12.05.2022

Welche Zukunft für die UNO?

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Welche Zukunft für die UNO?

von Anne-Cécile Robert

Marion Eichmann, Inverter, 2020, 52,5 x 62,5 cm
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Die Szene spielt im Sicherheitsrat der Vereinten Na­tio­nen am 21. Februar 2022: Kenias UN-Botschafter Martin Kimani hat gerade die Drohungen Russlands gegen die Ukraine verurteilt, doch dann fügt er hinzu: „Wir verurteilen auch entschieden den Trend der vergangenen Jahrzehnte, dass mächtige Staaten, darunter Mitglieder dieses Sicherheitsrats, ohne große Bedenken gegen das Völkerrecht verstoßen.“

Kimanis Rede endete mit einem dringenden Appell: „Heute Abend liegt der Multilateralismus auf dem Totenbett. Er wurde angegriffen, wie schon von anderen mächtigen Staaten in jüngster Vergangenheit. Wir rufen alle Mitgliedstaaten dazu auf, sich geschlossen hinter den Generalsekretär zu stellen und für die Werte des Multilateralismus einzustehen.“

Selten findet man die seit mehr als zehn Jahre schwelende internationale Krise, die für die UNO inzwischen eine existenzielle Bedrohung darstellt, so prägnant beschrieben. Und der kenianische Diplomat hat recht: Die Ukrai­ne-­Invasion ist keineswegs der erste eklatante Verstoß eines der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats (USA, Russland, China, Groß­britan­nien, Frankreich) gegen die Grundprinzipien der UN-Charta und vor allem das Verbot der Gewaltanwendung und den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten.1

Zu den klarsten Verstößen gehört die Irak-Invasion von 2003 durch eine von Washington angeführte „Koalition der Willigen“. Weniger Beachtung fand die illegale Bombardierung syrischer Einrichtungen durch die USA, Frankreich und Großbritannien am 14. April 2018. Damals erinnerte UN-Generalsekretär António Guterres im Sicherheitsrat an die Verpflichtung, „im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen und generell des internationalen Rechts zu handeln“. Da die „Hauptverantwortung für die Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit“ beim Sicherheitsrat liege, rief Guterres deren Mitglieder auf, „sich zu vereinigen und dieser Verantwortung nachzukommen“.

Vier Jahre später ist die Reaktion der UN auf den russischen Angriff gegen die Ukraine durch eine Mischung aus Wut und Schockstarre gekennzeichnet. Im Sicherheitsrat ist dasselbe Schauspiel der Ohnmacht zu betrachten, mit denselben Darstellern. Am 25. Februar stimmten zwar 11 der 15 Mitglieder des Sicherheitsrats für die Resolution, die Moskaus Angriffskrieg verurteilt, aber das alleinige Veto Russlands reichte aus, eine Initiative zu begraben, die es dem Sicherheitsrat ermöglicht hätte, internationale Sanktionen zu verhängen. Oder sogar eine militärische Intervention zu beschließen – wie im Januar 1991 in Reaktion auf die irakische Invasion in Kuwait oder im März 2011 gegen Gaddafis Libyen.

Angesichts der Lähmung des Sicherheitsrats nahm die UN-Vollversammlung Zuflucht zu einem Verfahren, das 1950 mit der „Uniting for Peace“-Resolution eingeführt wurde. Seitdem kann die Vollversammlung zu einer politischen Krise dann Stellung nehmen, wenn der Sicherheitsrat durch eines seiner fünf ständigen Mitglieder blockiert ist. Die Vollversammlung kann allerdings keine Zwangsmaßnahmen beschließen, wozu nur der Sicherheitsrat befugt ist. Die beiden nach „Uniting for Peace“ erfolgten Verurteilungen Russlands, denen die Vollversammlung am 2. und am 24. März 2022 mit großer Mehrheit zustimmte, haben zwar hohen Symbolwert, können aber nicht über das Scheitern der von der UN-Charta vorgesehenen Interventionsmechanismen hinwegtäuschen.

Während ein erneuter Verstoß einer Großmacht gegen die UN-Charta die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen zu zerstören droht, startete deren höchster Repräsentant seine erste diplomatische Initiative erst am 19. April mit einer Reise nach Moskau und nach Kiew. Zuvor hatte Guterres sich sechs Wochen lang vor allem mit der humanitären Dimension der Ukrainekrise beschäftigt.

Von der UNO wisse man, dass sie „schwerfällig und wenig beweglich ist“, meint Didier Billion. Doch der stellvertretender Direktor des Institut de relations internationales et stratégiques (Iris) findet die politische Nichtexistenz ihres Generalsekretärs seit Beginn der Ukrainekrise besonders irritierend: „Keinerlei konkreter Schritt gegenüber den Hauptprotagonisten des Krieges, kein bedeutsamer Vorschlag seitens einer Organisation, die eigentlich den Multilateralismus verkörpern und die internationalen Beziehungen regeln soll. Dieses Versagen ist besorgniserregend.“2

Keine gemeinsamen Regeln, keine gemeinsame Sprache

Man muss Guterres nicht mit dem legendären Generalsekretär Dag Hammarskjöld vergleichen, der 1961 im Kongo bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, als er die Abspaltung der Provinz Katanga zu verhindern versuchte.3 Vom heutigen Generalsekretär kann man nicht erwarten, dass er vergleichbare Risiken eingeht. Aber man kann schon an einige seiner Vorgänger erinnern, die Initiative zeigten und sich engagiert um die Deeskalation von Konflikten bemühten.

So hat zum Beispiel Boutros Bou­tros-­Ghali 1996 eine Untersuchung zum israelischen Artillerieangriff auf einen UN-Posten in Kana (Libanon) angestoßen4 , die damals Washington erzürnt und den Ägypter eine zweite Amtszeit gekostet hat. Und der Ghanaer Kofi Annan flog im Februar 1998 nach Bagdad, um von Saddam Hussein die Einwilligung zu einer internationalen Inspektion der irakischen Militäranlagen zu erwirken, als London und Washington bereits mit einem Mili­tär­ein­satz drohten.

Der Schweizer Soziologe und ehemalige UN-Sonderberichterstatter Jean Ziegler fordert, wie auch Kofi Annan, die Abschaffung des Vetorechts der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats im Fall von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.5 Diese scheinbar simple Idee lässt allerdings die Geschichte der UNO außer Acht, die 1945 unter dem Eindruck des schrecklichen Zweiten Weltkriegs entstanden ist. Und zwar aufgrund eines Abkommens zwischen den Großmächten, die sich darauf einigten, die neue Weltorganisation – anders als den Völkerbund – mit echter Zwangsgewalt auszustatten. Dafür reservierten sie sich das Privileg, eine Entscheidung einzig mit ihrer Stimme blockieren zu können. Ohne Vetorecht keine UNO. Mit der Abschaffung dieses Rechts würde man paradoxerweise eine weitere Schwächung der Organisation riskieren. Die Großmächte und mittelgroße Staaten würden sich womöglich von ihr abwenden, womit die Welt in konkurrierende Einflusssphären zerfallen könnte.

An weiteren Reformvorschlägen mangelt es indes nicht. So könnte man die Gruppe der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat durch andere Staaten erweitern, damit der geschlossene Klub der Vetomächte geografisch ausgewogener wäre. Diese Idee kommt von der Afrikanischen Union wie auch von der „G4“ (Deutschland, Japan, Brasilien, Indien). Aber ein Konsens erscheint schwierig. 2005 scheiterten die Vorschläge von Kofi Annan für eine bessere Repräsentativität im Sicherheitsrat und eine Stärkung des Einflusses der nichtständigen Mitglieder an den fünf ständigen Mitgliedern, die mit ihrem Vetorecht jede Revision der UN-Charta vereiteln können.6

Allerdings lenkt die Verfahrensblockade vom eigentlichen Problem ab: Es gibt keinen politischen Dialog, schon gar nicht zwischen den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats. Im Fall Syrien nutzte Russland schamlos 14-mal sein Veto gegen Resolutionen, die Ermittlungen zum Einsatz von Chemiewaffen und Sanktionen gegen seinen Schützling Baschar al-Assad vorsahen.

Umgekehrt blockierte auch der Westen russische Gegenvorschläge, wie folgendes Beispiel zeigt: Am 20. Dezember 2019 verhinderte Russland – zusammen mit China – eine Resolution des Sicherheitsrats, die weitere Lieferungen von Hilfsgütern nach Syrien über bestimmte Grenzübergänge ermöglichen sollte. Moskau legte dann einen eigenen Text vor, der weniger Grenzübergänge vorsah, aber nicht die nötige Mehrheit bekam. Die wünschenswerte humanitäre Unterstützung scheiterte in dem Fall sowohl am Zynismus Moskaus, das die Verbrechen Assads deckt, als auch am moralischen Rigorismus des Westens, der zuweilen einen politischen Kompromiss verhindert.

1945 bekannten sich die 51 Gründungsstaaten der UNO gemäß Artikel 1 der Charta von San Francisco zum Ziel des Friedens sowie zu wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und wissenschaftlicher Zusammenarbeit. Nach Absatz 4 dieses Artikels soll die Weltorganisa­tion das Zentrum sein, „in dem die Bemühungen der Nationen zur Verwirklichung dieser gemeinsamen Ziele aufeinander abgestimmt werden“.

In diesem Sinne hat die UNO die Dekolonisierung organisiert und zahlreiche Konflikte und Krisen moderiert und gelöst. Ihre Blauhelme schützen tagtäglich Millionen Menschen und humanitäre Hilfseinsätze (Nahrung, Medizin, Flüchtlingshilfe), die weiteren Millionen Menschen – von der Ukrai­ne bis zur Demokratischen Repu­blik Kongo – das Überleben sichert. Dieses multilaterale System ermöglichte selbst zu Zeiten des Kalten Kriegs diskrete Verbindungen zwischen den beiden Blöcken und eine Annäherung, die den Eisernen Vorhang mit der Zeit zum Schmelzen brachte.

Heute bevorzugen die Großmächte zur Regelung ihrer Angelegenheiten häufig Ad-hoc-Strukturen wie die G20 oder das 2018 gestartete Pariser Friedensforum. Die Historikerin Sandrine Kott konstatiert, der „Internationalismus des Kalten Kriegs“ sei allmählich durch die „Logik des Globalismus, sprich die allgemeine Konkurrenz zwischen Individuen, Gruppen und Staaten“ abgelöst worden. Damit mache sich der neoliberale Paradigmenwechsel auch auf internationaler Ebene bemerkbar. Bedeutet dies, dass die UNO zu einer humanitären Superagentur mutiert und dass Frieden und Sicherheit den Unwägbarkeiten der Macht­politik überlassen sind?

Gérard Arand, ehemals Botschafter Frankreichs in Washington, twitterte am 5. April, früher hätten die wichtigsten Mächte gemeinsame Verhaltensregeln akzeptiert. Jetzt aber werde „die Welt wieder multipolar, ohne jedoch gemeinsame Regeln und eine gemeinsame Sprache zu haben“.

Der Bruch zwischen den Großmächten scheint irreparabel. Boris Johnson empfiehlt inzwischen, Russland aus dem Sicherheitsrat und sogar aus der UNO auszuschließen. Das ginge aber nur auf Empfehlung des Sicherheitsrats – unmöglich wegen des Vetos – oder über eine Änderung der UN-Charta, für die allerdings ein Votum der Vollversammlung nötig wäre, dem ebenfalls die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats zustimmen müssten.

Offenbar haben sich die meisten Staaten, anders als in früheren Krisenzeiten, aus ihren überkommenen vormundschaftlichen Verhältnissen befreit und sind bereit, sich jenseits traditioneller Allianzen oder Affinitäten zu positionieren. Die zwei Resolutionen zur Verurteilung der russischen Aggression gegen die Ukraine vom 2. und vom 24. März erlangten zwar breite Zustimmung, aber eine beträchtliche Zahl von Staaten übte Enthaltung (37 und 41) oder blieb der Abstimmung fern (9 und 5).

Am 7. April setzte die UN-Vollversammlung die Mitgliedschaft Russlands im Menschenrechtsrat aus. Angesichts der Schwere der Russland vorgehaltenen Kriegsverbrechen in der Ukrai­ne war das Votum eine ­klare Sache: 93 Länder stimmten für den Ausschluss, 24 dagegen, 58 enthielten sich. Der Westen muss feststellen, kommentiert der libanesische Diplomat Gahssan Salamé in einem Tweet vom 25. März, dass seine „wiedergefundene Einheit mit seiner relativen Isolierung einhergeht“. Das zeige die Mischung aus „Unverständnis, Indifferenz, leichter Schadenfreude und zuweilen offener Feindschaft“, die der Rest der Welt gegenüber dem Westen an den Tag ­lege.

„Warum soll Afrika sich alten Kolonialmächten anschließen“, fragt der senegalesische Journalist Gorgui Wade Ndoye. Und erinnert daran, dass Europa nicht auf Afrika gehört hat, als die Afrikanische Union 2011 einen Plan zur Beendigung der Libyenkrise auf den Tisch legte.8

Während sich die internationalen Beziehungen inmitten des gegenwärtigen Chaos neu konfigurieren, ist die kollektive Sicherheit gefährdeter denn je seit der Kubakrise von 1962. Deshalb fordert Ndoye eindringlich eine Reform der UNO, die ihre Glaubwürdigkeit wiederherstellt und ihr die nötigen Mittel verschafft, „um den universellen Frieden zu erhalten und die Menschenwürde zu schützen“.

1 Das Gewaltverbot ist in Artikel 2/4 der UN-Charta verankert; das völkergewohnheitsrechtliche Interventionsverbot nach Artikel 2/7 wurde durch mehrere Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs präzisiert.

2 Didier Billion, „La situation internationale ouverte par la guerre en Ukraine: se parer des raisonnements binaires et du prêt à penser idéologique“, Iris, 5. April 2022.

3 Laut einem Untersuchungsbericht der UN gibt es plausible Hinweise auf ein Attentat. Siehe „Der mysteriöse Tod eines UN-Generalsekretärs“, Süddeutsche Zeitung, 2. Februar 2020.

4 Bei dem Angriff wurden 106 Zivilisten getötet, die im UN-Posten Zuflucht gesucht hatten.

5 Interview mit der Abendzeitung, 22. März 2022.

6 „Dans une liberté plus grande. Développement, sécurité et respect des droits de l’homme pour tous“, 24. März 2005.

7 Le Temps (Genf), 30. März 2022. Zum AU-Plan siehe Alex de Waal, „The African Union and the Libya Conflict of 2011“, World Peace Foundation, 19. Dezember 2012.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Le Monde diplomatique vom 12.05.2022, von Anne-Cécile Robert