12.05.2022

Der Stocamine-Skandal

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Der Stocamine-Skandal

von Véronique Parasote

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Seit 20 Jahren lagern im Elsass in stillgelegten Kaliminen feuergefährliche und schädliche Stoffe. Es ist Frankreichs einzige Untertage­deponie. Einst sollte hier nur sogenannter ungefährlicher Müll zwischengelagert werden.

1997 bekam das Unternehmen Stocamine, eine Tochtergesellschaft der Staatsfirma Mines de Potasse d’Alsace (MDPA), die Genehmigung für den Betrieb „einer reversiblen unterirdischen Stätte zur Lagerung von Industrieabfällen“. Zugelassen waren nichtradioaktive, feste, inerte und unentzündliche Stoffe – insgesamt 320 000 Tonnen Abfall durften unter dem Kaliwerk Joseph-Else in Wittelsheim bei Mulhouse eingelagert werden.

Zwischen 1999 und 2002 wurden nach und nach 44 000 Tonnen Müll in neu gegrabenen Stollenblöcken verteilt. Man hatte sich damals auf eine reversible und streng überwachte Zwischenlagerung festgelegt, weil damit gerechnet wurde, dass es zukünftig möglich sein würde, die eingelagerten Stoffe technologisch aufzubereiten. Doch dann brach am 10. September 2002 ein Feuer aus und verwüstete Block 15, in dem 1775 Tonnen Abfall gelagert waren. 76 Angestellte erlitten Vergiftungen. Die Müllentsorgung wurde gestoppt und die Deponie ein Jahr später stillgelegt.

Bei dem Ermittlungsverfahren stellte sich heraus, dass der Geschäftsführer von Stocamine gegen seine Sicherheitsverpflichtungen verstoßen hatte. Seine Belegschaft, sein Stellvertreter und die Gewerbeaufsicht hatten ihn davor gewarnt, die feuergefährlichen Abfälle der Firma Solupack zu genehmigen, die später den Brand auslösten. Am 15. April 2009 wurden er persönlich und die Firma Stocamine in einem Berufungsprozess wegen „Fremdgefährdung“ verurteilt.

Unter dem Grundwasserdepot des Oberrheins, einem der größten Europas, tickt seitdem eine Zeitbombe: „Laut offiziellen Schätzungen lagern dort 26 Tonnen Quecksilber, 1747 Tonnen Arsen, 33 Tonnen ­Kadmium, 32 Tonnen Chrom, 250 Tonnen Blei und 100 Tonnen Antimon“, erklärt François Zind, Anwalt der Umweltorganisation Alsace Nature. „Wir sprechen von 50 registrierten Schadstoffen, die größtenteils in Wasser und Salzsole löslich sind.“

Arsen, Quecksilber, Kadmium

Es ist auch keine Rede mehr von einer „reversiblen Zwischenlagerung“. Die Gefährlichkeit der giftigen Abfälle ist bewiesen, aber sie bleiben, wo sie sind, obwohl sie schnellstmöglich geborgen werden müssten. Weil die in das Kali­salz gegrabenen Hohlräume dazu tendieren, sich zusammenzuziehen, ist damit zu rechnen, dass die Stollen zwischen 2027 und 2029 kollabieren. Im geologischen Forschungsinstitut Bu­reau de recherches géologiques et mi­nières geht man davon aus, dass danach die Gänge geflutet werden und sich die in der Deponie gelagerten Stoffe auflösen; binnen 600 bis 1000 Jahren wird die mit Schadstoffen kontaminierte Sole in die 500 Meter höher gelegenen Grundwasserschichten eindringen.1

Nachdem der Rechnungshof die Regierung 2014 wegen ihrer abwartenden Haltung ermahnt hatte, ließ diese zahlreiche Expertisen anfertigen, um ihre bevorzugte Lösung, nämlich die Versiegelung der Deponie mit Betonmauern, durchzusetzen. Zwei Jahre nach dem Brand in Wittelsheim wurde auf Antrag des UPM-Abgeordneten Michel Sordi, der das Département Haut-Rhin vertritt, das Umweltgesetzbuch geändert. Dadurch konnte die unterirdische Lagerung von gefährlichen Stoffen unbefristet genehmigt werden, „wenn die Müllzufuhr seit mindestens einem Jahr eingestellt ist“.

Anwohner und Abgeordnete aus allen politischen Lagern machten danach so lange Druck, bis wenigstens die giftigsten Stoffe geborgen wurden. 95 Prozent der quecksilberhaltigen Abfälle wurden zwischen 2015 und 2017 aus der Tiefe geholt. Von den restlichen 42 000 Tonnen Abfall sind 25 Prozent löslich, was „laut zahlreicher Berichte ein Risiko für die Trinkbarkeit des Wassers – das einzige vom Staat berücksichtigte Kriterium – darstellt“, erklärt Zind. „Dabei kann die ganze Nahrungskette beeinträchtigt werden, die mit den Oberflächengewässern in Verbindung steht. Schließlich handelt es sich bei den allermeisten Abfällen um hormonaktive Substanzen.“

Seit 2002 fließen jedes Jahr 5 Mil­lio­nen Euro in die Deponie. Die weiteren Kosten hängen davon ab, welche Maßnahmen vor der Versiegelung noch ergriffen werden. Ohne Bergung weiterer Abfälle belaufen sie sich auf 87 Millionen, bei Entfernung ausschließlich der löslichen Giftstoffe auf 246 bis 307 Millionen und bei Leerung der kompletten Deponie auf 379 bis 440 Millionen Euro. Die beiden letztgenannten Szenarien sind aus staatlicher Sicht zu kostspielig und gefährlich, weshalb die Regierung auf die Endlagerung der restlichen Abfälle setzt. Trotz der Risiken und Proteste genehmigte der Präfekt des Départements Haut-Rhin im März 2017 die unbefristete Versiegelung. Die Vorbereitungen sind bereits im Gange.

Frédéric Bierry, Präsident der Gebietskörperschaft Elsass, lässt die Kostenfrage nicht gelten: „In Niedersachsen hat die deutsche Bundesregierung in einer ähnlichen Situa­tion letztlich die unverzügliche Bergung sämtlicher Abfälle beschlossen, was 2 Milliarden Euro gekostet hat. Wir haben keine langfristige Garantie für den Fall eines Auftriebs des Tiefenwassers. Schließlich soll hier der Untergrund einer Erdbebenzone versiegelt werden. Das ist nicht verantwortungsvoll gegenüber künftigen Generationen.“

Derweil liefert sich der Staat einen Wettlauf mit der Justiz. Das von Alsace Nature und den Gebietskörperschaften mit der Sache befasste Berufungsgericht von Nancy hat den Erlass des Präfekten am 15. Oktober 2021 primär aufgrund mangelnder finanzieller Garantien annulliert. Damit blockierte das Gericht die Versiegelungsarbeiten, deren Start für denselben Tag geplant war. Doch eine Gesetzesänderung, die einen Monat später klammheimlich in der Nationalversammlung verabschiedet wurde, genehmigte die Gewährung einer staatlichen Finanzgarantie gegenüber der MDPA und die Versiegelung der Deponie „auf unbegrenzte Dauer“.

Am 28. Dezember 2021 hat das Verfassungsgericht diese Verordnung, die es als „haushaltspolitischen Alleingang“ bezeichnete, wieder aufgehoben. Am 28. Januar 2022 erließ der Präfekt des Dé­parte­ments Haut-Rhin dann eine neue Verordnung zur Wiederaufnahme der Versiegelungsarbeiten. „Seit Jahren versuchen die Gebietskörperschaften mit dem Staat in einen Dialog zu treten“, klagt Jean Rottner, Präsident der Region Grand Est. „Wir haben sogar Industriebetriebe gefunden, die Lösungen hätten. Natürlich fragen wir uns mittlerweile, warum so wenig auf Transparenz und Verständigung gesetzt wird.“

Der Besuch der französischen Umweltministerin Barbara Pompili im Januar 2021 nährte die Hoffnung, doch noch ins Gespräch zu kommen. „Wir haben sie auf die eindeutigen Risiken aufmerksam gemacht. Einen Monat später bestätigte die Regierung dann lediglich ihre Absicht, die Deponie wie geplant zu versiegeln. Wir sind mit einer unbegreiflichen Sturheit konfrontiert“, schimpft der Direktor von Alsace Nature, Stéphane Giraud.

Neben zahlreichen französischen und europäischen Ex­per­t:in­nen fordern nun auch einige Minenarbeiter, dass die Abfälle geborgen werden. Es sei noch nicht zu spät, und es müsse gehandelt werden, solange es noch möglich ist. Der Staat hatte einst versprochen, dass die Stocamine-Deponie keine Dauerlösung wird. Nun steht seine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel.

⇥Véronique Parasote

1 „Stocamine, éléments complémentaires demandés au BRGM par la DGPR“, Bureau de recherches géologiques et minières (BRGM), 26. Oktober 2018.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Véronique Parasote ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2022, von Véronique Parasote