11.09.2009

Kavaliersdelikte für alle

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Kavaliersdelikte für alle

Berlusconis Pakt mit seinen Italienern von Carlo Galli

Der politische Erfolg Silvio Berlusconis kam nicht wie ein Blitz aus dem heiteren Himmel der italienischen Geschichte. Es handelt sich nicht um ein Ufo, das in einer intakten Demokratie mit einem transparenten und funktionierenden Markt gelandet ist. Berlusconis Erfolg ist vielmehr das Ergebnis ihres Niedergangs und ihrer Erstarrung, und er ist sowohl der Garant dafür, dass sich dieser Niedergang fortsetzen wird, als auch, zumindest teilweise, deren Ursache.

Seit 1978, als Aldo Moro von den Roten Brigaden ermordet wurde, vollzieht sich in Italien eine Entwicklung, die von einem generellen Mangel an politischen Zielsetzungen und reformerischem Elan sowie einem Schwinden des Bürgersinns gekennzeichnet ist. Zugleich ist das Fundament zerbröckelt, auf dem die Republik Italien gegründet ist: der Antifaschismus.1 Seit den 1980er-Jahren haben Politik und Recht ihre regulative Funktion mehr und mehr eingebüßt, während die Durchsetzungskraft wirtschaftlicher Interessen wuchs – Interessen einer Wirtschaft allerdings, die nur im ideologischen Sinn als „liberal“ bezeichnet werden kann, während sie in Wirklichkeit dereguliert und neokorporatistisch ist.

Tatsächlich zerfällt Italien in viele kleine und große, mehr oder weniger mächtige Interessengruppen. Sie alle bekämpfen einander, sie alle erachten den gemeinsamen rechtsstaatlichen Rahmen nicht für verbindlich, und Bürgersinn besitzen sie schon gar nicht. Die italienische Gesellschaft ist ein Dschungel, durchsetzt mit ein paar weniger unwirtlichen Lichtungen: einige Regionen im Norden sowie die „roten“ Regionen Mittelitaliens. Gültigkeit haben in diesem Dschungel weder die Gesetze des Marktes noch die des Staates, sondern die des Privilegs, der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen, des Ressentiments und der Angst.

Es handelt sich um einen „Naturzustand“, in dem jedes Bewusstsein für die Notwendigkeit fehlt, ein ziviles Zusammenleben durch Normen zu regeln, und in dem nicht zufällig ein Gefühl der Unsicherheit herrscht. Die Italiener spüren, dass die Krise des Rechtsstaats sie alle betrifft, ziehen es aber vor, im Schatten der Anonymität durch die Maschen der Gesetze zu schlüpfen, statt ihrerseits einen ersten Schritt in Richtung eines gemeinschaftlichen, regelkonformen Handelns zu wagen. Die Ausbreitung der Korruption in Privatwirtschaft und öffentlicher Verwaltung ist Konsequenz dieser Logik der Partikularinteressen und des amoralischen Familiarismus, die im heutigen Italien das Handeln bestimmen.2

Der öffentliche Raum, in dem verbindliche Regeln und Transparenz herrschen sollten, verliert an Bedeutung und verwandelt sich immer mehr in eine Sphäre der Verquickung von Privat- und Partikularinteressen, die einander bekämpfen oder wacklige Kompromisse eingehen. Die Gesellschaft strukturiert sich über persönliche Abhängigkeits- und Klientelbeziehungen. Die wenigsten halten sich noch an Pflichten und Gesetze, lieber verlässt man sich auf seine Durchtriebenheit und auf gute Beziehungen. Zur wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Krise kommt die moralische hinzu: Das soziale Kapital des Vertrauens wird verschleudert.

Möglich wurde das Abenteuer Berlusconi auch durch die Krise der Linken, die sich mit ihrer unentschlossenen und widersprüchlichen Politik während ihrer kurzen Regierungszeit selbst geschadet hat. Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Linkskatholiken schart sie nun die (weniger werdenden) Intellektuellen sowie Beschäftigte im öffentlichen Dienst und Rentner um sich. Gegenwärtig hält sie sich mit Mühe noch in einigen Regionen Mittelitaliens wie der Emilia-Romagna und der Toskana.

So gelang es Berlusconi, sich an die Spitze des „Aufstands der Massen“ zu setzen, dessen Auslöser das Ende der Ersten Republik und der Zerfall der politischen Klasse nach den umfangreichen Korruptionsermittlungen der „mani pulite“ Anfang der 1990er-Jahre war. Berlusconi hat es verstanden, die Politikverdrossenheit der Italiener und ihre Empörung über die Eliten für seine eigenen politischen Zwecke zu nutzen.

Seine Stärke bezieht er aus einem plebiszitären Populismus, der sich seiner Medienmacht, seinem persönlichen Charisma und einem Pakt mit der Bevölkerung verdankt – einem auf Idiosynkrasien, gemeinsamen Interessen, Ängsten und Leidenschaften gegründeten Pakt. Tatsächlich bietet Berlusconi seinen Wählern eine zynische, institutionenfeindliche politische Rhetorik und Kultur – die Werte, die er verbal verteidigt, aber nicht praktiziert, sind nichts als alte antiintellektuelle und kleinbürgerliche Reflexe.

Berlusconis Ausfälle gegenüber dem Parlament, in dem er trotz allem die Mehrheit hat, gegen Richter und Staatsanwälte, deren Nachstellungen er sich durch ein neues Immunitätsgesetz vom Leibe hält, sowie sein auftrumpfendes und willkürliches Verständnis des Ministerpräsidentenamts zeigen, dass er keinerlei Einschränkung seiner Macht hinnehmen will. Sie ist für ihn der unmittelbare Ausdruck seiner Popularität und stellt ihn als den „Gesalbten des Herrn“, wie er sich vor ein paar Jahren selbst bezeichnete, über das Gesetz und die politischen Institutionen.

Demokratische Repräsentation ist in seinen Augen kein rationales Verfahren, das den Parlamentarismus mit Leben erfüllt, sondern eine symbolische, persönliche und plebiszitäre Stellvertreterschaft, dank derer ein Volk im mystischen Leib des Regierungschefs zu sich selbst findet. Und er liebt dieses Volk, weil es ihn versteht und hinter ihm steht, zumindest solange es die „Kommunisten“ hasst (oder zu hassen lernt). „Kommunisten“ – mit diesem Kampfbegriff geht die Rechte seit jeher gegen ihre Kritiker und überhaupt gegen all jene vor, die sich der Mehrheitsmeinung nicht anschließen wollen.

Berlusconi vertritt eine autoritäre und charismatische Politik, die ihrem Wesen nach nichts mit Antifaschismus und freiheitlicher Demokratie zu tun hat (in seiner ersten Regierung von 1994 war keine einzige Partei vertreten, die seinerzeit dem antifaschistischen Komitee der Nationalen Befreiung angehört hatte). Dies zeigen seine ständigen Angriffe auf die Presse- und Informationsfreiheit sowie seine Ablehnung jeder laizistischen Politik – bekanntlich verfügt die katholische Kirche nach wie vor über große wirtschaftliche Privilegien. Und wann immer die kirchliche Obrigkeit sich zu Fragen der Bioethik und Biopolitik äußert, legt er eine demonstrative Willfährigkeit an den Tag. Auch seine skrupellose Ausländerfeindlichkeit und das Schüren sozialer Ängste – laut Berlusconi sieht Mailand „mittlerweile wie eine afrikanische Stadt“3 aus – knüpfen nicht gerade an antifaschistische Traditionen an. Berlusconi macht eine Politik, die den Übergang von der Macht der Parteien zur Macht einzelner Personen beziehungsweise einer einzigen Person markiert. Und vor allem macht er eine Politik, die vom „Verfassungsbogen“ („arco costituzionale“)4 zur Spaltung des Landes in zwei feindliche, einander bis in ihr Menschenbild entgegengesetzte Blöcke führt. Mit seinem ständigen Beharren auf dem Freund-Feind-Schema versucht er, eine symbolische Einheit zu schaffen, die nur um den Preis des inneren Zerwürfnisses zu haben ist. Er tut dies ausgerechnet in einer Zeit, in der die ökonomische und soziale Wirklichkeit des Landes von Zersplitterung und Ungleichheit geprägt ist.5

Berlusconi ist gar nicht so sehr der „Macher“, als den er sich gern bezeichnet, um sich von den Berufspolitikern abzugrenzen, die angeblich immer nur reden. Vielmehr ist er ein Mann des Laissez-faire, aber nicht im ursprünglich liberalen Sinne eines François Guizot. Bei Berlusconi handelt es sich dagegen um ein Laissez-faire, das es den Macht- und Interessengruppen erlaubt, ihre Privilegien zu erhalten und nach Möglichkeit zu erweitern, und zwar auf Kosten der Schwächeren und des Fiskus – Steuerhinterziehung wird längst nicht mehr wirksam und entschlossen bekämpft – sowie ganz allgemein auf Kosten des sozialen Miteinanders.

Der Erste, der von seiner Politik des Laissez-faire profitiert, ist natürlich Berlusconi selbst, dessen Interessenkonflikt zwischen seinem Amt als Ministerpräsident und seiner Rolle als Medienzar und reichstem Mann des Landes für die Italiener inzwischen zum politischen Alltag gehört. So wird die Anomalie an der Spitze des Staats zum Garanten dafür, dass auch der normale Bürger mit seinen kleinen und großen Anomalien keine strafrechtliche Verfolgung zu fürchten braucht. Das Universalgesetz der Republik Italien ist die Anomalie, und ihre Ikone heißt Berlusconi. Er füttert die Öffentlichkeit mit seinen persönlichen Direktiven und Praktiken. Das ist die ganze Stärke seiner politischen Position, die Ursache für den Konsens, auf den er sich verlassen kann – von den abhängig Beschäftigten, insbesondere denen im öffentlichen Dienst einmal abgesehen. Sie sind die ultimativen Sündenböcke, denen der zuständige Minister Renato Brunetta mit rechtlichen Konsequenzen und Effizienzkontrolle zu Leibe rückt, wenn auch ohne großen Erfolg. Den meisten Italienern mit ihren Ressentiments gegen die staatliche Verwaltung spricht er damit jedenfalls aus der Seele.6

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Nicht nur die Reichen und Mächtigen, auch die Mittelschicht, die Angestellten und die Arbeiter wählen Berlusconi, weil sie sich – enttäuscht von der sozial- und rechtsstaatlichen Politik der Linken – lieber den Hoffnungen, Illusionen und Ressentiments der Rechten überlassen. Sie hoffen, sich mit Berlusconi durchmogeln zu können, und sei es mit Hilfe der guten alten öffentlichen Hand. Zwischen dem, was Berlusconi sagt, und dem, was er tut, klafft jedoch ein tieferer Abgrund als beim skrupellosesten Berufspolitiker. Man braucht gar nicht auf das gebrochene Wahlversprechen von 2001 („weniger Steuern für alle“) zu verweisen, um festzustellen, dass sich Berlusconis Politik gegen die Interessen der Schwächsten richtet. Man denke nur an die vorsichtigen Anti-Trust-Maßnahmen der letzten Regierung Prodi, die der Stärkung des Wettbewerbs dienten und unter bestimmten Voraussetzungen eine Art Sammelklage zuließen. Sie wurden durch zahllose Modifizierungen zunichte gemacht, die allesamt die Großkonzerne begünstigen.7

Der Wettlauf um den schnellen eigenen Vorteil begünstigt natürlich die Stärksten. Die Italiener halten sich für gewitzt, tatsächlich aber werden sie betrogen und betrügen sich selbst. Sie sind zynisch und lügen sich gleichzeitig in die eigene Tasche. Sie vertrauen sich Berlusconi an, damit nichts wachsen und sich entwickeln kann, damit sie ihre liebgewonnenen Trägheiten und Laster nicht aufgeben müssen. Und sie wollen nicht wahrhaben, dass man nur verlieren kann, wenn man so tut, als wäre man ein kleines Kind, und die Augen vor der Realität verschließt.

Berlusconi mag ein Zauberer sein, einer, der gleichzeitig desillusioniert und fasziniert. Doch er ist keinesfalls ein Mann, der in einem rückständigen und auseinandertreibenden Land eine Modernisierung von oben durchsetzen könnte, und sei es auch nur indirekt. Er hat von der alten Democrazia Cristiana nur die Wählerschaft übernommen, aber nicht ihre Politik: Die hatte darin bestanden, rechts der Mitte auf Stimmenfang zu gehen, um dann eine Mitte-links-Regierung zu bilden und so die demokratische Entwicklung voranzutreiben. Berlusconi holt sich seine Stimmen aus dem Bauch des Landes. Er bedient sich ihrer, um Italien in dem Zustand zu belassen, in dem es ist, und um seine persönliche Macht zu festigen.

Vielleicht werden die Italiener eines Tages aus Berlusconis Bann erwachen. Vielleicht werden sie den Pakt mit ihm aufkündigen, wenn sie merken, dass seine Tatenlosigkeit desaströs ist und dass Wegschauen nichts hilft gegen die Krise. Aber ungeachtet seiner Affären und Partyskandale in seinen Privatresidenzen in Rom und an der Costa Smeralda, wo er auf Staatskosten Prostituierte einfliegen ließ – jeder andere westliche Politiker hätte bei solchen Enthüllungen längst seinen Hut nehmen müssen – halten ihm die Italiener in Umfragen und bei den Wahlen nach wie vor die Treue.8 Der Kern von Berlusconis Politik, sein Staatsamt, scheint von alldem unberührt. Berlusconi passt so gut zu Italien wie kein Zweiter. Wer weiß, ob das Land nach seinem Abgang je wieder zur Politik zurückfinden kann, nachdem es so viele Jahre lang keine Politik mehr betrieben hat.

Fußnoten: 1 Vgl. Autorenkollektiv, „L’Italia repubblicana nella crisi degli anni settanta“, Soveria Mannelli (Rubbettino) 2001–2004; Paul Ginsborg, „Storia d’Italia (1943–1996). Famiglia, società, stato“, Turin (Einaudi) 2006. 2 Vgl. den Jahresbericht von Furio Pasqualucci, Generalstaatsanwalt beim italienischen Rechnungshof, anlässlich der Eröffnung des Gerichtsjahres 2008, sowie Transparency International, Global Corruption Barometer 2009, bei dem Italien im globalen Vergleich bei der Korruption – der tatsächlichen und der wahrgenommenen – beschämend weit oben steht. 3 Vgl. Corriere della Sera, 4. Juni 2009. 4 Dieses Schlagwort aus den 1960er- und 1970er-Jahren bezeichnet das Spektrum der Parteien (von den Liberalen bis zu den Kommunisten), die gemeinsam die italienische Verfassung von 1948 erarbeitet und verabschiedet haben. Nicht beteiligt war der Movimento Sociale Italiano, eine Partei, die die Werte des Antifaschismus, auf denen die Verfassung gegründet ist, nicht teilte. 5 Für Berlusconi ist die Linke „der Feind Italiens“: vgl. La Repubblica, 30. Juni 2009, S. 8. 6 Auf Initiative des Ministers für den öffentlichen Dienst Brunetta verabschiedete die italienische Regierung am 25. Juni 2008 das Gesetzesdekret 112/2008, auch bekannt als „Decreto anti-fannulloni“ (Dekret gegen das Faulenzertum), mit dem das Nichterscheinen am Arbeitsplatz bekämpft und die Beschäftigten im öffentlichen Dienst diszipliniert werden sollen. Es sieht unter anderem eine Gehaltskürzung in den ersten zehn Krankheitstagen vor. 7 Vgl. den Jahresbericht der italienischen Wettbewerbsbehörde vom 30. April 2009. 8 Bei den letzten Europawahlen und bei den Kommunalwahlen am 20./21. Juni 2009 war die Partei des Ministerpräsidenten durchaus erfolgreich, auch wenn sie nicht die von Berlusconi angestrebten 40 Prozent erreichte.

Aus dem Italienischen von Rita Seuß

Carlo Galli ist Professor für politische Ideengeschichte an der Universität Bologna und Präsident des Istituto Gramsci Emilia-Romagna.

Le Monde diplomatique vom 11.09.2009, von Carlo Galli