12.05.2022

Weniger Brot für die Welt

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Weniger Brot für die Welt

Profiteure und Verlierer der kriegsbedingten Weizenkrise

von Akram Belkaïd

Bäckerei in Rafah im Gazastreifen ABED RAHIM MOHAMMED/picture alliance/Hans Lucas
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Droht der Welt eine schwere Lebensmittelkrise? Diese Frage steht seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar im Raum. Und tatsächlich sprechen viele Anzeichen dafür, dass die Lage ernst ist.

In den USA hatte der Kurs für Weichweizen an der Chicago Mercantile Exchange – einem Referenzmarkt für Getreidehandel – am 1. Januar 2022 noch bei 275 Euro pro Tonne gelegen; im April überschritt er die symbolträchtige Schwelle von 400 Euro. An allen Terminbörsen, die Getreideprodukte handeln, sind die Kurse volatiler als je zuvor: Sie schwanken selbst innerhalb einer Sitzung in Reaktion auf die Entwicklung an der Front oder die Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew.

Wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) ermittelt hat, stieg der Preisindex für Getreide und Speiseöl im April auf den höchsten Stand seit seiner Einführung 1990.1 Um diese Preisexplosion zu verstehen, hilft der Blick auf den globalen Handel mit Weizen, der seit der Antike überall auf der Welt in Form von Grundnahrungsmitteln wie Brot oder Teigwaren verzehrt wird.2

In den letzten Jahren wurden weltweit im Durchschnitt 780 bis 800 Mil­lio­nen Tonnen Weizen produziert, im Jahr 2000 waren es nur 600 Millionen Tonnen.3 Es gibt zahlreiche Produzenten, aber nur wenige können wegen des steigenden Binnenverbrauchs größere Getreidemengen für den Export abzweigen. Das liegt auch an der Erdüberhitzung, weil Dürre oder Überschwemmungen die Ernteerträge quantitativ wie qualitativ beeinträchtigt haben. Insgesamt gelangen pro Jahr nur 200 bis 230 Millionen Tonnen auf den globalen Getreidemarkt, ein Drittel davon aus Russland und der Ukraine.

Die Nervosität der Importeure ist also verständlich. Nach Angaben der FAO sind seit Kriegsbeginn 25 Millionen Tonnen ukrainischen Weizens in den Häfen von Mikolajew, Odessa und Mariupol blockiert und drohen zu verderben. Für die Ukraine, den fünftgrößten Exporteur weltweit, ist es unmöglich, Schiffe über das Schwarze Meer zu schicken, das zur Kriegszone geworden ist. Selbst wenn man den Weizen dank einer Feuerpause oder eines Waffenstillstands wieder verschiffen könnte, würden die Käufer durch die um 20 bis 30 Prozent gestiegenen Versicherungsprämien belastet.

Russland war 2021 der größte Exporteur, sein Anteil am globalen Weizenhandel lag bei 18 Prozent. Mit dem Schiffstransport hat das Land weniger Probleme als die Ukraine, aber der Absatz ist schwierig, weil der Teilboykott russischer Finanzinstitute die Bezahlung erschwert.

Allerdings hat die russische Regierung Mitte März selbst für Panik auf den Finanzmärkten gesorgt, indem sie ankündigte, weniger Weizen nach Armenien, Belarus, Kasachstan und Kirgistan zu liefern, obwohl diese Länder den Angriff auf die Ukraine mitnichten kritisieren. Das lässt vermuten, dass Moskau in Erwartung eines langen Kriegs strategische Reserven für den eigenen Bedarf horten will. „Das ist so, als würde Saudi-Arabien plötzlich ankündigen, weniger von seinem schwarzen Gold zu verkaufen“, meint der Rohstoffmakler Ali Fahmi.

Russland und die Ukraine sind nicht nur Großexporteure. Sie hatten bisher vor allem die nötige Kapazität, um ihre Produktion schnell zu steigern, und konnten damit Ausfälle in anderen Weltregionen kompensieren, ohne ihren Binnenmarkt zu vernachlässigen. Die Ukraine mit 41,5 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche (großenteils besonders fruchtbare „schwarze Erde“ ) gilt zu Recht als „Kornkammer Europas“. Ihre Weizenproduktion ging zuletzt zu 74 Prozent in den Export; Anfang der 2000er Jahre waren es noch 60 Prozent.

In den letzten Jahren drängte die Ukraine massiv auf den Weltmarkt und wollte vor allem im Maghreb und im Nahen Osten neue Kunden gewinnen. Doch der Krieg hat sowohl Anbauflächen reduziert als auch Hafenanlagen zerstört, insbesondere in Mariupol. Damit fällt die Ukraine als „swing producer“, der die steigende Nachfrage leicht und preisgünstig bedienen könnte, auf absehbare Zeit aus. Und das wird die jetzt schon exorbitanten Preise weiter hochtreiben.

Zwar hat nach Angaben aus Kiew die Frühjahrsaussaat in den Regionen begonnen, die vom Krieg relativ verschont blieben, vor allem im Südwesten nahe der rumänischen Grenze. Aber es fehlt an Kraftstoff. In normalen Zeiten importiert die Ukraine 70 Prozent ihres Benzin- und Dieselbedarfs aus Russland und Belarus. Seit Kriegsbeginn sind die Versorgungskreisläufe unterbrochen und die Traktoren stehen still.

Weiter im Osten, in der Umgebung der bombardierten Städte Mikolajew und Cherson, wurden die Felder nicht bestellt; zudem fehlen Landarbeiter, die zum großen Teil zur Armee eingezogen wurden. Der Umfang der künftigen Ernten ist also ebenso ungewiss wie die Logistik für den Export. Eine Lösung bietet sich mit dem rumänischen Constanta an, dem größten Hafen am Schwarzen Meer. Kiew und Bukarest verhandeln über die verschiedenen Transportoptionen.4

Auch Russland hat seine Lebensmittelproduktion in Reaktion auf die westlichen Sanktionen nach der Krim-Annexion 2014 gesteigert. Damit sind auch die Exportkapazitäten gestiegen. „Seitdem spüren wir einen stärkeren Konkurrenzdruck in Absatzmärkten wie Algerien, wo die Russen bisher nicht präsent waren“, berichtet ein französischer Händler, der befürchtet, dass ein langer Krieg und der Rückzug Russlands und der Ukraine vom Markt den globalen Weizenhandel komplett durcheinanderbringt: „Jetzt denken alle nur an sich: Die reicheren Länder können Ersatzlieferungen finden, die ärmeren müssen auf die internationale Solidarität hoffen.“

Am 14. März warnte UN-Generalsekretär António Guterres vor einem „Hurrikan des Hungers“ und einer „Erschöpfung des globalen Ernährungssystems“. Er verwies auf Länder wie Jemen und Sudan, in denen der Hunger heute schon endemisch ist. Der Krieg in der Ukraine könnte, so Guterres in einem späteren Beitrag, 1,7 Milliarden Menschen, also mehr als ein Fünftel der Menschheit, in Armut und Hunger stürzen.5

Nach einem von Guterres zitierten FAO-Report droht diese Gefahr 45 unterentwickelten Ländern vor allem Afrikas, von denen 18 mehr als die Hälfte ihrer Weizenimporte aus Russland oder der Ukraine beziehen; in Eritrea, Mauretanien, Somalia und Tansania sind es sogar 100 Prozent. 30 Prozent allen Weizens, der in Subsahara-Afrika konsumiert wird, kommen aus Russland und der Ukraine.

Zerstörte Anbauflächen, geschlossene Häfen

Die ukrainische Regierung verfügt angeblich über Reserven, die ihrer eigenen Bevölkerung die Lebensmittelversorgung für ein Jahr garantieren. Sie geht jedoch davon aus, dass die Anbauflächen durch den Krieg um 30 Prozent reduziert und weltweit 100 Millionen Menschen im Mitleidenschaft gezogen werden.6

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski warnte in einer Videobotschaft an das Doha-Forum in Katar am 26. März: „Die russischen Truppen verminen Felder, zerstören Landwirtschaftsmaschinen und Treibstoffreserven, die für die Aussaat nötig sind. Der Ausfall der ukrainischen Exporte wird viele Völker der islamischen Welt, Lateinamerikas und anderer Welt­re­gio­nen treffen.“

Zu Beginn der Invasion hatten viele Importstaaten abgewartet, weil sie hofften, der Krieg werde nicht lange dauern und die Preise würden sich normalisieren. Ägypten ist der weltgrößte Weizenimporteur. Von den 12 Millionen Tonnen kamen bisher 61 Prozent aus Russland und 23 Prozent aus der Ukraine. Die Hälfte der Importe kauft der Staat für ein Programm, das subventioniertes Brot zu strikt limitierten Preisen verteilt. Der Zuschuss aus dem Budget basiert auf einem Preis von 255 Dollar pro Tonne.

Als die Preise stiegen, annullierte Kairo zunächst zwei laufende Verträge mit Russland. Das Al-Sisi-Regime erinnert sich noch genau daran, wie dem Arabischen Frühling von 2011 mehrere Protestwellen vorausgingen, die sich gegen die Preiserhöhung für Grundnahrungsmittel richteten – ausgelöst durch die Dürre in den Erzeugerländern Russland, Australien und Argentinien.7

In Ägypten ist das Brot für zwei Drittel der 103 Millionen Einwohner das wichtigste und oft einzige Lebensmittel, weshalb es auch als „Aische“ (Leben) bezeichnet wird. Um die Spekulation mit Weizenmehl zu verhindern, bemühte sich die Regierung, neue Importquellen zu erschließen. Nach Regierungsangaben decken die Weizenvorräte den nationalen Bedarf bis zum Ende des Sommers. Anfang April sondierten ägyptische Getreidehändler auch den französischen Markt, den fünftgrößten der Welt mit 65 bis 70 Millionen Tonnen pro Jahr. Doch die hohen Preise haben sie bislang vom Einkauf abgehalten.

Auch in Ländern wie dem Libanon (51 Prozent Abhängigkeit von Russland und Ukraine), der Türkei (100 Prozent) oder Indonesien steht mittlerweile die Lebensmittelsicherheit infrage. Zu der Sorge, ob die Gelder für Weizenkäufe ausreichen, kommt jetzt das Problem, wo man überhaupt noch kaufen kann.

Europa kann nur in geringem Umfang liefern, seine Produktionskapazitäten haben das Maximum bereits erreicht. Am 21. März 2022 beschlossen die Landwirtschaftsminister der Europäi­schen Union, eine Verfügung der Gemeinsamen Agrarpolitik vorübergehend auszusetzen, die eine Stilllegung von 4 Prozent der Nutzfläche vorsieht.

Diese im Rahmen der Verstärkung „der Lebensmittelsicherheit und -souveränität“ der Europäischen Union beschlossene Maßnahme könnte theoretisch die Getreideproduktion in Europa erhöhen. Praktisch jedoch werden häufig sowieso nur Flächen stillgelegt, die nicht unmittelbar genutzt werden können.

Wenn sich der Krieg in der Ukraine hinzieht, könnten auch die Europäer versucht sein, größere strategische Reserven anzulegen und ihre Exporte zu beschränken. Das bekämen dann auch Marokko und Algerien zu spüren, die große Mengen Weizen aus Frankreich importieren. Algerien zum Beispiel bezieht aus Frankreich den überwiegenden Teil seines Importweizens, der den Jahresverbrauch von 11 Millionen Tonnen zu 60 Prozent abdeckt.

Seit zwei Jahren ist Algerien jedoch dabei – vornehmlich wegen diplomatischer Spannungen mit Frankreich –, die Palette seiner Lieferanten zu erweitern. 2020 hat das Staatliche Amt für Getreide seine Anforderungen an die offiziellen Qualitätskriterien gesenkt, um auch ukrainischen oder russischen Weizen kaufen zu können, der bisher nicht die Hygienestandards erfüllte. Schon 2021 hatten die französischen Getreideproduzenten weniger als 1,2 Millionen Tonnen nach Alge­rien exportiert, gegenüber 2 bis 4 Millionen Tonnen in früheren Jahren. Seit dem Krieg in der Ukraine hat Algier seine Käufe in Frankreich wieder aufgenommen.8

Während die Importländer neue Lieferländer suchen, taucht ein unerwarteter Akteur auf dem Markt auf: Indien ist mit 14 Prozent (90 Tonnen) der zweitgrößte Weizenproduzent der Welt nach China, das 130 Millionen Tonnen produziert. Bisher wurde die Ernte fast vollständig vom Binnenmarkt absorbiert. Um die Selbstversorgung des Landes zu sichern, garantiert die Regierung den Bauern einen Kaufpreis über dem Weltmarktkurs. Für 2022 wird eine reiche Ernte erwartet. In­diens erklärtes Ziel ist der Verkauf von 10 Millionen Tonnen, was seinen Anteil am globalen Export von 1 auf 5 Prozent steigern würde.

Iran, Indonesien, Tunesien und Nigeria haben bereits geordert oder ihr Interesse bekundet. Auch Ägypten will Indien – nach anfänglichen Bedenken wegen der hohen Pestizidbelastung und des geringen Proteingehalts des indischen Weizens – zum „Großlieferanten“ machen.

Neu-Delhi hat auch die Märkte in Ost- und sogar im südlichen Afrika im Auge. Das könnte die Spannungen mit den USA erneut anfachen, wo im Kongress immer wieder Klagen über die Subventionen für die indischen Landwirte laut werden. Manche Abgeordnete fordern die US-Regierung sogar auf, bei der WHO ein Verfahren gegen In­dien einzuleiten.

In den USA sind die Getreidefarmer, die 60 Millionen Tonnen produzieren und beim Export mit ungefähr 26 Mil­lio­nen Tonnen immer schon mit Russland konkurriert haben, durch die Stärke des Dollar ins Hintertreffen geraten. Aber auch sie werden versuchen, die Lieferausfälle, die der Krieg in der Ukrai­ne nach sich zieht, zu ihren Gunsten zu nutzen.

1 „World Food Situation“, Bulletin vom 8. April 2022.

2 Zur Geschichte des Weizens siehe Bee Wilson, „Mehl so weiß“, LMd, August 2021.

3 Wenn nicht anders angegeben, wurden die Zahlen in diesem Artikel den Monatsberichten des US-Landwirtschaftsministeriums (USDA) entnommen.

4 Siehe „Ukraine eyes Romanian port for key farm exports“, The Strait Times, 1. April 2022.

5 Siehe António Guterres, „Global Impact of War in Ukraine on Food, Energy and Finance Systems“, in: Africa Renewal, Mai 2022 / 13. April 2022.

6 Reuters, März 2022.

7 Caitlin E. Werrell und Francesco Femia (Hg.), „Climate Change and the Arab Spring: How Climate Change Impacts Contributed to the Outbreak of the Arab Spring in Egypt in January 2011“, Februar 2013, climateandsecurity.org.

8 Im April kaufte Algerien 600 000 Tonnen Brotweizen für 485 Dollar pro Tonne, siehe „Importations de blé: l’Algérie se tourne de nouveau vers le marché français“, Algérie-Eco, 12. März 2022.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 12.05.2022, von Akram Belkaïd