Anpacken, und zwar sofort
Globale Antworten auf eine globale Rezession von Joseph E. Stiglitz
Was wir derzeit erleben, ist nicht nur die schlimmste globale Wirtschaftskrise seit 1945, sondern auch der erste schwere Einbruch der internationalen Konjunktur im Zeitalter der Globalisierung. Die Finanzmärkte der USA haben in ihrer zentralen Aufgabe, für rationales Risikomanagement und optimale Kapitalallokation zu sorgen, himmelschreiend versagt. Aber auch die Globalisierung hat anders funktioniert als erwartet, hat sie doch mitgeholfen, die Auswirkungen dieses Versagens über die ganze Welt zu verbreiten.
Der 11. September 2001 hat uns gelehrt, dass die Globalisierung nicht nur die grenzüberschreitende Verbreitung von guten, sondern auch von schlechten Dingen erleichtert. Der 15. September 2008 – der Crash an der Wallstreet – hat diese Lehre dick unterstrichen.
Ein globaler Konjunktureinbruch erfordert eine globale Antwort. Aber unsere Reaktionen – im Sinn einer Stimulierung und Regulierung der Wirtschaft – nehmen häufig zu wenig Rücksicht auf die Auswirkungen für andere Länder. Die ökonomischen Programme sind nicht nur unzureichend koordiniert, sondern auch zu klein dimensioniert und nicht optimal angelegt. Mit der Folge, dass der Abschwung länger andauern und der Aufschwung langsamer vonstatten gehen wird. Es wird also mehr unschuldige Opfer geben, zu denen viele Entwicklungsländer gehören – darunter auch Länder, die ihren Finanzsektor wirksamer reguliert und eine weit bessere makroökonomische Strategie verfolgt haben als die USA und einige europäische Länder.
In den USA hat die Krise im Finanzsektor eine Krise der Realwirtschaft ausgelöst, in vielen Entwicklungsländern führte umgekehrt die Wirtschaftskrise zur Finanzkrise. Auch deshalb darf man jetzt mit der Globalisierung nicht einfach weitermachen wie gehabt. Doch was die G-20-Staaten auf ihrem Londoner Treffen vom April 2009 formuliert haben, war höchstens ein allererster Schritt. Ihr Krisenpapier enthielt keine langfristiges Restrukturierungsstrategie, um die nächste Krise zu verhindern.
Es ist daher verständlich, dass viele der 173 Länder außerhalb der G 20 dagegen sind, dass ein exklusiver Klub, der sich durch Kooptation erweitert und über keine politische Legitimation verfügt, Entscheidungen trifft, die das Leben ihrer Bürger beeinflussen. Einige der G-20-Staaten – auch solche, die mit der Erweiterung der G 8 neu dazugekommen sind – würden am liebsten alles beim Alten lassen. Sie sind froh, selbst zum inneren Kreis zu gehören, und argumentieren, dass eine Erweiterung die Dinge nur zusätzlich komplizieren würde. Und von den reichen Industrieländern wollen viele allzu harsche Kritik an ihren Banken und an den internationalen Wirtschaftsinstitutionen wie dem IWF vermeiden, die nicht nur die Krise nicht verhindert, sondern sogar die Deregulierungspolitik durchgesetzt haben, die maßgeblich zu der Krise und ihrer raschen Globalisierung beitrug.
Nun mögen die USA finanziell in der Lage sein, ihre Banken zu retten und ihre Volkswirtschaft anzukurbeln, aber die Entwicklungsländer sind es nicht. Andererseits waren gerade sie in jüngster Zeit ein wichtiger Motor für das weltweite Wirtschaftswachstum. Deshalb ist heute eine globale Erholung ohne deren Mitwirkung kaum denkbar.
Mittlerweile ist es allgemein Konsens, dass alle Regierungen ihre Wirtschaft massiv ankurbeln sollten, aber schon in den Industriestaaten geht die Sorge um, wie die jetzt aufgehäuften Schulden abgetragen werden sollen. Erst recht können die neuen Schulden in den ärmeren Ländern, die noch immer unter den Folgen der alten Schuldenkrisen leiden, die öffentlichen Haushalte übermäßig belasten. Sie müssen deshalb mit Subventionen und nicht nur mit neuen Krediten unterstützt werden.
In der Vergangenheit hat der IWF seine Finanzhilfen stets mit „Bedingungen“ verknüpft. Oft verlangte er von den betreffenden Ländern, ihre Leitzinsen stark (manchmal sehr stark) anzuheben und die staatlichen Haushaltsdefizite mittels Ausgabenkürzungen und/oder Steuererhöhungen zu reduzieren – also genau das Gegenteil dessen, was in den USA und in Europa praktiziert wurde. Dadurch wurden diese Volkswirtschaften geschwächt, obwohl sie durch die IWF-Hilfe doch gerade hätten gestärkt werden sollen. Derartige Auflagen sind kontraproduktiv, deshalb sollte man den internationalen Institutionen, die solche Hilfen an Entwicklungsländer vergeben, selbst zur Auflage machen, von solchen Auflagen abzusehen.
Des Weiteren sollten sich die entwickelten Länder verpflichten, von ihren eigenen Konjunkturprogrammen jeweils ein Prozent für die Entwicklungsländer abzuzweigen. Diese Mittel sollten über unterschiedliche Kanäle verteilt werden, zum Beispiel über regionale Institutionen und vielleicht auch über einen zu schaffenden Kreditfonds, in dessen Leitungsgremien die neuen potenziellen Geberländer (aus Asien und Nahost) wie auch die Empfängerländer stärker vertreten sind.
Rettungspakete zu Lasten der armen Länder
Zwar hat die G 20 erhebliche Anstrengungen unternommen, das Kreditprogramm des IWF auszuweiten, etwa mittels neuer „Sonderziehungsrechte“ (bis zur Höhe von 250 Milliarden Dollar). Doch von diesen Geldern wird am Ende zu wenig in den ärmsten Ländern ankommen.
Eine effektivere Maßnahme wäre, Entwicklungsländer vor protektionistischen Maßnahmen der reichen Länder zu schützen. Ein Beispiel: Die USA haben in ihre Konjunkturpakete eine „Buy American“-Klausel eingebaut, von der aber die meisten Industrieländer nicht betroffen sind, weil ein WTO-Abkommen sie gegen die Benachteiligung bei der Vergabe von Regierungsaufträgen schützt. Es läuft also darauf hinaus, dass die ärmeren Länder diskriminiert werden.
Die Bedingungen eines freien und fairen Handels werden auch durch Subventionen und Zölle verzerrt, wobei Subventionen die Entwicklungsländer härter treffen, da sie sich selbst keine leisten können. Die massiven staatlichen Garantien und Rettungspakete, die man in den USA und anderen reichen Ländern für bestimmte Unternehmen beschlossen hat, verschaffen diesen einen unfairen Wettbewerbsvorsprung. Für Firmen aus ärmeren Ländern ist es ohnehin schwer, mit kapitalstarken US-Unternehmen zu konkurrieren, aber noch viel schwerer ist es, gegen Washington anzutreten. Es ist zwar verständlich, dass die reichen Länder solche Subventions- und Rettungsprogramme beschließen, aber die negativen Folgen für die Entwicklungsländer müssen mit bedacht werden.
Auch für die Schaffung eines wirksamen Aufsichts- und Regulierungssystems ist globale Zusammenarbeit nötig. Dabei ist von folgenden zehn Punkten auszugehen, die unter internationalen Experten unstrittig sind.
1. Auslöser der Krise waren exzessive Deregulierungsmaßnahmen und die unvollständige Anwendung der bestehenden Regelungen.
2. Eine Selbstregulierung des privaten Sektors reicht nicht aus.
3. Nötig sind staatliche Maßnahmen, denn das Versagen großer Finanzinstitutionen oder des gesamten Finanzsystems kann „externe“ Folgen haben, die zu Lasten von Arbeitern, Hausbesitzern und Steuerzahlern in aller Welt gehen.
4. Mehr Transparenz ist erforderlich, um eine hinreichende Einschätzung der Risiken zu ermöglichen (was allerdings bei komplexen Finanzderivaten unmöglich sein dürfte).
5. Die Fehlleistungen der Banken wurden ermöglicht durch perverse Anreize für die Finanzakteure zu riskanten Anlagen und zu Entscheidungen, ohne die langfristigen Folgen zu bedenken.
6. Die pervertierten Anreizstrukturen gehen auch auf Fehlleistungen der Führungsebene in den Unternehmen zurück.
7. Ähnliches gilt für die Tatsache, dass viele Banken als „too big to fail“ (zu groß zum Scheitern) gelten. Die Folge ist: Wenn sie im Spekulationskasino gewinnen, sacken sie das Geld ein, wenn sie verlieren, trägt der Steuerzahler die Verluste.
8. Ohne umfassende und weltweite Regulierung kommt es zum „negativen Wettbewerb“ zwischen Ländern, die Finanzunternehmen durch ein mildes Kontrollregime anlocken wollen.
9. Tritt dieser Fall ein, müssen die Länder Maßnahmen zum Schutz ihrer Volkswirtschaften ergreifen, damit ihre Bürger nicht durch die üblen Praktiken anderer Länder geschädigt werden.
10. Die Regulierung muss ausnahmslos alle finanziellen Institutionen erfassen. Denn wenn nur das offizielle Bankensystem – und nicht auch das Schattenbanksystem – reguliert wird, wandern die Unternehmen dahin ab, wo es weniger strenge Regeln und weniger Transparenz gibt.
Obwohl diese zehn Punkte weithin unstrittig sind, hat die G 20 über einige der wichtigsten Problemfelder nichts oder nur wenig gesagt. Zum Beispiel über die Frage, was mit Banken geschehen soll, die „zu groß zum Scheitern“ sind. Konkret: Wenn die Anteilseigner dieser Banken vor jedem Risiko geschützt sind, wie soll dann die disziplinierende Macht des Marktes zur Geltung kommen? Und wenn die Marktdisziplin nicht wirkt, was soll dann an ihre Stelle treten?
Die G 20 hat unter anderem ein paar längst überfällige Maßnahmen gegen Zentren von Offshore-Banking-Geschäften angekündigt. Dass über solche Zentren weitreichende Finanzgeschäfte laufen, hat nichts mit der Qualität der örtlichen Bankleistungen zu tun; es geht einzig und allein um Steuerflucht und Geldwäsche. Solche windigen Finanzplätze sind ganz gewiss ein Problem, aber für die aktuelle Krise von untergeordneter Bedeutung.
Wenig getan hat die G 20 in der Frage des Bankgeheimnisses, und die ist für Entwicklungsländer weit wichtiger: Geheime Bankkonten begünstigen die Korruption – deretwegen Entwicklungsländer ja so häufig kritisiert werden –, denn sie dienen gestohlenen Staatsgeldern als Zuflucht. Viele Entwicklungsländer fordern solche Gelder zurück und brauchen Informationen, um sie aufzuspüren.
Die Weltwirtschaftskrise hat die Mängel der etablierten internationalen Institutionen ans Licht gebracht. Der IWF oder das Forum für Finanzstabilität (Financial Stability Forum, FSF), das im Gefolge der globalen Finanzkrise von 1997/98 auf Initiative der damaligen G 7 entstanden ist, haben teilweise sogar politische Strategien gefördert, die inzwischen als eine der Wurzeln des Übels identifiziert wurden. Wenn das System der Weltwirtschaft also besser funktionieren soll, brauchen wir bessere Systeme im Sinne einer globalen Wirtschaftspolitik.
Wichtig ist dabei, über Ad-hoc-Vereinbarungen hinaus zu umfassenderen und repräsentativeren institutionellen Strukturen zu kommen. Zum Beispiel in Gestalt eines globalen ökonomischen Koordinationsrats im Rahmen der Vereinten Nationen, der nicht nur die Wirtschaftspolitiken der einzelnen Länder zu koordinieren, sondern auch die Defizite und strukturellen Mängel der globalen Wirtschaftsinstitutionen festzustellen und zu korrigieren hätte.
Das ist keine rein abstrakte Forderung: Diese Krise wird mit großer Wahrscheinlichkeit zu mehreren Fällen von Staatsbankrott führen. 2001 hat der argentinische Staatsbankrott bereits umfassende Diskussionen ausgelöst, die aber brachten keinerlei Fortschritt in Richtung eines internationalen Mechanismus zur Bewältigung einer solchen Schuldenkrise. Der IWF kann ein solches Instrumentarium nicht aufbauen, da er von den Gläubigerländern dominiert wird. Das wäre so, als würde man in den USA die Banken beauftragen, ein anständiges Insolvenzgesetz zu formulieren.
Seit Beginn der Krise wurden mehrere überschuldete internationale Großbanken auf Staatskosten gerettet – anstatt sie zu weitreichenden Umstrukturieren zu zwingen, wie es den Marktregeln entsprochen hätte.1 Gerechtfertigt wurde dieses „systemwidrige“ Vorgehen unter anderem damit, dass größere Komplikationen der internationalen Finanzbeziehungen vermieden werden sollten. Welche Dimensionen solche grenzübergreifenden Probleme annehmen können, hat der Fall Island gezeigt. Die Insolvenz der isländischen Banken und die Entscheidung der Regierung in Reykjavík, die Verantwortung dafür zu übernehmen, wird den Lebensstandard der isländischen Bürger womöglich auf Jahrzehnte hinaus beeinträchtigen.
Von überragender Bedeutung wäre auch eine Reform des globalen – heute noch auf dem Dollar basierenden – Finanzsystems, wie sie auch die von den UN berufene Beraterkommission fordert.2 Diese plädiert für eine neue globale Reservewährung, da das alte System selbst zu einer Ursache der unzureichenden weltwirtschaftlichen Gesamtnachfrage und damit der globalen Instabilität geworden ist. Heute müssen die Entwicklungsländer Jahr für Jahr etliche hundert Milliarden Dollar beiseite legen, um sich gegen diese Instabilität zu schützen, deren Auswirkungen sich in der Ostasienkrise von 1997 deutlich gezeigt haben.
Die Kommission hat überzeugend dargelegt, dass wir dieses Problem anpacken müssen, wenn wir einen robusten globalen Wirtschaftsaufschwung erreichen wollen. Unterstützt haben diese Empfehlung der UN-Kommission auch jüngste Verlautbarungen der Bric-Länder (Brasilien, Russland, Indien und China), die ebenfalls Bedenken gegen die Rolle des Dollar als globaler Reservewährung formulierten. Es hat ganz den Anschein, als sei die Zeit für eine Idee gekommen, die Keynes schon vor mehr als 60 Jahren formuliert hat.
Allerdings wird den bekannten Kreisen, die am liebsten einfach zu den Zuständen vor dem Ausbruch der Krise zurückkehren würden, bei einigen der auf dem UN-Gipfel aufgeworfenen Fragen nicht wohl sein. Sie würden sich lieber mit ein paar harten Worten über Steuerparadiese und Auflagen für die Hedgefonds begnügen, plus einer neuen Bezeichnung – und ein paar neuen Mitgliedern – für das Forum für Finanzstabilität.
Aber das reicht natürlich nicht aus. Die entwickelten Länder müssen bei ihren Bemühungen um die Belebung der Wirtschaft die Auswirkungen auf die Entwicklungsländer mit bedenken. Die Strukturen unseres globalen Wirtschafts- und Finanzsystem müssen von Grund auf verändert werden, um die Früchte des Wohlstands gerechter zu verteilen und das System insgesamt stabiler zu machen. Diese Aufgabe lässt sich nicht von heute auf morgen bewältigen, aber wir müssen sie anpacken, und zwar sofort.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Joseph E. Stiglitz lehrt an der Columbia University. Für seine Studien über die Informationsökonomie erhielt er 2001 den Nobelpreis für Wirtschaft. © Le Monde diplomatique, Berlin