Galgenfrist für Hongkong
Am 1. Juli soll John Lee neuer Regierungschef Hongkongs werden. Lee gilt als politischer Hardliner und absolut loyal gegenüber Peking. Aber nicht nur politisch, auch ökonomisch wird die Stadt immer stärker ins chinesische System integriert. Nur den Sonderstatus der Insel als Finanzmetropole wird Peking noch länger zu nutzen wissen.
von Mary-Françoise Renard
Hongkong war für die Volksrepublik China lange das Tor zur Welt, und zwar in doppelter Hinsicht: als Handels- wie als Finanzzentrum. Bis heute haben viele chinesische Milliardäre ihr Geldkapital großenteils in der Bankenmetropole geparkt, die nach der Rückgabe durch Großbritannien 1997 zu einer Sonderverwaltungszone (SVZ) Chinas wurde. Mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf, das etwa dem der USA entspricht – bei einer zugleich höheren Lebenserwartung – ist der Stadtstaat dank seiner internationalen Vernetzung und seines unternehmerfreundlichen Klimas noch immer ein einzigartiger Standort.1 Nach New York und London ist Hongkong das drittgrößte Finanzzentrum der Welt.
Seit 1979 unter Deng Xiaoping die wirtschaftliche Reform- und Öffnungspolitik eingeläutet wurde, hat die Regierung in Peking ihre Beziehungen zu Hongkong Schritt für Schritt ausgebaut. Dabei griff sie auf ihre Erfahrungen mit den chinesischen Sonderwirtschaftszonen (SWZ) zurück, die ausländischen Unternehmen besonders attraktive Bedingungen bieten: keine oder nur geringe Steuern, niedrige Zölle und die freie Rückführung von Gewinnen. Es ist kein Zufall, dass zu den ersten dieser Zonen Shenzhen (Provinz Guangdong) gehörte, zuvor nur eine Ansammlung von Fischerdörfern, die aber in unmittelbarer Nähe zu Hongkong liegen. Die SWZ Shenzhen wurde gewissermaßen zum Labor des neuen chinesischen Entwicklungsmodells, das als Einfallstor für ausländische Investoren diente.
Hongkong spielte also schon vor seiner Rückgabe an China für die Wirtschaftsstrategie Pekings eine wichtige Rolle. Die Inselstadt entwickelte sich immer mehr zu einer Drehscheibe des Handels: Zum einen weil die Hongkonger Unternehmen einen Teil ihrer Produktion in die Nachbarprovinz Guangdong verlagerten, um von den niedrigeren Arbeitskosten zu profitieren; zum anderen weil der modernere Hongkonger Hafen über wesentlich größere Lagerkapazitäten verfügte als die chinesischen Häfen. Damit brachten die Hongkonger Unternehmer ihre Kontakte und Erfahrungen nach Festlandchina, dessen Ausfuhren damals noch von planwirtschaftlich organisierten Handelsgesellschaften abgewickelt wurden – die keinerlei Verbindungen zu potenziellen ausländischen Käufern hatten.
Seit 1983 verfügt Hongkong zudem über einen Vorteil, den keine Stadt Festlandchinas hat: ein Währungssystem, das sich durch die Bindung des Hongkong-Dollars an den US-Dollar auszeichnet. Die Dollarbindung bedeutet vollständige Konvertibilität, was Währungsstabilität garantiert, das Vertrauen der Investoren stärkt und zugleich eine gewisse Distanz zu Peking wahrt. Dank dieses System konnte die Metropole Hongkong mehrere Finanzkrisen überstehen und Fremdwährungsreserven in Höhe von 135 Prozent des BIPs anhäufen – eine der weltweit höchsten Devisenpolster.2 Heute hält die Sonderverwaltungszone die größten Reserven der chinesischen Währung Renminbi (oder Yuan) außerhalb Festlandchinas. Da der Yuan nur teilweise konvertibel ist, bleibt China für seine Aktivitäten auf den internationalen Finanzmärkten dringend auf Hongkong angewiesen.
Im Zuge des chinesischen Wirtschaftsaufschwungs schafft die Regierung in Peking die Grenzen zwischen Festlandchina und Hongkong etappenweise ab, womit der Stadtstaat nach und nach seine herausragende Rolle einbüßt. Mehrere Programme zur territorialen Integration sollen die Sonderverwaltungszone und den Südosten Chinas stärker aneinander binden. Im Rahmen des 2018 offiziell gestarteten „Greater Bay Area“-Projekts soll rund um das Perlflussdelta ein stark urbanisiertes Gebiet mit hochwertiger technologischer Infrastruktur entstehen. Es bedeutet die regionale Verschmelzung der neun Großstädte Shenzhen, Guangzhou, Dongguan, Foshan, Zhongshan, Zhuhai, Jiangmen, Huizhou und Zhaoqing mit Hongkong und Macau.
Im September 2018 wurde die Hochgeschwindigkeitsstrecke Guangzhou–Shenzhen–Hongkong eröffnet, obwohl dieses Bahnprojekt von der demokratischen Bewegung in Hongkong abgelehnt wurde. Die protestierte vor allem gegen die Abtretung von Land an die Volksrepublik, die durch den Einsatz von Zoll- und Einwanderungsbeamten aus Festlandchina am Hongkonger Bahnhof Kowloon West nötig wurde. Wobei diese Beamten den Gesetzen der Volksrepublik unterstehen, die sich stark von denen Hongkongs unterscheiden.3
Einen Monat später wurde die längste Überwasserbrücke der Welt eingeweiht, die Zuhai, eine Sonderwirtschaftszone in der Provinz Guangdong, mit Macau und Hongkong verbindet. Der wirtschaftliche Nutzen dieser Brücke ist zweifelhaft, ihr politischer Symbolwert dagegen offensichtlich.
Auch die Bereiche Datenverarbeitung und -speicherung sollen stärker integriert werden. So ist das Projekt „Eastern Data and Western Computing“ darauf angelegt, Daten aus den wirtschaftlich entwickelten Regionen im Osten zur Verarbeitung und Speicherung in die ärmeren urbanen Zentren im Westen zu transferieren, wo riesige Rechenzentren entstehen werden.4 Im Mai 2021 wurde bereits der Bau von acht solcher Anlagen genehmigt, von denen eine die Greater Bay Area abdecken und deren Vernetzung mit dem Rest der Provinz Guangdong stärken soll.
Dass der Sonderstatus von Hongkong immer mehr ausgehöhlt wird, hat auch mit dem starken Ausbau paralleler Potenziale in den Großstädten Festlandchinas zu tun. Ein Beispiel: Der Containerhafen von Hongkong war 2004 noch der größte der Welt, 2021 ist er auf Platz 10 zurückgefallen – hinter die chinesischen Häfen Schanghai, Shenzhen, Ningbo-Zhoushan, Guangzhou, Qingdao und Tianjin.5 Und während Qingdao sich als erster vollautomatisierter Hafen Asiens präsentiert, ist in Hongkong nur einer von neun Containerterminals mit ferngesteuerten Portalkränen ausgestattet.
Auch in anderen Bereichen wurde Hongkong überholt, etwa von Schanghai. Die „smart city“ ist heute – von London abgesehen – die am stärksten digitalisierte Metropole6 und kann – ebenso wie Shenzhen – ein höheres BIP als Hongkong vorweisen: 2021 erwirtschaftete Schanghai umgerechnet 569,3 Milliarden Euro, Shenzhen 427 Milliarden, Hongkong kam dagegen „nur“ auf 318,5 Milliarden Euro.
Die Konkurrenz macht sich selbst im Finanzsektor bemerkbar, der bis vor Kurzem noch Hongkongs größte Stärke war. Die Entwicklung in diesem Bereich wird durch den Global Financial Centre Index erfasst, nach dem Hongkong 2021 nur noch auf Platz 11 lag, während es Schanghai auf Platz 3 und Shenzhen auf Platz 6 geschafft haben.7
Auch bei den neuen Technologien für den Finanzsektor (Fintech) haben Schanghai und Shenzhen den Rivalen inzwischen überholt. Auf diesem Gebiet dominieren mit Alibaba, Baidu und Tencent drei große chinesische Konzerne, die jeweils eigene Tochtergesellschaften für spezifische Bereiche gegründet haben, etwa für elektronische Bezahlsysteme und für die Kreditvergabe an Unternehmen und Privatpersonen. Insgesamt dürfte die Bedeutung der großen chinesischen Städte für das globale Finanzsystem in Zukunft noch weiter zunehmen.
Die schrittweise Integration Hongkongs hilft Festlandchina also, seinen eigenen Finanzsektor qualitativ zu stärken. Von den ausländischen Investitionen in China läuft mehr als die Hälfte über Hongkong, das sich auch zum wichtigsten Börsenplatz für Unternehmen der Volksrepublik entwickelt hat, von denen viele Tochtergesellschaften in Hongkong gegründet haben.
Seit 2014 sind zudem grenzüberschreitende Verflechtungen zwischen den Hongkonger Finanzsektor und dem chinesischen Finanzmarkt entstanden. So kooperiert die Börse von Hongkong mittlerweile mit der Börse von Schanghai; Hongkonger Banken haben Zugang zum Anleihenmarkt auf dem Festland, einschließlich der Befugnis, Kapitalanlagen direkt an die Bevölkerung der neun Städte der Greater Bay Area zu verkaufen.
Peking fördert die Annäherung auch in anderen Bereichen. Zum Beispiel wird die gegenseitige Anerkennung von Universitäts- und Berufsabschlüssen, etwa für Ärztinnen und Anwälte, angestrebt und eine gemeinsame chinesische Identität propagiert. Bisher allerdings mit mäßigem Erfolg: Umfragen der Universität Hongkong zufolge sahen sich 1997 gerade mal 20 Prozent der Einwohnerschaft „eher als Chinese denn als Hongkonger“; 2006 waren es 33 Prozent, aber im Juni 2019 nur noch knapp 10 Prozent.8 Besonders ausgeprägt sind die negativen Gefühle gegenüber dem Nachbarn in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen.
Dabei sind mehr als 1 Million der 7,3 Millionen Einwohner Hongkongs (also mindestens jeder siebte) in Festlandchina geboren und sprechen zu Hause eher Mandarin als Kantonesisch (die offizielle Sprache auf der Insel neben Englisch). Darauf verweisen die Sozialwissenschaftler Jean-Pierre Cabestan und Éric Florence, die in ihrer Studie von 2018 aber betonen, dass andererseits auch ein wachsender Prozentsatz der Hongkonger Bevölkerung auf dem chinesischen Festland wohnt und arbeitet.9 Die Sonderverwaltungszone mag sich also in wirtschaftlicher Hinsicht der Volksrepublik angenähert haben, doch ihre Bewohner haben sich politisch von ihr abgewandt und streben nach Freiheit
Dessen ungeachtet hat sich der Prozess der politischen Eingliederung mit dem Sicherheitsgesetz vom 30. Juni 2020 beschleunigt. Die beiden zentralen Forderungen der Hongkonger Bürgerinnen und Bürger – ein Rechtsstaat und die freie Wahl ihrer Regierung – wurden damit vom Tisch gefegt. Das Gesetz markiert das Ende des „hohen Grad an Autonomie“, der bei der Übergabe versprochen worden war. Die chinesische Regierung verstößt damit klar gegen den Grundsatz „ein Land, zwei Systeme“, der bis 2047 gelten sollte. Bei den Auseinandersetzungen über das Sicherheitsgesetz wurden über hundert Menschen verhaftet, die für die Demokratie auf die Straße gingen.
Aber die chinesische Regierung ließ sich weder durch die zahlreichen Demonstrationen noch durch den friedlichen Marsch der zwei Millionen im Juni 2019 beeindrucken. Der Leiter des Verbindungsbüros der chinesischen Regierung in Hongkong, Wang Zhenmin, hatte bereits im April 2017 klargemacht: „Wenn die ‚zwei Systeme‘ zum Instrument werden, um das ‚eine Land‘ infrage zu stellen, verfallen die Gründe für die Existenz der ‚zwei Systeme‘.“10 Dieses „Verfallen“ ist derzeit in vollem Gange.
Angesichts der Repressionen begann eine wahre Ausreisewelle. Ziel war vor allem Großbritannien, weil dort Visa relativ schnell zu bekommen waren, aber auch Singapur, Taiwan und andere asiatische Länder. Die Folge war, dass die Bevölkerungszahl von Hongkong im Jahr 2020 erstmals zurückging – um 0,3 Prozent gegenüber 2019.
Was sind die Folgen dieser neuen Politik für die Bevölkerung? Auf Kritik an der Regierung oder die Teilnahme an einer Demonstration stehen heute Gefängnisstrafen. Alle Informationen werden durch Zensur gefiltert, und die Kommunistische Partei Chinas kann sich in jeden Aspekt des Alltagslebens einmischen.
Direkt betroffen ist auch die Kunst, vor allem die in Hongkong ansässige Filmindustrie. Deren Produktionen werden mehr und mehr denselben Kriterien wie in der Volksrepublik unterworfen: Politische Kritik und Inhalte mit sexuellem Bezug sind verboten, Gewaltdarstellungen streng reglementiert. Zweifellos werden zahlreiche Filmschaffende ins Exil gehen, unter anderem nach Taiwan. Andere werden vielleicht versuchen, sich zu arrangieren, wie es in Festlandchina schon lange üblich ist, wo etwa Regisseure die Zensur durch Auslassungen und Umschreibungen zu umgehen versuchen. Zudem dürfte es für die Filmschaffenden von Hongkong angesichts der zahlreichen Risiken immer schwieriger werden, ihre Projekte finanziert zu bekommen.
Welche Folgen haben der Verlust an Freiheit, die Überwachung und die Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit für die ökonomische Situation? Für den Banken- und Finanzsektor hatte die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung zunächst einen beruhigenden Effekt. Bekanntlich mögen diese Kreise politische Unruhen nicht besonders. Und zahlreiche Hongkonger Milliardäre unterhalten ohnehin recht gute Kontakte mit Peking. Allerdings lässt die zunehmende Kontrolle viele Unternehmer befürchten, die chinesische Regierung könnte sich in ihre Geschäfte einmischen. Für ausländische Firmen könnte dies ein Grund sein, das Land zu verlassen.
Insgesamt werden die demokratischen Freiräume von Tag zu Tag kleiner. Im Juni 2021 musste die Zeitung Apple Daily ihr Erscheinen einstellen, ihr Gründer Jimmy Lai wurde festgenommen. Als Begründung gab die Pekinger Regierung an, die Zeitung sei „durch ausländische Einflüsse manipuliert“.
Sechs Monate später traf es das Onlinemedium Stand News, als dessen Chefredakteur und sechs Journalisten verhaftet wurden. Für den Sinologen Jean-Philippe Beja entspringt das Vorgehen der Regierung in Peking der Überzeugung, „dass es keine spontanen Basisbewegungen gibt und dass die Proteste des Jahres 2019 von den USA angezettelt wurden, die Hongkong zu einem unabhängigen Hoheitsgebiet machen wollen, um die KP zu destabilisieren“.11
Idealer Standort für den Offshore-Renminbi
Auch jenseits des besonders gefährdeten Mediensektors können sich Unternehmen dem Druck aus China kaum noch entziehen, wie der Fall von Cathay Pacific zeigt: Die Hongkonger Fluggesellschaft musste alle Angestellten entlassen, die an den Protesten teilgenommen hatten.
Die US-Handelskammer in Hongkong (AmCham) hat im Mai 2021 in einer Befragung ihrer Mitglieder ermittelt, dass 42 Prozent der Unternehmen daran denken, Hongkong zu verlassen. Nach einer weiteren Umfrage sahen sich acht von zehn Unternehmen von dem Sicherheitsgesetz betroffen. Fast die Hälfte von ihnen gab an, die Arbeitsmoral im Unternehmen sei beeinträchtigt und man habe Angestellte durch Abwanderung verloren.12
Ein weiterer Faktor ist die autoritäre Coronapolitik der Hongkonger Behörden, auf Grund derer zahlreiche ausländische Manager und Arbeitskräfte eine Ausreise vollzogen oder sie zumindest erwogen haben. Die politische Entwicklung wird sie nicht gerade zu einer Rückkehr bewegen. Die Abwanderung von Oppositionellen und eines Teils der Expat-Community dürfte sich negativ auf das Qualifikationsprofil der Erwerbsbevölkerung auswirken. Schon jetzt muss man von einem Braindrain sprechen, der für die Zukunft der Sonderverwaltungszone gefährlich ist.
Auf der anderen Seite ziehen zahlreiche Bauprojekte reiche Chinesen vom Festland an, die ihr Geld bevorzugt in Hongkonger Immobilien anlegen. Das trägt aber nur dazu bei, den Ruf der glamourösen Metropole als einen der Orte dieser Welt mit der höchsten Ungleichheit zu bestätigen oder gar zu verstärken (siehe nebenstehenden Kasten).
Der größte Vorteil der Sonderverwaltungszone ist und bleibt die Dollar-Bindung ihrer Währung. Diese verleiht ihr auch eine wichtige Rolle für das Projekt der Internationalisierung des Renminbi. Wegen der engen internationalen Verflechtung und der geballten Expertise – über Finanzprodukte im Allgemeinen und Geschäfte in Fremdwährungen im Besonderen – ist Hongkong der logische Standort für die Entwicklung des Offshore-Renminbi. Obwohl die Regierung in Peking die Öffnung ihres Finanzsektors vorantreibt, sind Chinas Kapitalmärkte nach wie vor sehr abgeschottet. Die Schaffung einer Freihandelszone in Schanghai 2013 brachte noch nicht den entscheidenden Durchbruch.
Auch bei der Entwicklung eines digitalen Yuan spielt Hongkong eine entscheidende Rolle. Die chinesische Zentralbank arbeitet mit der Hongkonger Währungsbehörde zusammen, um die grenzüberschreitende Verwendung des digitalen Yuan zu testen – mit Erfolg.
Eine volle Integration der Sonderverwaltungszone in die chinesische Wirtschaft würde jedoch das Ende des festen Wechselkurses zwischen Hongkong-Dollar und US-Dollar bedeuten. Das aber ist schwer vorstellbar, solange die chinesische Währung nicht den Status einer internationalen Währung hat. Doch bis dahin ist es noch lange hin: Heute macht der Yuan lediglich 2,45 Prozent der gesamten weltweiten Devisenreserven aus.
Das Rechtssystem Hongkongs, das viele Unternehmen lange Zeit für zuverlässig hielten, geht auf das britische Common Law zurück. Im Zuge der Rückgabe war dort ein eigener oberster Gerichtshof eingerichtet worden, der Final Court of Appeal. Er besteht aus neun Richtern aus Hongkong (drei ständige und sechs nichtständige) sowie elf nichtständigen Richterinnen und Richtern aus anderen Ländern, die ebenfalls dem Common Law unterstehen, die meisten aus Großbritannien.
Bis 2020 hatten die Gesetze der Volksrepublik China, mit Ausnahme einiger spezieller Regelungen, in Hongkong keine Gültigkeit. Jetzt aber kann die chinesische Justiz eingreifen, sobald sie die nationale Sicherheit gefährdet sieht. Zwei britische Richter des obersten Gerichtshofs erklärten bereits ihren Rücktritt, da freie Meinungsäußerung und Kritik an der Regierung nun als Verbrechen definiert seien. Weitere Rücktritte könnten folgen, was die Attraktivität der Sonderverwaltungszone weiter verringern würde.
Bedeutet dies alles das Ende der Hongkonger Sonderrolle? Schon jetzt ist die Stadt kein Zufluchtsort mehr für Dissidenten. Auch hat sie aufgehört, Studierenden und Festlandchinesen einen Freiraum und Unternehmen ein verlässliches rechtliches Umfeld zu bieten. Allerdings bleibt Hongkong ein wichtiger Finanzplatz, auf den die chinesische Regierung nicht verzichten kann. Doch für die internationale Strategie Pekings wird er künftig nur noch von peripherer Bedeutung sein.
5 „Growth at the world’s 30 largest container ports exceeded 6.5 % in 2021“, Global Maritime Hub.
7 The Global Financial Centre Index 31, März 2022.
8 „Almost nobody in Hong Kong under 30 identifies as ‚Chinese‘ “, The Economist, 26. August 2019.
9 Cabestan/Florence, siehe Anmerkung 3.
11 Jean-Philippe Béja, „La fin de Hongkong?“, Esprit, Juli/August 2020.
12 „AmCham Hongkong Business Sentiment Survey Report“, Januar 2022.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Mary-Françoise Renard ist emeritierte Professorin der Universität Clermont Auvergne und Autorin von „La Chine dans l’Economie mondiale, entre dépendance et domination“, Clermont-Ferrand (Presses Universitaires Blaise Pascal) 2021.
Werdegang einer Kolonie
Die Abtretung der Insel Hongkong an das Vereinigte Königreich wurde nach der chinesischen Niederlage im Ersten Opiumkrieg im Vertrag von Nanjing 1842 besiegelt. Nach dem Zweiten Opiumkrieg überließ China 1860 im Abkommen von Peking den Briten auch noch die Halbinsel Kowloon im Norden Hongkongs. Und schließlich kam 1899 mit der chinesisch-britischen Konvention zur Erweiterung des Hongkonger Territoriums ein 99-jähriger Pachtvertrag über die Inseln um Hongkong und Kowloon hinzu, die später als New Territories bezeichnet wurden.
Das Gebiet, das zu stark zusammengewachsen war, um aufgeteilt zu werden, wurde 1997 an China zurückgegeben, wie es eine 1984 von Deng Xiaoping und Margaret Thatcher unterzeichnete gemeinsame Erklärung vorsah. Hongkong wurde damit zur ersten Sonderverwaltungszone (SVZ); die zweite war Macau, das Portugal 1999 an China zurückgab. Im Gegenzug verpflichtete sich die chinesische Regierung, das Wirtschafts- und Rechtssystem gemäß dem britischen Common Law 50 Jahre lang, also bis 2047, beizubehalten.
Das heißt, dass seit der Rückgabe das Hongkonger Grundgesetz gilt. Dieses Basic Law war Ende der 1980er Jahre von Vertretern der chinesischen Regierung und der Kolonialregierung ausgearbeitet worden. Es basiert auf der Achtung der Grundfreiheiten, die das Rechtssystem Festlandchinas überhaupt nicht kennt. Das erste Parlament, Legislativrat (LegCo) genannt, setzte sich aus 60 Abgeordneten zusammen, von denen 20 in allgemeinen Wahlen gewählt, 10 von einem Wahlkomitee und 30 von Berufsverbänden nominiert wurden.
Der Regierungschef oder die Regierungschefin, Chief Executive genannt, wird von einem aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammengesetzten Wahlkomitee gewählt; die Mehrheit der Mitglieder wird allerdings von der chinesischen Regierung bestimmt. Wer diese Wahl gewinnt, wird dann von Peking offiziell für fünf Jahre ernannt. Das Ziel der Demokratiebewegung in Hongkong war es, allgemeine Wahlen zu erreichen. 2007 hatte die chinesischen Regierung selbst die Direktwahl des Chief Executive für 2017 in Aussicht gestellt.
Die Proteste nahmen vor allem seit 2014 zu, als die chinesische Führung die Idee der allgemeinen Wahlen verwarf. 2019 nahmen die Unruhen völlig neue Dimensionen an. Die Hongkonger Obrigkeit reagierte mit harter Hand. Dabei wurden zahlreichen Menschen verhaftet, und zwar auch Nichtdemonstrierende, die oppositioneller Regungen verdächtig waren.
Diese Proteste waren allerdings nicht nur politischer, sondern auch sozialer Natur. Hongkong gehört zu den Städten mit der größten sozialen Ungleichheit. Der Gini-Koeffizient, der die Verteilung von Einkommen und Vermögen bemisst (eine Gesellschaft ist umso egalitärer, je niedriger der Wert liegt), lag 2018 bei 0,539, gegenüber 0,414 in den USA und 0,385 in der Volksrepublik China (Zahlen von 2016). Was die Immobilienpreise betrifft, war die Stadt 2021 die teuerste der Welt, ein Großteil der Bevölkerung hat de facto keinen Zugang mehr zum Wohnungsmarkt.
Die politische Lage hat sich erneut dramatisch zugespitzt, nachdem am 30. Juni 2020 das neue Gesetz zur nationalen Sicherheit verabschiedet wurde, das einen Tag später in Kraft trat. Das bedeutet das Ende des Schutzes der persönlichen Freiheiten und der Rechtsstaatlichkeit. Von nun an können vier elastisch definierbare „Verbrechen“ – Abspaltung, Subversion, Terrorismus und Zusammenarbeit mit ausländischen Kräften – mit lebenslanger Haft bestraft werden.
Das Gesetz gibt der chinesischen Regierung somit die Macht, jeglichen Widerspruch im Hongkonger Territorium mithilfe ihrer eigenen Geheimpolizei und ihrer eigenen Gerichte zu ersticken.
⇥M.-F. R.