12.05.2022

Drei Blöcke, zwei Verlierer

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Drei Blöcke, zwei Verlierer

Die französische Präsidentschaftswahl zeigt erneut, dass das traditionelle Rechts-links-Schema aufgebrochen ist

von Jean-Yves Dormagen, Stéphane Fournier und Guillaume Tricard

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Die erste Runde der Präsidentschaftswahl hat erneut gezeigt, dass sich die politische Landschaft Frankreichs seit 2017 in einem tiefgreifenden Umbruch befindet. Dabei haben sich drei in etwa gleich große politische ­Lager herauskristallisiert, die sich nicht mehr eindeutig in das althergebrachte Rechts-links-Schema einordnen lassen.

Besonders gilt das für den Block der Wähler:innen, die sich um Emmanuel Macron scharen und 2012 noch für François Hollande oder Nicolas Sarkozy stimmten. Es gilt aber auch für die Wähler:innen, die dem „identitären Block“ um Marine Le Pen angehören und sich mehrheitlich weder als links noch als rechts betrachten und diesen Begriffen ohnehin keine große Bedeutung mehr beimessen. Einzig das Lager um Jean-Luc Mélenchon scheint sich zumindest teilweise in den alten Links-Rechts-Gegensatz einzufügen, der lange Zeit das Koordinatensystem des politischen Lebens in Frankreich bestimmte.

Um diesen Wandel zu verstehen, haben wir eine Methode entwickelt mit der theoretischen Prämisse, dass die politischen Präferenzen der Menschen am stärksten von deren Einstellung zu großen Konfliktthemen (wie Islam, Feminismus, Ökologie oder die Vermögensverteilung) bestimmt werden. Diese Einstellungen fügen sich zu einem festen System, das sich im Laufe eines Wahlkampfes nicht grundsätzlich verändert. Deshalb eröffnet eine Analyse dieser Einstellungssysteme die Möglichkeit, die Struktur der Wählerschaft zu erkennen und über oberflächliche Erklärungsmuster hinauszugelangen, die auf das Image der Kan­di­da­t:in­nen oder die Qualität ihres Wahlkampfs abheben.

Bei unseren Untersuchungen in den vergangenen Monaten wurden drei Grundgegensätze sichtbar, die die politische Landschaft in Frankreich prägen. Der erste Gegensatz bezieht sich auf Fragen der Kultur und Identität und spaltet die Wählerschaft bei Themen wie Migration, der Stellung des Islam und – in geringerem Maße – den gesellschaftlichen Herausforderungen und ökologischen Fragen.

Der zweite Gegensatz dreht sich um die Einstellung zum „System“. Hier stehen sich die Forderung nach radikaler Veränderung und der Wunsch nach Stabilität gegenüber. Dies lässt sich auch mit dem Oppositionspaar „Volk versus Elite“ fassen. Beim dritten Grundgegensatz geht es um ökonomische Fragen: Hier steht die Forderung nach einer sozial gerechten Umverteilungspolitik gegen eine marktliberale Einstellung, die die Staatsausgaben begrenzen will.

Ausgehend von den individuellen Einstellungen zu diesen drei fundamentalen Gegensätzen haben wir die Wäh­le­r:in­nen in sechzehn Gruppen eingeteilt. Dabei wurde auch berücksichtigt, wie radikal sie diese Einstellungen vertreten. Die Gruppen, die wir „Cluster“ nennen, definieren wir wie folgt: Multikulturalisten, Sozialdemokraten, Progressive, Solidaristen, Zentristen, Rebellen, Apolitische, Sozialrepublikaner, Eklektiker, Konservative, Liberale, Verweigerer, Euroskeptiker, Sozialpatrioten, Sozialstaatsgegner und Identitäre.1

Das einende Band des Macron-Lagers folgt vor allem der Trennlinie zwischen Volk und Elite. Hierbei steht im Grunde die Forderung nach „radikaler“ Veränderung gegen den Wunsch nach einem „Maßhalten“, das mit einer grundsätzlichen Zustimmung zum Status quo einhergeht. Schon 2017 nutzte Macron diesen Gegensatz erfolgreich, um die Überreste des liberalen Flügels der Parti Socialiste (PS) und die Mitte-Rechts-Klientel eines Alain Juppé hinter sich zu versammeln. Der Demoskop und Politikwissenschaftler Jérôme Sainte-Marie spricht bei dieser Wählergruppe vom „elitären Block“.2

Überproportional stark vertreten sind in diesem Block Aka­de­mi­ke­r:in­nen und Führungskräfte, die in den großen Städten leben. Aber auch politisch gibt es Verbindendes: Diese Wählergruppe ist sich einig in ihrem dezidierten Zuspruch zur Europäischen Union. Emmanuel Macron hat erfolgreich diejenigen um sich geschart, die 2005 beim Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag mit „Ja“ stimmten. Den Schwerpunkt dieser „gemäßigten“, „besonnenen“ und europafreundlichen Strömung bildet das Cluster der Zentristen, das ­Macron 2017 von sich überzeugen konnte (80 Prozent der Stimmen).

Stark vertreten sind ebenfalls Sozialdemokraten und Liberale. Obwohl, vereinfacht gesagt, die Sozialdemokraten in den 2000er Jahren noch die Stammwählerschaft der PS und die Liberalen die angestammte Klientel der UMP (heute Les Républicains) bildeten. Erstere repräsentierten die gemäßigt linken Intellektuellen, Zweitere die Intelligenzia der bürgerlichen Rechten. Erstere abonnierten Le Monde, Zweitere lasen den Figaro. Die einen stimmten 2012 in großer Zahl für François Hollande, die anderen in ebenso großer Zahl für Nicolas Sarkozy.

Die roten Vorstädte sind zurück

Diese beiden Gruppen, die nie für dieselben Kandidaten gestimmt hatten, fanden sich mit den Zentristen zu jener elitären Koalition zusammen, die heute das Fundament des „Macronismus“ bildet. Bei der jüngsten Präsidentschaftswahl band der elitäre Block auch Gruppen ein, die bis dato dem rechten Lager mehr oder weniger die Treue gehalten hatten. Vor fünf Jahren stimmten die Liberalen noch weit überwiegend für François Fillon von Les Républicains (LR). In diesem Jahr haben sie schon im ersten Wahlgang Macron gewählt. Damit erlebten die Républicains dasselbe Schicksal wie der PS vor fünf Jahren – mit dem Ergebnis, dass am Ende von Macrons erster Amtszeit von den etablierten Parteien so gut wie nichts mehr übrig ist.

In Wirtschafts- und Identitätsfragen nehmen Sozialdemokraten und Liberale gegensätzliche Positionen ein. Erstere sind für Umverteilung und einen sorgenden Staat, während die Liberalen Steuersenkungen und einen schlanken Staat fordern. Die Sozialdemokraten sind kulturell progressiv, während die Liberalen konservativ eingestellt sind und vielfach die „Manif pour tous“, die Bewegung gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, aktiv unterstützen. Diese Gegensätze traten allerdings bei der Wahl in den Hintergrund. Zum einen wurde die Hinwendung der liberalen Rechten zu Macron durch die Bewegung der „Gelbwesten“ beschleunigt, und zum anderen schweißte die Coronakrise den elitären Block zumindest vorerst zusammen.

Was die Gemäßigten beider Lagern – Progressive, Sozialdemokraten, Zen­tristen und Liberale, aber auch Konservative – vor allem eint, ist die Ablehnung des „Populismus“ und des „dégagis­me“ (die Forderung, etablierte Politiker in die Wüste zu schicken), der durch die Gelbwestenproteste an Frankreichs Kreisverkehren verkörpert wurde. In der Coronakrise wiederholte sich ein ähnliches Muster, denn auch sie trieb die Spaltung zwischen Volk und Elite voran. Macron schaffte es, den Gegensatz zwischen den „Vernunftbegabten“, die den Impfstoffen vertrauen, und den „verantwortungslosen Verschwörungstheoretikern“, die sich gegen die Hygienemaßnahmen und das Impfen stellen, für seine Zwecke zu nutzen.

Eine große Mehrheit der bestausgebildeten und wohlhabendsten Cluster standen hinter den von der Regierung beschlossenen Maßnahmen. In der breiten Bevölkerung und den Clustern mit geringem Akademikeranteil zeigte sich hingegen ein geteiltes Bild. Ein Teil demonstrierte gegen den im Sommer 2021 eingeführten Gesundheitspass.

Zudem ließ die Radikalisierung des Gegensatzes „Volk versus Elite“ eine weit gespannt Allianz des Protests entstehen. Sie umfasst sechs der sechzehn Cluster: Multikulturalisten, Solidaristen, Rebellen, Verweigerer, Euroskeptiker und Sozialpatrioten. Sie haben gemeinsam, dass sie den unteren oder mittleren Schichten angehören und wenig wirtschaftliche Ressourcen haben. 2019 unterstützte diese Gruppe massiv die Gelbwestenproteste und bei Wahlen enthält sie sich überdurchschnittlich häufig. Bei der jüngsten Wahl stimmten diese Menschen überwiegend für Jean-Luc Mélenchon und Marine Le Pen. In diesen Clustern ist auch die Verweigerungshaltung gegenüber dem durch die Eliten verkörperten „System“ am stärksten ausgeprägt.

Soziologisch ähnelt diese sich herausbildende „Anti-Macron“-Front dem Nein-Block beim Referendum von 2005, als die Europäische Verfassung abgelehnt wurde: Überproportional vertreten sind Ar­bei­te­r:in­nen und Angestellte sowie Landbewohner. Dennoch kann sich aus diesem Sammelsurium zum jetzigen Zeitpunkt keine geeinte Wählergruppe herausbilden; dafür sind die Gräben in der Identitätsfrage zu tief.

Dass Le Pen den Angriff von Éric Zemmour abwehren konnte, hat sie vor allem ihrer soliden, „historisch gewachsenen“ Wählerbasis zu verdanken, die sich aus den Clustern der Verweigerer, Europaskeptiker und Sozial­pa­trio­ten rekrutiert. In der Identitätsfrage fordern diese Wähler geschlossene Grenzen und sind ausgesprochen migrations- und islamfeindlich. Groß ist auch ihr Argwohn gegenüber dem „System“, dessen Attribute Macron in ihren Augen allesamt in sich vereint: ENA-Absolvent, Ex-Investmentbanker, liberal, proeuropäisch. Diese Wählergruppe hat sich mehr und mehr von einer Linken abgewandt, die sie nicht mehr als Beschützerin wahrnimmt und deren multikulturellen Wertvorstellungen sie nicht teilt.

Le Pen profitierte von Zemmours Radikalität, richtete ihr Image neu aus und konnte so neue Wähler für sich gewinnen. Ein anschauliches Beispiel sind die älteren konservativen Angehörigen der ländlichen Mittelschicht, die gemäßigte Einstellungen vertreten und sich gegen tiefgreifende Veränderungen sträuben. In diesem Segment der kleinbürgerlichen, konservativen Rechten liegt Le Pen mit 37 Prozent an der Spitze.

Dem Kandidaten Jean-Luc Mélenchon seinerseits ist es nicht nur gelungen, die Überreste der radikalen Linken für sich zu gewinnen. Er konnte auch einen erheblichen Teil der akademischen, großstädtischen Mittelschicht, Vor­stadt­be­woh­ne­r:in­nen, gewerkschaftlich organisierte kleine Angestellte von sich überzeugen ebenso wie Pro­test­wäh­le­r:in­nen aus dem alternativen Milieu, das vor allem im Süden Frankreichs anzutreffen ist.3

Einig ist sich diese sehr diverse Wählerschaft vor allem in der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und einer ökologischen Politik sowie in ihrer Ablehnung der identitären Be­wer­ber:in­nen. Eher gespalten ist sie in gesellschaftlichen und institutionellen Fragen. Ein Blick auf die Dynamik seiner Kampagne zeigt, dass Jean-Luc Mélenchon es geschafft hat, seine Stammwählerschaft zu mobilisieren. Deren Basis bilden die drei Cluster der radikalen Linken: Multikulturalisten, Solidaristen und Rebellen.

Diese drei Cluster finden sich schon seit 2012 ziemlich weitgehend in dem politischen Angebot wieder, das Mélenchon formuliert. Sie sind radikal tolerant und antirassistisch, stehen dem „System“, den Lobbyisten und den Institutionen misstrauisch gegenüber und sind entschieden für Umverteilung. Auf diesen drei Konfliktfeldern haben der PS ebenso wie die Grünen größte Pro­ble­me, mit ihren politischen Angeboten Mé­len­chons La France insoumise Konkurrenz zu machen. Dieses solide Wählerfundament sorgte dafür, dass bereits im Herbst 2021 etwa 12 Prozent der befragten Wahlberechtigten angaben, Mélenchon ihre Stimme geben zu wollen.

Es ist sehr wichtig, dieses Wählerpotenzial genau zu analysieren, um zu verstehen, warum die Sozialdemokratie in einer historischen Krise steckt und die Sozialökologie in der vom grünen Spitzenkandidaten Yannick Jadot vertretenen Form zumindest fürs Erste gescheitert ist. Der PS und die Grünen wollten ein eigenes Feld besetzen – das Feld einer „gemäßigteren“ und „realistischeren“ Linken, das aufgrund der strukturellen Gegebenheiten dieser Präsidentschaftswahl allerdings deutlich zu klein war.

Da vier der fünf Cluster aus dem linken Lager zu Mélenchon (Multikulturalisten, Solidaristen, Rebellen) beziehungsweise Macron (Sozialdemokraten) hielten, blieben für Anne Hidalgo und Yannick Jadot nicht mehr viele Stimmen übrig. Den Rest erledigte die unausweichliche Dynamik des taktischen Wahlverhaltens, die bei jeder Wahl irgendwann greift. Sogar ein erheblicher Teil der Sozialdemokraten (24 Prozent) stimmte schließlich für Mé­lenchon.

In einem Mehrheitswahlsystem führt eine Aufspaltung in drei Lager dazu, dass eines davon in der Stichwahl nicht mehr vertreten ist. Die Cluster, die zu Mélenchon halten, sind bei den wirtschaftlichen Konfliktthemen und in ihrer Einstellung zum „System“ genauso weit entfernt von Macron, wie sie in Kultur- und Identitätsfragen von Marine Le Pen entfernt sind. Diese doppelte Entfernung ist der Grund für die massive Ablehnung des politischen Angebots, die sich nach dem ersten Wahlgang zeigte, und erklärt, warum ein erheblicher Teil (54 Prozent) der Mélenchon-Wähler:innen beide Finalisten gleichermaßen ablehnten.

All das hat im Ergebnis dazu geführt, dass Macron seine Wiederwahl nur einer Minderheit der Wahlberechtigten verdankt (38,5 Prozent). Denn in einem in drei Lager gespaltenen Frankreich gibt es nicht mehr bloß einen, sondern zwei Verlierer. „Zwei von drei Franzosen“ gewinnen zu wollen, wie es Valéry Giscard d’Estaing vor fast 40 Jahren verkündete4 , erscheint vor diesem Hintergrund illusorisch. Heute ist höchstens „einer von drei Franzosen“ realistisch. Das reicht zwar, um Wahlen zu gewinnen. Aber genügt es auch, um für ein stabiles politisches System zu sorgen?

1 Für eine ausführliche Darstellung der 16 Cluster ­siehe: cluster17.com.

2 Jerôme Sainte-Marie, „Bloc contre bloc. La dynamique du macronisme“, Paris (Le Seuil) 2019.

3 Siehe Jérome Fourquet, „L’archipel électoral mélenchonniste“, Fondation Jean Jaurès, April 2022.

4 Valéry Giscard d’Estaing, „Deux Français sur trois“, Paris (Flammarion) 1984.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Jean-Yves Dormagen ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Montpellier und Präsident von Cluster 17; Stéphane Fournier ist politischer Analyst und Mitarbeiter bei Cluster 17; Guillaume Tricard ist Generaldirektor bei Cluster 17.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2022, von Jean-Yves Dormagen, Stéphane Fournier und Guillaume Tricard