Operation im rechtsfreien Raum
Welches Gericht ist für mutmaßliche Kriegsverbrechen des israelischen Militärs zuständig? von Sharon Weill
Am 22. Juli 2002 um Mitternacht lud ein Flugzeug der israelischen Luftwaffe eine tonnenschwere Bombe über einem Wohnviertel von Gaza City ab. Al-Daraj ist eines der am dichtesten besiedelten Stadtgebiete der Welt. Ziel der Operation war die Tötung von Salah Schehadeh, dem ehemaligen Militärbefehlshaber der Hamas im Gazastreifen. Der hielt sich zu diesem Zeitpunkt in seinem Haus auf, zusammen mit seiner Familie. Die Bombe tötete Schehadeh und mit ihm 14 Zivilpersonen, in der Mehrzahl Kinder. 150 Personen wurden verletzt, davon etwa die Hälfte schwer. Die umliegenden Häuser wurden entweder zerstört oder beschädigt, unter den Trümmern eines Nachbarhauses fanden sieben Mitglieder der Familie Matar den Tod.
Sechseinhalb Jahre danach, am 29. Januar 2009, leitete der Richter am obersten Strafgerichtshof Audiencia Nacional, Fernando Andreu Merelles, – im Rahmen der universellen Zuständigkeit der spanischen Justiz – strafrechtliche Ermittlungen gegen sieben israelische Politiker und hohe Militärs ein.1 Der Anfangsverdacht lautet auf Kriegsverbrechen. Aber wie das Gericht feststellte, könnte die untersuchte Tat vielleicht sogar als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert werden. Ein solcher Tatbestand läge vor, wenn die Bomben vom Juli 2002 – wie die Anwälte der palästinensischen Seite zu beweisen versuchen – Teil einer Strategie von systematischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung von Gaza war.
Das Madrider Verfahren wurde im Juni 2008 von sechs palästinensischen Opfern des Angriffs auf al-Daraj beantragt. Sie machten geltend, dass sie gezwungen seien, die spanische Justiz mit dem Fall zu befassen, „weil es unmöglich war, ein entsprechendes Ermittlungsverfahren bei den israelischen Gerichtsinstanzen in Gang zu bringen“. Im August forderte das spanische Gericht die Israelis zur juristischen Kooperation in der Sache Schehadeh auf. Da dieses Ersuchen unbeantwortet blieb, „können und müssen die Fakten von der spanischen Justiz ermittelt werden“, so entschied das Gericht fünf Monate später.
Am selben Tag, an dem dieser Entscheid in Spanien erging, übersandte der israelische Staat eine 400 Seiten starke Akte mit der Mitteilung, die der Klage zugrundeliegenden Vorgänge seien Gegenstand eines Verfahrens in Israel; deshalb solle das spanische Gericht auf sein Ermittlungsverfahren verzichten.
In der Tat ist der Fall Schehadeh in Israel seit 2002 von mehreren rechtlichen Instanzen – bis hin zur höchsten Instanz, dem Obersten Gerichtshof – begutachtet worden. Aber eine Entscheidung über die Eröffnung eines Verfahrens lässt bis heute auf sich warten.
Gefordert wurde dies zum ersten Mal im September 2002. Damals verlangte die Organisation Jesch Gvul2 vom obersten Militärstaatsanwalt Israels – und später vom zivilen Generalstaatsanwalt – strafrechtliche Ermittlungen gegen die Planer und Ausführenden des Angriffs auf Schehadeh. Eine interne Untersuchung endete mit dem Ergebnis, dass die „Kollateralschäden“ der Operation, also die zivilen Opfer, auf fehlerhafte nachrichtendienstliche Informationen zurückzuführen und deshalb nicht vorauszusehen gewesen seien. Der zivile Generalstaatsanwalt übernahm diese Version.
Ermittlung hinter verschlossenen Türen
Daraufhin forderte Jesch Gvul zusammen mit fünf prominenten israelischen Autoren in ihrem Schreiben vom 30. September 2003 vom obersten israelischen Gerichtshof eine Revision der Entscheidungen: „Der Oberste Gerichtshof ist die letzte Station, bevor (…) andere Staaten legitimiert werden, strafrechtliche Ermittlungen innerhalb ihrer eigenen Grenzen einzuleiten, wie es das internationale Recht vorsieht.“
Zu diesem Zeitpunkt befasste sich der Oberste Gerichtshof bereits mit einem Antrag, die Rechtmäßigkeit gezielter „außergerichtlicher Hinrichtungen“ ganz allgemein zu überprüfen. Der Oberste Gerichtshof beschloss, den Jesch-Gvul-Antrag bis zum Vorliegen dieser übergeordneten Entscheidung zurückzustellen. Diese erfolgte am 14. Dezember 2006. Die Richter befanden, die Politik gezielter Tötungsaktionen sei nicht pauschal als legal oder illegal zu definieren. Über deren Legalität sei vielmehr danach zu entscheiden, ob das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gewahrt wurde.
Der Vorsitzende Richter Aharon Barak schrieb in seiner Begründung: „Nehmen wir den häufigen Fall eines Kombattanten oder eines terroristischen Heckenschützen, der Soldaten oder Zivilisten von einem Balkon aus unter Feuer nimmt. Auf ihn zu schießen, ist eine verhältnismäßige Aktion, selbst wenn dabei unschuldige Zivilisten wie ein Nachbar oder ein Passant zu Schaden kommen. Aber das gilt nicht, wenn man das Gebäude aus der Luft bombardiert und viele seiner Bewohner oder auch Passanten zu Schaden kommen.“
Die Ähnlichkeit weist darauf hin: Ganz zweifellos hatte Barak den Fall Schehadeh im Kopf, da er auch mit diesem Fall befasst war. Seine implizite Aussage lautete eindeutig: Bei der gezielten Tötung von Schehadeh wurde ein Kriegsverbrechen begangen.
Als der Oberste Gerichtshof sich dann am 17. Juni 2007 mit diesem Fall befasste, traf er aber eine andere Entscheidung: Er empfahl, die Affäre Schehadeh von einer objektiven und unabhängigen Instanz untersuchen zu lassen. Am 23. Januar 2008 berief der Ministerpräsident eine Untersuchungskommission, die aus genau drei Mitgliedern besteht: zwei Exgeneräle und ein ehemaliger Geheimdienstoffizier. Sie unterliegt den Regeln für eine interne militärische Untersuchung: Alle Zeugenaussagen, Sitzungen und selbst der Abschlussbericht bleiben vertraulich und können gerichtlich nicht verwendet werden. Ihre Beschlüsse haben lediglich Empfehlungscharakter für die Armee, verbindlich sind sie nicht.
Dass der Oberste Gerichtshof in diesem Fall auf eine eigene Entscheidung verzichtet hat, ist ein ernst zu nehmendes Indiz dafür, dass die höchste rechtliche Instanz Israels kein Urteil fällen darf, aus dem sich eine strafrechtliche Verantwortung der militärischen und politischen Führung für Kriegsverbrechen ergeben könnte.
Diplomatischer Druck gegen universale Gerichtsbarkeit
Nachdem die israelische Akte bei dem Madrider Gericht eingetroffen war, forderte der spanische Generalstaatsanwalt am 2. April 2009, auf die Zuständigkeit für den Fall Schehadeh zu verzichten. Allerdings, das sei an dieser Stelle angemerkt, hätten die Israelis die prioritäre Zuständigkeit für diese Ermittlungen nur dann gehabt, wenn sie tatsächlich willens und in der Lage wären, die Täter auch unter Anklage zu stellen.
Das Madrider Gericht beharrte auf seiner Haltung: Das Vorgehen und die Entscheidungen der israelischen Justizorgane (also von Militärstaatsanwalt, Generalstaatsanwalt, Oberstem Gericht und Untersuchungsausschuss) entspreche nicht dem Erfordernis, dass die Rechte der Kläger durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht effektiv zu wahren sind. Die Entscheidung der israelischen Strafverfolgungsbehörden, das Verfahren als interne Untersuchung des Militärs weiterzuführen, seien nicht als unabhängig und unparteiisch anzusehen. Dasselbe gelte für die vom Regierungschef ernannte Untersuchungskommission, die der Aufsicht durch die Exekutive unterliege. Außerdem seien die israelischen Entscheidungen juristisch schon deshalb mangelhaft, weil ihnen keine detaillierte Würdigung der Fakten zugrunde liege.
Gegen diese Entscheidung des Richters Andreu Mirelles legte der spanische Generalstaatsanwalt unverzüglich Widerspruch ein. In israelischen Medien wurde das ganze Verfahren als zynischer Versuch palästinensischer Kläger dargestellt, mit Hilfe der spanischen Justiz politische Propaganda gegen Israel zu betreiben. Die Regierung erklärte, man werde das Problem auf diplomatischer Ebene lösen. „Ich werde mich an den spanischen Außenminister wenden“, erklärte Verteidigungsminister Ehud Barak, „wenn nötig auch an den spanischen Ministerpräsidenten – mit dem ich im Präsidium der Sozialistischen Internationale sitze –, damit diese Entscheidung revidiert wird.“3
Neben der israelischen Regierung übten auch die Regierungen Chinas und der USA politischen Druck auf Spanien aus.4 Am 19. Mai 2009 verabschiedete das spanische Parlament eine Resolution, die eine Einschränkung des Prinzips der universalen Gerichtsbarkeit fordert. Demnach soll die spanische Justiz sich nur noch mit Fällen befassen, wenn diese entweder einen Bezug – etwa über die Opfer – zu Spanien aufweisen oder wenn sich die Tatverdächtigen auf spanischem Boden befinden.
Eine ähnliche Situation hatte es 2003 in Belgien gegeben, als dort Anklagen gegen den israelischen Regierungschef Ariel Scharon und US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vorlagen. Damals hatten Israel und die USA die belgische Regierung unter Druck gesetzt. Die Bush-Regierung drohte sogar mit dem Abzug des Nato-Hauptquartiers aus Brüssel. Seitdem wurde die Gesetzeslage in Belgien so geändert, dass gerichtliche Ermittlungen gegen Ausländer nur noch vom staatlichen Ankläger – und nicht mehr von Betroffenen – beantragt werden können. Das schränkt die Möglichkeit strafrechtlicher Verfolgungen erheblich ein, da die Anklagebehörde normalerweise im Sinne der Regierung agiert.
Anders lief es in Großbritannien. Nachdem ein Gericht 2005 einen Haftbefehl gegen den israelischen Generalmajor Doron Almog5 erlassen hatte, kündigte Premierminister Tony Blair an, man werde die britische Rechtsgrundlage für die universelle Gerichtsbarkeit ändern. Ein entsprechende Gesetzesinitiative ist jedoch bis heute ausgeblieben.
In Spanien hob eine Berufungsinstanz am 23. Juni 2009 die Entscheidung des Richters Merelles auf und ordnete an, die Ermittlungen seien einzustellen, weil in derselben Sache in Israel ermittelt werde. Auch gegen diese Entscheidung läuft derzeit eine Berufung vor dem obersten spanischen Gericht.
Die Behandlung des Falls in Israel selbst belegt die Existenz einer staatlichen Kultur der Straflosigkeit gegenüber dem eigenen Militär. Denn wie auch immer die Fakten liegen, zu einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren oder gar einer Anklageerhebung wird es kaum kommen.
Die israelische NGO Jesch Din stellt fest, eine Strafverfolgung gebe es nur in Ausnahmefällen, etwa wenn Soldaten sich selbst einer Verfehlung bezichtigen. Die geringe Zahl solcher Verfahren zeige, dass innermilitärische Untersuchungen vor allem dazu dienten, strafrechtliche Ermittlungen zu umgehen.6
Der israelische Oberste Gerichtshof befasste sich vor kurzem mit einem Antrag auf Ermittlungen zu einer israelische Militäroperation, die 2004 im Gazastreifen stattfand und bei der zahlreiche Zivilisten getötet wurden und unverhältnismäßige Schäden an Privateigentum und an der Infrastruktur entstanden. Doch der damit befasste Richter hielt den Antrag offenbar für politisch motiviert, denn er forderte die Antragsteller auf, sich zu Gilad Schalit zu äußern, dem israelischen Soldaten, der seit Juni 2006 von der Hamas als Geisel festgehalten wird.7
In Israel ist man sich der Möglichkeit einer Strafverfolgung im Ausland wohl bewusst. So durften etwa Fotos oder Namen von Soldaten, die an den Aktionen im Gazastreifen beteiligt waren, nicht veröffentlicht werden. Offiziere müssen sich Auslandsreisen erst genehmigen lassen. Außerdem hat die Regierung erklärt, dass sie alle Kosten für juristische Verfahren im Ausland übernimmt.
Die Tatsache, dass man sich der Möglichkeit solcher Verfahren immer stärker bewusst ist, hat aber offenbar keinen Einfluss darauf, wie man in Israel selbst auf den Vorwurf von Kriegsverbrechen reagiert. Das zeigen die offiziellen Reaktionen auf den Fall Schehadeh und auf die jüngsten Anschuldigungen im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg um die Jahreswende 2008/2009.
Wenn Israel selbst in dieser Situation seine Politik der Straffreiheit nicht ändert, ist dies ein weiteres klares Indiz dafür, dass die eigene Justiz nicht bereit oder in der Lage ist, mutmaßliche Kriegsverbrechen zu verfolgen. Wenn dies aber nicht im Land selbst geschieht und andererseits dem Internationalen Strafgerichtshof für solche Ermittlungen die Zuständigkeit fehlt,8 folgt daraus zwingend, dass der Weg über die universelle Gerichtsbarkeit in einem anderen Land als einzige juristische Möglichkeit verbleibt. Und nach den Genfer Konventionen von 1949 sind dazu im Grunde alle Länder verpflichtet.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Sharon Weill ist Mitglied der Akademie für humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte in Genf und lehrt an den Universitäten Tel Aviv und Paris II.