelten Forderungen nach Menschen- und Bürgerrechten. Damit werden die Gräben zwischen Islamisten und fortschrittlichen Kräften weiter aufgerissen. Bestes Beispiel ist die Frauenfrage: Inzwischen hat kaum noch jemand etwas gegen die Berufstätigkeit von Frauen, aber die Rolle der Frau in der Familie und alles, was den weiblichen Körper betrifft, bleibt umstritten.
Die fortschrittlichen Kräfte, die für die Rechte der Frauen eintreten, geraten so unter doppelten Druck: einerseits durch die islamistischen Moralvorstellungen und andererseits durch die nationalistischen Vorstellungen von Würde und Ehre. Sie müssen sich kulturelles Versagen vorwerfen lassen, während die Aufrechterhaltung der autoritären staatlichen oder religiösen Strukturen als kultureller Widerstand – gegen Verwestlichung – gilt. Diese Art von essenzialistischer Identitätspolitik hat bei uns eine lange Tradition, mit tragischen Folgen.
In Pakistan hatten die Taliban kein Problem, den Klassenkampf in ihr ideologisches Repertoire aufzunehmen – fitna hin oder her. Im Swat-Tal traten sie für eine Landreform ein, und das bedeutete, dass einige Grundbesitzer, Mitglieder der halbfeudalen pakistanischen Oberschicht, die zuvor als konservative Unterstützer der Bewegung willkommen gewesen waren, plötzlich enteignet und vertrieben wurden. Für die Taliban, so ein pakistanischer Regierungssprecher, hatte dies den Vorteil, dass sie „nicht nur bestimmen konnten, welche Musik gespielt werden und wer zur Schule gehen durfte, sondern sie konnten auch die islamische Gerichtsbarkeit einführen, eine eigene Verwaltung durchsetzen und für die Umverteilung des Reichtums sorgen“.6
Die Differenzen zwischen fortschrittlichen Kräften und Islamisten sind dabei nicht zu übersehen. Beide mögen ernsthaft den Aufbau der „Demokratie“ anstreben, doch ihre Vorstellungen, wie diese zu realisieren sei, gehen weit auseinander. Den Progressiven geht es um Volkssouveränität – in gesetzlichen Grenzen und gemäß international anerkannter rechtlicher und politischer Grundsätze. Die Islamisten dagegen wollen, dass, je nach Auslegung der heiligen Schriften, bestimmte religiöse Vorstellungen absolute Gültigkeit erhalten. Immerhin gibt es darüber auch interne Debatten: So freunden sich die jordanischen Muslimbrüder oder die marokkanische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung zunehmend mit der Idee der Volkssouveränität an.
Die weltweite Wirtschaftskrise eröffnet für beide Kräfte neue Möglichkeiten: Sie könnten vorteilhafte Bündnisse eingehen für konkrete Anlässe wie Streiks und Demonstrationen gegen Arbeitslosigkeit, Preissteigerung und Versorgungsengpässe in den einzelnen Ländern; die Bevölkerung könnte von ihrer Regierung Transparenz, Rechenschaft und ein entschlossenes Vorgehen gegen Korruption fordern. Auf regionaler und internationaler Ebene wäre nicht nur die konsequente Weiterführung der Solidarität mit den Palästinensern denkbar, sondern auch ein gemeinsames Eintreten gegen die Intervention ausländischer Mächte, für eine gerechte Wirtschaftsordnung, für die Anwendung internationalen Rechts.
Die Grundsätze eines solchen gemeinsamen wirkungsvollen Vorgehens sollten sich an den Prinzipien unserer einstigen nationalistischen Bewegungen orientieren: nationale und regionale Unabhängigkeit, regionale Zusammenarbeit, Teilnahme an internationalen Angelegenheiten. Das Ziel wären Staaten, die politische Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit für alle garantieren, eine verbesserte wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung sowie eine ausgleichende Minderheitenpolitik. Die fortschrittlichen Kräfte müssen den Kampf um Einfluss und politische Macht gewinnen und zeigen, dass Demokratie und Achtung der Menschenrechte die richtigen Mittel zur Verwirklichung dieser Grundsätze sind.
Beim israelischen Einmarsch in den Gazastreifen hat sich gezeigt, in welchem Maße diese Mittel zur Stärkung der palästinensischen Sache beitragen können. Die Hamas bezieht ihre Glaubwürdigkeit aus dem Kampf gegen die Korruption und aus dem beharrlichen Widerstand gegen die israelische Aggression, aber inzwischen auch daraus, dass sie durch Wahlen an die Macht gekommen ist.
Israel dagegen gerät in puncto Menschenrechte und internationales Recht zunehmend unter Druck. Jahrzehntelang hat die internationale Gemeinschaft Israels illegales Vorgehen geduldet; doch nach den jüngsten Verstößen könnte es damit bald vorbei sein (siehe den Artikel von Willy Jackson, Seite 14/15). Das Internet und Fernsehsender wie al-Dschasira sowie – ganz wichtig – israelische Historiker, an deren Freiheit der Forschung wir uns ein Beispiel nehmen sollten, liefern uns eine vor sechzig Jahren noch nicht verfügbare Fülle an Informationen, Analysen und historischen Fakten.
Erstaunlicherweise sind gerade durch die großen Herausforderungen für die Nationalisten – wie die militärischen Interventionen im Libanon und im Irak – neue Räume für soziale Bewegungen, Einheit, Pluralismus und Demokratie entstanden, die wir nutzen müssen. Ganz utopisch ist das nicht: Der Prozess der Einigung in Europa begann erst nach einer Folge blutiger Konflikte zwischen Religionsgemeinschaften und Nationen. Weder die nationale Unabhängigkeit noch die kulturellen Unterschiede zwischen den Völkern wurden damit aufgegeben.
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt
Hicham Ben Abdallah El Alaoui ist Forscher am Freeman Spogli Institute for International Studies an der Stanford University, Kalifornien.