Bündnisse, Morde, Karrieren
Wie Israel versuchte, die Hamas auszuschalten von Adam Shatz
Anfang September 1997 ließ sich Benjamin Netanjahu einen besonderen Film vorführen. Danny Jatom, der Chef des israelischen Geheimdiensts Mossad, präsentierte seinem obersten Dienstherrn eine Folge von Szenen, die in den Straßen von Tel Aviv gedreht waren. Sie zeigten einen simulierten Mordanschlag auf Chaled Meschal, den Leiter des politischen Büros der Hamas in der jordanischen Hauptstadt Amman.
Im Juli und August 1997 waren 21 Israelis bei Selbstmordanschlägen der Hamas umgekommen. Netanjahu wollte Vergeltung. Das mochte zwar den Friedensprozess mit den Palästinensern gefährden, aber dem israelischen Ministerpräsidenten passte das durchaus ins Konzept. Der Chef der im Mai 1996 gewählten Likud-Regierung war – wie die Hamas – ein Feind der Oslo-Verträge, die sein Vorgänger Jitzhak Rabin mit der PLO ausgehandelt hatte. Netanjahu hatte die Lösung nach der Formel „Land gegen Frieden“ mit dem Münchner Abkommen von 1938 und der Appeasementpolitik gegenüber Hitler verglichen.
Aus zwei Gründen hatte Netanjahu aus der Liste möglicher Attentatsziele ausgerechnet Meschal ausgewählt. Erstens stand er im Verdacht, die Serie der Selbstmordattentate koordiniert zu haben, und zweitens war er ein Hamas-Politiker, der die Positionen seiner Organisation wirksam darstellen konnte, sozusagen im westlichen Anzug statt im Gewand des Klerikers. Paul McGeough, der die Geschichte der Mossad-Verschwörung rekonstruiert hat, fasste das Kalkül der israelischen Seite so zusammen: „Meschal war als künftiger Führer der Hamas zu glaubwürdig, wenn nicht gar überzeugend. Er musste ausgeschaltet werden.“1
Es war ein hochriskantes Unternehmen. Israel hatte 1994 einen Friedensvertrag mit König Hussein unterzeichnet und die Ermordung eines palästinensischen Führers in Amman würde garantiert Spekulationen auslösen, ob nicht der Mossad vom jordanischen Geheimdienst GID grünes Licht oder sogar hilfreiche Tipps bekommen habe. Den Israelis war klar, dass man mit einem Freund – oder jedenfalls mit Leuten, die man respektiert – so nicht umgehen konnte. Der Mord an Meschal musste also eine klandestine Aktion sein.
Der Angriff würde nur Sekunden dauern. Ein Agent würde eine Cola-Dose schütteln und mit einem Knall aufploppen lassen, um Meschal abzulenken, dem dann ein zweiter Agent das chemisch modifizierte Schmerzmittel Levofentanyl ins Ohr sprühen sollte. Meschal würde fast nichts spüren; 48 Stunden später würde das Gift seine ebenso tödliche wie spurlose Wirkung entfalten. Als Mossad-Agenten den Anschlag in Tel Aviv probten, sprühten sie nichts ahnenden Fußgängern nur Wasser ins Ohr. Die Videos überzeugten Netanjahu. Jatom bekam grünes Licht.
Die Aktion wurde auch nicht abgeblasen, nachdem König Hussein für die Hamas am 22. September über das geheime Mossad-Büro in der israelischen Botschaft in Amman das Angebot eines zwanzigtägigen Waffenstillstands übermittelt hatte. Drei Tage später standen zwei als kanadische Touristen getarnte Mossad-Agenten vor dem Büro von Meschal, der sich hier wie jeden Morgen gegen zehn Uhr von seinem Chauffeur absetzen ließ.
Der Plan ging fast von der ersten Minute an schief. Meschals Fahrer hatte beim Aussteigen bemerkt, wie sich seinem Chef ein blonder, bärtiger Mann näherte, der ein „bizarres Instrument“ in der Hand hatte. Der Fahrer warf sich dem Fremden entgegen, dem es aber gerade noch gelang, das Gift in Meschals Ohr zu sprühen. Die Angreifer flüchteten in einem Hyundai, verfuhren sich aber im Straßengewirr, verfolgt von Meschals Leibwächtern, die sich in Amman auskannten. Irgendwann sprangen die Flüchtenden aus ihrem Auto und liefen weg. Doch dann gerieten sie ins Getümmel eines Straßenmarkts, wo sie von Meschals Leibwächtern überwältigt, in ein Taxi verfrachtet und zur nächsten Polizeiwache gebracht wurden.
Meschal schien den Angriff zunächst unverletzt überstanden zu haben, aber nach einigen Stunden begann sein Ohr zu dröhnen, er zitterte am ganzen Leib, ihm war plötzlich schwindlig und er fühlte sich erschöpft. Auf dem Transport ins Krankenhaus verlor er das Bewusstsein. Meschal wäre wahrscheinlich gestorben, und die Behauptung der Hamas, es habe sich um ein Attentat gehandelt, wäre von den Jordaniern als absurd zurückgewiesen worden – wäre da nicht Randa Habib gewesen. Der libanesische Journalist steckte die Geschichte der französischen Nachrichtenagentur AFP. Jordaniens Geheimdienstchef General Sami al-Batichi erklärte, es habe sich nur um ein Gerangel zwischen Einheimischen und Touristen gehandelt; später hieß es, der Streit habe mit einem Annäherungsversuch von Meschals Fahrer gegenüber den Kanadiern begonnen.
Die Jordanier waren zu diesem Zeitpunkt tatsächlich skeptisch, und das nicht nur, weil keine Waffen im Spiel waren. Warum, so fragten sie sich, sollte der Mossad seine engen Beziehungen zu den jordanischen Kollegen aufs Spiel setzen? Nur eine Woche zuvor hatte Jatom seinem Kollegen al-Batichi einen informellen Besuch in der GID-Zentrale abgestattet, im Anschluss an einen Kurzurlaub – mit Familie – im Palast des jordanischen Königs am Roten Meer. Und da kam nun die Hamas mit der Anschuldigung, die Israelis hätten etwas getan, was gegen die Osloer Vereinbarungen verstieß. Wenn das zutraf, würden die Jordanier reagieren müssen.
Der GID-Chef, für den die Hamas ohnehin ein Störfaktor war, schenkte dem AFP-Bericht zunächst keinen Glauben. Aber dann erfuhr er aus zuverlässiger Quelle, dass sich zwei an der Rauferei beteiligte Männer in die israelische Botschaft geflüchtet hatten. Als Netanjahu bei König Hussein anrief und ihm ankündigte, Jatom werde nach Amman fliegen, um eine dringende Angelegenheit zu regeln, die „Auswirkungen auf den Friedensprozess haben könnte“, glaubte Hussein zunächst, die Israelis wollten ihre Antwort auf das Waffenstillstandsangebot der Hamas übermitteln. Aber al-Batichi begriff sofort, worum es ging. Er ließ die israelische Botschaft von Soldaten umstellen. Dann bat er den kanadischen Botschafter, die beiden in Amman festgenommenen Männer zu überprüfen, die sich als die Kanadier Shawn Kendall und Barry Beads ausgaben. Der Botschafter brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass sie keine Kanadier waren.
Als Jatom in Amman eintraf, gestand er al-Batichi: „Wir waren es. Wir haben ihn mit einer chemischen Substanz besprüht. Aber ihr könnt nichts mehr tun, er ist vergiftet, nach und nach werden alle seine Körperfunktionen aussetzen, ohne dass es eine erkennbare Todesursache geben wird … Wir sollten jetzt besser über die Konsequenzen sprechen.“
König Hussein war nicht bereit, sich mit den Konsequenzen zu befassen. Später sagte er einmal, er habe sich gefühlt, als hätten die Israelis ihm „ins Gesicht gespuckt“. Hussein hatte der Hamas erlaubt – trotz oder zum Teil auch wegen seiner freundschaftlichen Beziehungen zu Israel –, von Amman aus zu operieren. Denn damit hatte er ein Druckmittel für die Verhandlungen mit Israel und den USA. Außerdem erkannte die Hamas die Legitimität des jordanischen Königs an, die durch die PLO und Arafat potenziell bedroht war.
Die Jordanier hatten für Meschal nicht viel übrig. Al-Batichi hielt ihn für „oberflächlich, aufbrausend und störrisch“. Und Hussein hatte sich dafür eingesetzt, ihn als Hamas-Chef durch den nachgiebigeren Mussa Abu Marsuk abzulösen. Der frühere Chef des Politbüros der Hamas, der zwei Jahre in einem US-Gefängnis auf seine Überstellung nach Israel gewartet hatte, war vier Monate zuvor auf Betreiben Husseins nach Jordanien entlassen worden. Aber Marsuk hatte wegen seiner Nähe zum jordanischen Geheimdienst und seines gemäßigten Auftretens (das ihm den Spitznamen Mr CIA eintrug) in der Hamas viel Rückhalt eingebüßt. Hinzu kamen Gerüchte, dass er aufgrund einer Absprache zwischen Jordanien und Israel wieder Hamas-Chef werden solle.
Nun war es für den jordanischen König plötzlich eine Frage der Ehre, dass Meschal gerettet wurde. Die Situation bot Hussein aber auch Gelegenheit, eine alte Rechnung zu begleichen. Netanjahu war ihm mit so unverhohlener Verachtung begegnet, dass der König ihm im März 1997 geschrieben hatte, er habe den Eindruck, der israelische Regierungschef wolle „alles zerstören, was ich zwischen unseren Völkern mühsam aufgebaut habe“.
Dem war Folgendes vorausgegangen: Im September 1996 hatte Netanjahu das Projekt eines Tunnels unter der Al-Aksa-Moschee abgesegnet und damit gewaltsame Zusammenstöße provoziert, bei denen viele Palästinenser und einige Israelis ums Leben kamen. Außerdem hatte er das Hussein gegebene Versprechen gebrochen, keine neuen Siedlungen in Ostjerusalem zu errichten, und um das Palästinenserviertel Jabal Abu Ghneim jüdische Wohnblöcke hochziehen lassen. In Husseins Augen war der Mordanschlag eine weitere Stufe in Netanjahus Plan, den Oslo-Prozess zu sabotieren und sein eigenes Regime zu destabilisieren, damit in Jordanien ein palästinensischer Staat entstehen konnte – der alte Traum der israelischen Rechten.
Hussein weigerte sich, mit Netanjahu zu sprechen. Stattdessen rief er US-Präsident Clinton an und erklärte ihm: „Wenn Meschal stirbt, stirbt mit ihm der Frieden.“ Man werde die israelische Botschaft stürmen, die in jordanischem Gewahrsam befindlichen Israelis hinrichten lassen und die Beziehungen mit Israel abbrechen. Clinton sagte Hussein zu, Druck auf die Israelis auszuüben, damit sie das Gegenmittel für das Gift, das sie Meschal verabreicht hatten, herausrückten. 48 Stunden nach Jatoms Ankunft in Amman landete ein israelischer Arzt auf demselben Flughafen und überbrachte gerade noch rechtzeitig die für Meschal lebensrettende Substanz. Später flog Netanjahu persönlich nach Jordanien, um sich bei König Hussein zu entschuldigen.
Aber der König gab sich mit dem Gegengift – und der Demütigung Netanjahus – noch nicht zufrieden. Er brauchte einen zusätzlichen Deal, erkannte damals Efraim Halevy, der „Vater“ des Friedensvertrags mit Hussein und damals Vizechef des Mossad.2 Wenn der König den nicht bekam, würden die in Amman gefassten Mossad-Agenten nie nach Hause zurückkehren. Halevy schlug vor, den Hamas-Gründer Scheich Ahmed Jassin freizulassen. Der gelähmte Geistliche war in Israel zu lebenslanger Haft verurteilt und hatte bereits acht Jahre abgesessen.
Der Vorschlag war „politischer Sprengstoff“, wie es ein US-Diplomat ausdrückte. Denn die Rückkehr Jassins nach Gaza musste der Hamas Auftrieb geben und Israels „Friedenspartner“ Arafat schwächen. Der PLO-Chef bekundete zwar öffentlich seine Freude über die Freilassung des Scheichs, aber in Wirklichkeit war er außer sich: Nicht nur, dass Hussein damit einen politischen Erfolg verbucht hatte. Schlimmer war für Arafat, dass ihm der Scheich die PLO-Führung streitig machen und seine Verhandlungen mit Israel unterminieren konnte. „Warum soll ich den Preis für diese Geschichte bezahlen?“, beklagte er sich gegenüber Clintons Nahost-Sonderbeauftragten Dennis Ross.
Kurz nachdem die Jordanier Meschal gerettet hatten, sprachen hohe Besucher aus Amman mit Clinton über den Fall. Es war „ein außergewöhnlicher Moment im Leben des Chaled Meschal“, schreibt McGeough, „auch wenn er selbst bei dem Treffen nicht dabei war. Damit war offiziell anerkannt, dass Meschal und seine Bewegung fortan eine Schlüsselrolle spielen.“
Für die Hamas wendete sich damit das Blatt. 1997 war für die Organisation nach Einschätzung eines einflussreichen Regierungsvertreters in Washington „ihr schlimmstes Jahr“ – bis der Mossad-Anschlag in Amman in die Hose ging. Bis dahin waren die wichtigsten Hamas-Führer, Marsuk und Jassin, hinter Gittern, und hunderte weitere waren von Arafats Geheimpolizei verhaftet worden. Dieser „Präventivsicherheitsdienst“ – sein Leiter in Gaza war Mohammed Dahlan – wandte Methoden an, bei denen manche Hamas-Häftlinge sich nach ihren israelischen Gefängniswärtern zurücksehnten.
Nun war Marsuk wieder in Amman und Scheich Jassin, die Ikone des palästinensischen Widerstands, zurück in Gaza. Marsuk versuchte, seine alte Position zurückzuerobern, aber gegen den „Märtyrer, der nicht gestorben war“, hatte er keine Chancen. McGeough zitiert einen jordanischen Journalisten mit dem Satz: „An dem Tag, an dem sie ihn zu töten versuchten, wurde der politische Führer Meschal geboren. Aber es war zugleich der politische Tod des Abu Marsuk. Niemand wollte mehr mit ihm reden – es hieß immer nur Meschal, Meschal, Meschal.“
Ob die Meschal-Affäre wirklich der große Wendepunkt im israelisch-palästinensischen Konflikt ist, als den McGeough ihn darstellt, sei dahingestellt. Aber sie hatte ganz gewiss weitreichende Folgen. Jetzt, zwölf Jahre später, ist Meschal der politische Chef der Hamas in Damaskus, und Netanjahu, der Meschals Ermordung angeordnet hatte, erneut in Jerusalem an der Macht. Die islamische Widerstandsbewegung Hamas3 kontrolliert den Gazastreifen. Sie hat die Gefängnisse des israelischen Militärs und der Palästinensischen Autonomiebehörde ebenso überlebt wie die erbarmungslose Abriegelung von Gaza, die internationale Isolation, die „gezielte“ Ermordung vieler ihrer Führer, einen von Washington unterstützten Putsch und eine militärische Invasion der Israelis. Und obwohl weder die USA noch die EU mit Meschal sprechen – weil sie die Hamas nach wie vor als terroristische Organisation einstufen –, genießt dieser den Respekt einer wachsenden Zahl westlicher Politiker, darunter Expräsident Jimmy Carter.
Der heute 53-jährige Meschal wurde in Silwad, einem Dorf im Westjordanland geboren, aus dem seine Familie 1967 nach der Besetzung durch die israelische Armee nach Jordanien flüchtete, um später nach Kuwait weiterzuziehen. Dort schloss er sich als 15-Jähriger den Muslimbrüdern an. Nachdem er als Student an der Universität Kuwait 1980 die Islamische Liga palästinensischer Studenten gegründet hatte, entwickelte er mit seinen Gesinnungsgenossen die Idee einer „islamischen Alternative“ zur Fatah des Jassir Arafat. 1983 trugen sie ihre Pläne einer Versammlung der Muslimbrüder in Amman vor.
Die PLO hatte damals – nach der Vertreibung von Arafat und seinen Kämpfern aus dem Libanon – ein neues „Exil“ in Tunis gefunden. Meschal sah die Zeit für einen Frontalangriff auf Arafat gekommen. Die Muslimbrüder ließen sich überzeugen und machten Meschal zum Leiter des Dschihad-Filastin, einer Organisation, die von Kuwait aus militärische Operationen in den besetzten Gebieten organisierte. Seine Aufgabe bestand unter anderem darin, in den Golfstaaten Geld zu sammeln, mit dem Ausbildungslager für militante Anhänger Jassins in Jordanien finanziert wurden. Als die Israelis 1984 über Informanten von diesen Aktivitäten erfuhren, stellten sie Jassin unter die Anklage, die Vernichtung des jüdischen Staats anzustreben, und verurteilten ihn zu lebenslanger Haft.
Die Nachricht, dass Jassin mit der Ausbildung bewaffneter Kämpfer zu tun hatte, war für viele Israelis ein Schock. Noch heute behaupten Mossad-Leute, in Wahrheit seien diese Waffen gegen die Fatah gerichtet gewesen. Denn seit Beginn ihrer Besetzung des Gazastreifens hatten die Israelis im Kampf gegen den palästinensischen Nationalismus auf gute Beziehungen zu Jassin gesetzt, so ähnlich wie die USA in Afghanistan die Mudschaheddin unterstützt hatten. Der Scheich, der vor 1967 in ägyptischen Gefängnissen gesessen hatte, machte aus seinem Hass auf Israel kein Hehl, glaubte aber als Muslimbruder, die Palästinenser müssten, ehe sie den bewaffneten Befreiungskampf aufnehmen könnten, erst eine „ideologische, spirituelle und psychologische Umerziehung“ absolvieren. Und während säkulare Nationalisten Streiks und Guerilla-Aktionen gegen die Besatzung organisierten, beschränkte sich Jassin auf soziale Aktivitäten und religiöse Unterweisung.
Dass diese „Umerziehung“ als Vorbereitung für den Dschihad gedacht war, nahmen die Israelis nicht zur Kenntnis. Für sie war der Scheich ein taktischer Verbündeter gegen die PLO. Zu Beginn der 1970er-Jahre, als die Israelis auf das kleinste Anzeichen nationalistisch motivierten Widerstands mit harter Repression reagierten, konnte Jassin ein Islamisches Zentrum gründen. Unter dessen Dach gab es nicht nur eine Moschee, sondern auch ein Krankenhaus, einen Kindergarten, eine Festhalle und ein Almosenkomitee, über das der Scheich mit Duldung der Besatzungsmacht beträchtliche Spendensummen aus den Golfstaaten bezog.
Mitte der 1980er-Jahre brachte der Militärgouverneur von Gaza das Verhältnis zwischen Israel und Scheich Jassin auf den Punkt: „Die israelische Regierung gibt mir ein Budget, und die Militärregierung gibt es an die Moscheen weiter.“ Und 1985 meinte Daniel Kurtzer, ein Mitarbeiter der US-Botschaft in Tel Aviv, nach einer Reise durch den Gazastreifen empört zu Beratern des damaligen Ministerpräsidenten Schimon Peres: „Habt ihr den Verstand verloren? Seid ihr überhaupt in der Lage, aus der Geschichte zu lernen? Ist euch bewusst, was ihr in Gaza macht, während wir hier reden? Glaubt ihr im Ernst, ihr könntet diese Leute zähmen?“
Als Islamisten aus Gaza ihren Brüdern im Westjordanland während ihrer Auseinandersetzungen mit der Fatah zu Hilfe kommen wollten, ließen die Israelis sie durchreisen. Einer der Verantwortlichen meinte damals: „Sie werden sich ja nur gegenseitig die Köpfe einschlagen.“ In Wirklichkeit zogen Jassin und andere Islamisten in den besetzten Gebieten aus den revolutionären islamischen Kämpfen im Iran, in Afghanistan und im Libanon dieselbe Lehre wie zuvor Meschal und seine Gefährten in der palästinensischen Diaspora: Statt auf die abwägende Haltung der Muslimbrüder setzte man jetzt auf das Gewehr. Die Gründungserklärung der Hamas von 1988 bekennt sich zum Bestreben, „die Fahne Allahs über jedem Quadratzentimeter von Palästina hochzuziehen“. Und sie bezeichnet das zionistische Projekt als eine jüdische Verschwörung, die schon mit der Französischen Revolution begonnen habe und seitdem das Ziel verfolge, die Weltherrschaft zu erringen.
Auch in der Anfangsphase der ersten Intifada hielten die Israelis an ihren besonderen Beziehungen zur Hamas fest. Ihre Repression richtete sich vor allem gegen die weltliche Führung der Intifada. Die Islamisten hingegen durften weiter Geld aus dem Ausland beziehen. Dank dieser Zahlungen – die über bestimmte Wohlfahrtsorganisationen in Europa, den USA und den Golfstaaten flossen – konnte die Hamas ihren Einfluss erheblich ausweiten und ein ganzes Netz von Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern und Sportvereinen aufbauen.
1990 ging Meschal mit seiner Familie nach Amman. Wie viele seiner Landsleute musste er aus Kuwait fliehen, nachdem Arafat die Invasion Saddam Husseins gutgeheißen hatte. Die Sicherheit der 400 000 Palästinenser, die sich eine Existenz in dem Golfstaat aufgebaut hatten, war damit ebenso gefährdet wie die Finanzquellen der PLO.
Weil Arafat sich zum Polizisten der Israelis machte
Für die Hamas war Arafats Fehler ein Geschenk des Himmels. Denn von nun an stellten die reichen Potentaten der Golfstaaten ihre Schecks auf die Hamas aus, die Saddams Überfall auf Kuwait verurteilt hatte. Arafat geriet in Bedrängnis. Finanziell am Ende und verzweifelt bemüht, aus seiner politischen Isolation herauszukommen, ließ er sich vorschnell – und allen Warnungen zum Trotz – auf den Oslo-Prozess ein. Im September 1993 unterzeichnete er die Vereinbarungen, die ihn zum Polizisten der Israelis machten, aber weder den Stopp des israelischen Siedlungsbaus noch die Schaffung eines souveränen Palästinenserstaats sicherstellten.
Dass die Islamisten zur wichtigsten Oppositionskraft in Palästina wurden, lag zu einem wesentlichen Teil an der Enttäuschung über das Oslo-Abkommen und der verbreiteten Unzufriedenheit mit Arafat und seinen „Tunesiern“, die nach ihrer Rückkehr aus dem Exil die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) in Beschlag nahmen. Dabei verdankte die Hamas ihre Popularität weniger ihrer islamischen Prinzipienstrenge als der Tatsache, dass sie nicht korrupt war und den Israelis gegenüber unnachgiebig blieb.
Seit 1992 baute die Hamas auch eine militärische Unterorganisation auf, die sogenannten Kassam-Brigaden. Die begannen 1994, nach dem Massaker von Hebron, bei dem der jüdische Siedler Baruch Goldstein 29 Palästinenser erschossen hatte, mit ihrer grausamen Serie von Selbstmordattentaten in Israel. Wo ein Gleichgewicht der Kräfte mit Israel unmöglich war, meinten Meschal und seine Leute vielleicht ein Gleichgewicht der Angst herstellen zu können. Als Arafat brutal gegen die Hamas vorging, lobten ihn die USA und Israel als „Friedenspartner“. Doch bald musste er feststellen, dass die Unterdrückung der Hamas ihren Preis hatte. Sie kostete ihn seine eigene Legitimität.
Während der ersten Intifada arbeitete Meschal für das politische Büro der Hamas, ohne hinter Abu-Marsuk groß in Erscheinung zu treten. Tatsächlich war er als Chef des palästinensischen Apparats und eines von drei Mitgliedern des militärischen Komitees, das die Kassam-Brigaden befehligte, schon damals die mächtigste Figur in der Hamas. Dann hatte er auch noch Glück. Ende Juli 1995 reiste Marsuk in die USA. Sechs Monate zuvor hatte die Clinton-Regierung die Hamas auf die Liste „terroristischer Organisationen“ gesetzt. Als er einen Tag nach einem Selbstmordattentat bei Tel Aviv in New York eintraf, wurde er vom FBI festgenommen. Während der zwei Jahre, die er in einem US-Gefängnis saß, rückte Meschal an die Spitze des politischen Büros vor. Als Marsuk 1997 nach Jordanien zurückkehrte, fand er seinen Posten besetzt.
Das Attentat von Amman hatte Meschal, wie er selbst sagte, „ein neues Leben für eine neue Rolle“ geschenkt. 1999 wurde er jedoch von Husseins Nachfolger, König Abdullah, ausgewiesen und ließ sich in Damaskus nieder. Für die Syrier war die Hamas – wie die libanesische Hisbollah – eine Karte, die sie nutzen wollten, um die Golanhöhen zurückzugewinnen. Als Gegenleistung schützte das Assad-Regime seinen Gast vor den Israelis, die seit Beginn der zweiten Intifada viele Hamas-Leute umgebracht hatten, darunter Scheich Jassin, den sie am 22. März 2004 aus einem Kampfhubschrauber erschossen.
Nach dem Tod des Scheichs wurde Meschal zum unumstrittenen Führer der Hamas. Als dann im November 2004 auch noch Arafat starb, trieb die Fatah unter dem kraftlosen Mahmud Abbas orientierungslos dahin. Die führende Rolle in der palästinensischen Politik übernahm jetzt endgültig die Hamas.
Meschal wird häufig als der „Hardliner in Damaskus“ dargestellt – in Kontrast zu den „gemäßigten“ Hamas-Führern im Gazastreifen. McGeough hingegen, der sich viele Stunden mit ihm unterhalten hat, sieht Meschal als das „pragmatische Zentrum“ seiner Partei, engagiert in der Sache, aber kein Fanatiker. Als Meschal 2006 für die Teilnahme an den Wahlen im Gazastreifen warb, versprach das Wahlprogramm der Hamas vor allem eine nicht korrupte und transparente Regierung; von einem islamischen Staat war nicht die Rede.
Im Wahlkampf engagierte sich Meschal mit Reden, die auf Kundgebungen per Handy aus Damaskus übermittelt wurden. Auf den Wahlsieg der Hamas reagierten dieselben westlichen Mächte, die den Palästinensern die Demokratie aufgedrängt hatten, mit einem diplomatischen Boykott. Und mit der weiteren Unterstützung von Abbas, die dazu beitrug, den Bürgerkrieg zwischen Fatah und Hamas zu entfachen.
Der Westen begründet seine Haltung mit der Weigerung der Hamas, auf Gewaltanwendung zu verzichten, den Staat Israel anzuerkennen und sich an die früheren Vereinbarungen zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde zu halten. Nach Ansicht Meschals würde sich eine Hamas, die diese drei Bedingungen erfüllt, kaum noch von der Fatah unterscheiden, die für ihre Nachgiebigkeit in diesen drei Punkten keine Gegenleistung erhalten habe – außer einem sich endlos hinziehenden „Friedensprozess“. Meschal glaubt zudem, dass Israel seine Siedler niemals aus dem Gazastreifen zurückgeholt hätte, wenn die Kassam nicht den Süden Israels mit Raketen beschossen hätte. Also werde man den bewaffneten Kampf bis zum Ende der Besetzung fortsetzen. Aber die Hamas praktiziert nicht Gewalt um der Gewalt willen. Und von israelischer Seite wird zugegeben, dass die Hamas ihre Waffenstillstandszusagen gewissenhafter einhält, als Arafat es getan hat.
Meschal ist auch nicht bereit, das „Existenzrecht“ Israels formell anzuerkennen. Etwas anderes wäre für ihn eine De-facto-Anerkennung. Schließlich hat er sich schon mehrmals für einen Waffenstillstand von 20 bis 30 Jahren ausgesprochen. Aber bevor es einen palästinensischen Staat gibt – der ja eine parallele Anerkennung des palästinensischen Rechts auf Selbstbestimmung durch Israel bedeuten würde – und eine Lösung für die Flüchtlingsfrage gefunden ist, kommt für Meschal eine Anerkennung des jüdischen Staats nicht in Frage. Und was die früheren israelisch-palästinensischen Vereinbarungen betrifft, hat er schon 2007 erklärt, er fühle sich an diese nicht gebunden, wolle sie aber „respektieren“. Zudem verwies er darauf, dass es nicht auf die Worte, sondern auf die Taten der Hamas ankomme: „Achtet lieber auf das, was wir tun, und nicht auf das, was wir sagen.“
Meschal und seine Umgebung sehen im Nebeneinander von zwei Staaten gewiss keine dauerhafte Lösung, aber sie sind Realisten. Und sie sind bereit, sich mit der Zweistaatenlösung zu arrangieren – unter zwei Voraussetzungen: Sie darf nicht auf eine Kantonisierung des palästinensischen Territoriums hinauslaufen; und sie darf nicht, wie es Abbas und dem Westen am liebsten wäre, dem Zweck dienen, die Hamas auszuschließen. Die Hamas will an einer Verhandlungslösung beteiligt werden. Wird ihr das nicht zugestanden, wird sie die Rolle des Spielverderbers spielen, und das kann sie erwiesenermaßen sehr gut.
Wird die Obama-Regierung die Hamas als Gesprächspartner akzeptieren? Das sei nur „eine Frage der Zeit“, meinte Meschal gegenüber der italienischen Tageszeitung La Repubblica im März dieses Jahres. Vorausschauende Köpfe in regierungsnahen US-Thinktanks wissen durchaus, dass man die Hamas früher oder später einbinden muss. Denn Abbas allein kann ein Abkommen nicht durchsetzen, dazu hat er einfach zu wenig Rückhalt unter den Palästinensern. Und sollte die Hamas zerschlagen werden, dürfte das nicht der Fatah zugutekommen, sondern eher dschihadistischen Extremisten.4
Im März 2009 riet eine Gruppe wichtiger US-Politiker beider Parteien5 Obama dringend zu Gesprächen mit der Hamas. George Mitchell, der Nahost-Beauftragte Obamas und ehemaliger Vermittler im Nordirland-Konflikt, scheint zwar noch nicht gewillt, mit Chaled Meschal zu reden. Doch dieser gibt zu bedenken: „Hätte Mitchell in Belfast Erfolg gehabt, wenn er die Anweisung bekommen hätte, die IRA zu ignorieren?“
Die Hamas ist fest im gesellschaftlichen und politischen System der Palästinenser verankert, weder militärische Gewalt noch diplomatische Isolierung wird sie zum Verschwinden bringen. Wie ihre Geschichte zeigt, hat sie sich beharrlich und wider alle Erwartung behaupten können. Und alle Versuche, sie zu zerschlagen, haben sie nur stärker gemacht. Das weiß niemand besser als der gegenwärtige israelische Regierungschef. Der hat es heute, zwölf Jahre nach dem Debakel von Amman, wieder mit dem Mann zu tun, der nicht zum Märtyrer werden sollte.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Adam Shatz ist Redakteur bei der London Review of Books. © London Review of Books, für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin