12.05.2022

Asymmetrische Aufmerksamkeit

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Asymmetrische Aufmerksamkeit

Warum der Globale Süden das westliche Narrativ zum Krieg in der Ukraine nicht teilt

von Alain Gresh

Delegation der Arabischen Liga in Moskau, 4. April 2022 MIKHAIL METZEL/picture alliance/dpa/TASS
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Findet in der Ukraine die ­weltweite Schlacht zwischen „Demokratie und Autokratie“ statt, wie der US-amerikanische Präsident Joe Biden verkündet und die westlichen Kommentatoren und Politiker in Endlosschleife wiederholen?

Nein, meint der US-Journalist Robert Kaplan, „auch wenn es kontra-intuitiv erscheint“. Schließlich sei die Ukraine selbst „seit vielen Jahren der hoffnungslose Fall einer schwachen, korrupten und institutionell unterentwickelten Demokratie“. In der Rangordnung der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag das Land 2021 auf Platz 97 (von 180).

Nach Kaplan geht es in diesem Kampf um etwas „Größeres und Grundlegenderes, um das Recht der Völker überall auf der Welt, über ihre Zukunft zu entscheiden und von nackter Aggression verschont zu werden“.1 Dabei erwähnt Kaplan die offensichtliche Tatsache, dass zu den Verbündeten der USA auch etliche „Autokraten“ gehören, was ihn nicht weiter stört.

Im Globalen Norden sind abweichende Stimmen über den Krieg in der Ukraine selten und werden kaum gehört. Hier hat sich erneut ein Einheitsdenken durchgesetzt; in der „restlichen Welt“ dagegen, die immerhin die Mehrheit der Menschheit ausmacht, sieht man den Krieg durch eine andere Brille.

Aus der Perspektive des Globalen Südens konstatiert etwa Tedros Adhanom Ghebreyesus, Präsident der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass das Geschehen in Tigray und in Jemen, Afghanistan oder Syrien nicht dieselbe Aufmerksamkeit erhalte wie der Krieg in der Ukraine: „Ich weiß nicht, ob die Welt dem Leben von Schwarzen und Weißen die gleiche Beachtung schenkt.“ Der WHO-Chef hatte schon im Hinblick auf die Coronakrise bemerkt, manche Menschen seien offenbar „gleicher als andere“.2

Hier liegt einer der Gründe, weshalb sich zahlreiche – insbesondere auch afrikanische Staaten – bei den UN-Resolutionen zur Ukraine enthalten haben. Zu denen gehörten natürlich die Diktaturen Zentralasiens, aber auch Südafrika und Indien, Armenien und Mexiko, Senegal und Brasilien.3 Und kein nichtwestliches Land, mit Ausnahme von Singapur, scheint bereit zu sein, Russland mit Sanktionen zu belegen.

Nach der Rückkehr vom Doha-Forum, an dem Ende März gut 2000 Politiker, Journalisten und Intellektuelle aus allen Teilen der Welt teilnahmen, erklärte Trita Parsi, Vizepräsident des Quincy Institute for Responsible Statecraft in Washington, die meisten Länder des Südens würden sehr wohl mit dem ukrainischen Volk mitfühlen und Russland als Aggressor ansehen. Doch die westliche Forderung, teure Opfer zu bringen, indem sie ihre Wirtschaftsbeziehungen zu Russland abbrechen, um eine „regelbasierte Ordnung“ zu bewahren, würde „allergische Reaktionen“ auslösen. Der Grund: „Diese Ordnung war nicht regelbasiert, denn sie hat den USA gestattet, ungeahndet internationales Recht zu brechen.“4

Zu den Sanktionsverweigerern gehört zum Beispiel Saudi-Arabien, ein enger Verbündeter der USA im Nahen Osten. Die Saudis haben die antirussische Kampagne nicht unterstützt und rufen im Ukrainekrieg zu Verhandlungen zwischen beiden Seiten auf. Diese „neutrale“ Haltung wurde durch mehrere Faktoren befördert. Dazu gehört die 2020 erfolgte Gründung der Opec+, durch die Russland in die Verhandlungen über die Höhe der Erdölproduktion involviert ist. Das führte zu einer fruchtbaren Abstimmung zwischen Riad und Moskau, das die Beziehung sogar – übertrieben optimistisch – als „strategisch“ bezeichnet.5

Besondere Beachtung fand die Anwesenheit des saudischen Vizeverteidigungsministers Prinz Chalid bin Salman auf der Moskauer Militärtechnikmesse „Army“ im August 2021. Der Minister unterzeichnete mit seinem russischen Pendant einen Vertrag über „militärische Kooperation“, der an eine langjährige Zusammenarbeit bei der zivilen Nutzung der Atomkraft anknüpft.

Außerdem ist Russland mittlerweile ein unentbehrlicher Vermittler in allen Krisen des Nahen Ostens geworden. Es ist nämlich die einzige Macht mit regelmäßigen Kontakten zu allen regionalen Akteuren und selbst zu denen, die ein unterkühltes Verhältnis miteinander haben oder die sich sogar bekriegen; also zu Is­rael und zu Iran, zu den Huthis und zu den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), zur Türkei und zu kurdische Gruppen.

Ein weiterer Faktor: die festgefahrenen Beziehungen zwischen Riad und Washington. Am Golf wächst die Überzeugung, dass die USA keine zuverlässigen Verbündeten mehr sind. Man erinnert sich, wie Washington 2011 den ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak „fallen lassen“ hat. Aber auch an den kläglichen Rückzug aus Afghanistan oder an die Rückkehr der USA zu Verhandlungen über das iranische Atomprogramm, entgegen den Einwänden ihrer regionalen Verbündeten; oder an die ausbleibende Reaktion selbst der Trump-Regierung, als die jemenitischen Huthis mit ihren Drohnen saudische Erdölanlagen angriffen.

Die Wahl Bidens hat das Klima weiter vergiftet. Nach der Ermordung des Journalisten Jamal Kashoggi im Oktober 2018, für den die US-Geheimdienste den mächtigen saudischen Erbprinzen Mohammed bin Salman („MBS“) verantwortlich machen, hatte Biden angekündigt, Saudi-Arabien als „Paria“ zu behandeln. Später kündigte er an, den Saudis die Unterstützung für ihren Krieg in Jemen zu entziehen.

Bidens Ankündigungen hatten allerdings wenig erkennbare politische Folgen, sieht man von der Verweigerung eines direkten Kontakts mit MBS ab. Als der Präsident schließlich doch bereit war, MBS anzurufen, um mit Blick auf den Ukrainekrieg um eine Steigerung der Erdölförderung zu bitten, war der starke Mann von Riad nicht für ihn zu sprechen.6 Dazu hört man aus Riad: „Warum reden die USA so spät mit uns, nach all ihren westlichen Verbündeten? Unsere Unterstützung sollte nicht von vornherein als gesichert angesehen werden.“

Die saudische Presse hält sich mit Seitenhieben gegen die USA nicht zurück. So schreibt die einflussreiche Tageszeitung Al Riyadh: „Die alte Weltordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, war bipolar; nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde sie unipolar. Heute erleben wir den Beginn eines Wandels zu einem multipolaren System.“ Mit Blick auf den Westen heißt es weiter: „Einige Länder wollen mit ihrer Haltung zu diesem Krieg nicht die Prinzipien der Freiheit verteidigen, sondern ihr Interesse, die bestehende Weltordnung zu erhalten.“7

Diese Sichtweise ist im Nahen Osten weit verbreitet und bedient sich zweier Argumentationslinien. Die eine besagt, dass Russland nicht allein für den Krieg verantwortlich sei, der sei vielmehr vor allem eine Auseinandersetzung zwischen Großmächten um die Hegemonie in der Welt. Es gehe also nicht um die Achtung des Völkerrechts, weshalb der Krieg die arabische Welt nicht betreffe.

Auch Ägypten ist ein enger Verbündeter der USA. Ein Kommentar in der regierungsnahen Zeitung al-Ahram sieht den Krieg als „eine Auseinandersetzung zwischen den USA und den westlichen Staaten auf der einen und den Ländern, die deren Hegemonie ablehnen, auf der anderen Seite“. Washington wolle die Weltordnung neu gestalten, weil man erkannt habe, dass die bestehende Ordnung nicht den eigenen Interessen entspreche, sondern vielmehr China stärke. Die USA, heißt es weiter, „sind in Panik wegen des bevorstehenden Endes ihrer Weltherrschaft und sind sich bewusst, dass der gegenwärtige Konflikt in der Ukraine die letzte Chance ist, diese Position zu erhalten“.8

Die zweite Argumentationslinie der arabischen Medien hebt auf die Doppelzüngigkeit des Westens ab: Was ist mit Demokratie, Freiheit, Selbstbestimmungsrecht der Völker? Was mit Kriegsverbrechen? Können die USA, die Serbien und Libyen bombardiert haben, die in Afghanistan und im Irak einmarschiert sind, sich auf internationales Recht berufen? Haben nicht auch sie Streubomben, Phosphorbomben und Raketen mit angereichertem Uran eingesetzt?9 Die Kriegsverbrechen der US-Armee in Afghanistan und im Irak sind gründlich dokumentiert, aber das hat nie zu einer Anklage geführt. Und man tut den Ukrainern kein Unrecht, wenn man feststellt, dass die Zerstörungen in diesen beiden Ländern weit über das hinausgeht, was sie selbst bislang erleiden mussten.

Wladimir Putin gehört vor den Internationalen Strafgerichtshof? Die USA haben das Statut des IStGH noch immer nicht ratifiziert. Ein Journalist der in London erscheinenden palästinensischen Zeitung al-Quds al-arabi hat auf ein hochironisches Detail verwiesen: Nach der Invasion im Irak 2003 brachte der britische Economist auf seiner Titelseite ein Farbfoto von George Bush mit der Überschrift: „Now, the waging of peace“ („Jetzt in den Frieden ziehen“). Heute macht dasselbe Magazin mit einem Schwarzweißfoto von Putin auf, dessen Hirn ein Panzer ist; und die Titelzeile lautet: „Wie weit wird er gehen?“10

Die Ukraine ist nur zum Teil und erst seit einigen Wochen besetzt. Aber seit Jahrzehnten ist das von Israel vollständig okkupierte Palästina eine offene Wunde im Nahen Osten, ohne dass es Solidarität von den westlichen Regierungen erfahren hätte, die Israel vielmehr nach wie vor eine Blankovollmacht gewähren. In der al-Quds al-arabi wird an die verzweifelten Hilferufe der Palästinenser erinnert, an die Bomben auf Gaza, an Morde, Landraub und die Zerstörung von Häusern im Westjordanland, „das alle internationalen Resolutionen als besetzte Territorien ansehen“.11 Was die israelische Regierung betrifft, so konnte Präsident Selenski mit seiner Rede vor der Knesset, die eine Parallele zwischen der Si­tua­tion seines Landes und des „von Zerstörung bedrohten“ Israel zog, nicht die erhoffte Unterstützung gewinnen. Israel hält an seinen engen Beziehungen zu Moskau fest.12

Im Westen wird häufig argumentiert, die öffentliche Meinung (und die Medien) der arabischen Länder seien sowieso antiwestlich. Warum sollte man sich also um das scheren, was in europäischen Hauptstädten und in Washington zuweilen abfällig als die „arabische Straße“ bezeichnet wird? Im Ersten Golfkrieg (1990/91) war es schließlich gelungen, Saudi-Arabien, Ägypten und Syrien gegen den Willen ihrer Völker an der Seite der USA in den Krieg hineinzuziehen.

Im Krieg gegen die Ukraine sind all diese Länder auf Distanz gegangen, auch wenn sie alte Verbündete der USA sind. Am 23. Februar traf sich der Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate, Abdullah bin Zayid Al Nahyan, in Moskau mit Sergei Lawrow und lobte die engen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Die ägyptische Regierung ignorierte die wenig diplomatische Aufforderung der G7-Botschafter in Kairo, die russische Invasion zu verurteilen. Und selbst Washingtons treuer Verbündeter Marokko glänzte bei der Abstimmung der UNO über die Ukraine am 2. März durch Abwesenheit.

Allerdings sind die USA mit der Präsenz mehrerer zehntausend Soldaten, mit Militärbasen in Bahrain, Katar und den VAE und mit ihrer V. Flotte nach wie vor ein wichtiger Akteur in der Re­gion, den man nicht ernsthaft verärgern will. Wenn sich viele arabische Staaten im Fall Ukraine zurückhalten, hat dies nichts mit einer strategischen Opposition gegen den Globalen Norden zu tun (etwa nach dem Vorbild der Bewegung der „Blockfreien“ zu Zeiten des Kalten Kriegs). Vielmehr verfolgen sie nur ihre eigenen Interessen. In Abwandlung eines Zitats des britischen Politikers Lord Gladstone könnte man sagen, dass die Staaten nach dem Kalten Krieg keine Freunde oder ständige Paten mehr haben, sondern nur wechselnde und schwankende Verbündete für eine begrenzte Dauer.

Allerdings bleibt abzuwarten, ob mögliche militärische Rückschläge und die Sanktionen gegen Russland bei einigen arabischen Ländern die nachsichtige Politik gegenüber Moskau aufweichen werden. Doch die früheren ideologischen Trennlinien sind verwischt, und die „neue Weltordnung“, die Washington nach dem Ersten Golfkrieg angekündigt hatte, ist längst in der irakischen Wüste versandet.

Stattdessen schält sich aus dem Chaos eine multipolare Konstellation heraus, die dem „Rest der Welt“ größere Handlungsspielräume bietet. Freilich ist das Banner der Revolte gegen den Westen ebenso wenig dazu geeignet, den Weg in eine Welt zu weisen, in der das Völkerrecht das Recht des Stärkeren besiegt.

1 „To Save Democracy, We Need a Few Good Dictators“, Bloomberg, 1. April 2022.

2 Siehe: „Ukraine attention shows bias against black lives, WHO chief says“, BBC, 14. April 2022.

3 In den genannten Ländern gibt es regelmäßig Wahlen mit mehreren Kandidaten; ob alle „Demokratien“ sind, ist eine andere Frage.

4 „Why non-Western countries tend to see Russia’s war very, very differently“, MSNBC, 12. April 2022.

5 Konstantin Truevtsev, „Russia’s New Middle East Strategy: Countries and Focal Points“, Valdai Discussion Club Report, Februar 2022. Valdai ist eine russische Denkfabrik für internationale Politik.

6 Siehe Wall Street Journal, 8. März 2022.

7 Zitiert in BBC Monitoring, Saudi Arabia, London, 8. März 2022.

8 Zitiert in Mideast Mirror, London, 7. April 2022.

9 Siehe Kamal Al Ayash „Geboren in Falludscha“, LMd, November 2019.

10 Zitiert in Mideast Mirror, London, 3. März 2022.

11 Siehe Anmerkung 10.

12 Siehe Sylvain Cypel, „Les raisons de la com­plai­sance israélienne envers la Russie“,Orient XXI,24. März 2022.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Alain Gresh ist Direktor der Onlinezeitungen OrientXXI.info und AfriqueXXI.info.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2022, von Alain Gresh