12.05.2022

Die vielen Gesichter von Medellín

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Die vielen Gesichter von Medellín

von Alcides Gómez, Forrest Hylton und Aaron Tauss

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Vom internationalen Flughafen Rionegro gibt es zwei mögliche Routen nach Medellín. Aber zuerst durchquert man in jedem Fall das kühle Hochland des Oriente cercano, wo einige der teuersten Liegenschaften Kolumbiens zu finden sind. Einige davon gehören Ex-Präsident Álvaro Uribe, der gerade wegen Korruption und Zeugenbeeinflussung vor Gericht steht.

Edelrestaurants, Bars, Shopping Malls, Sportwagen und Luxus-SUVs säumen hier den Straßenrand. Üppig blühen die Blumen zwischen dem Grün der Bäume und Felder. Die Luft ist rein und duftet nach Kiefern, selten steigt hier die Temperatur über 24 Grad.

Dann teilt sich der Weg. Aber egal, ob man die 600 Höhenmeter bis zum Talgrund über die noblen Villenvierteln Envigado und El Poblado im Süden fährt oder direkt hinunter durch die Vorstadt Gúarne und die Slums im Nordosten, wo schrottreife Autos, Lkws, Traktoren und Motorräder herumstehen: Die Annäherung an die Stadt spürt man körperlich: Man niest und hustet, die Augen tränen.

Wegen der Luftverschmutzung sind je nach Jahreszeit der Talgrund oder die Berge im Dunst nicht zu sehen. Der Lärm des Verkehrs und der Baustellen in der Stadt ist ohrenbetäubend, die Armut allgegenwärtig, auch in den besseren Wohnvierteln, wo private Sicherheitsdienste patrouillieren. Der Schriftsteller Hector Abad verglich das Tal von Medellín mit einem der Höllenkreise in Dantes „Inferno“.

Die Wirtschaft der Metropolre­gion, mit 4 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Kolumbiens, ist durch extreme Kapitalkonzentration gekennzeichnet. Die in den späten 1990er Jahren gegründete Grupo Empresarial Antioqueño (GEA) ist eine der mächtigsten Unternehmensgruppen nicht nur Kolumbiens, sondern ganz Lateinamerikas. In der Phase des industriellen Aufschwungs der Stadt beeinflusste sie entscheidend die dortige Politik und Verwaltung. Zwischen 1980 und 2004 verdreifachte sich die Zahl der Unternehmen, die zur Gruppe gehören, und ihre Gewinne wuchsen um mehr als das Achtfache. Sie weitete ihre Aktivitäten auf ganz Amerika aus. 2021 erwirtschaftete sie 7,1 Prozent des ko­lumbia­ni­schen Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Bancolombia, das Flaggschiff der Gruppe, ist eines der größten Geldhäuser des Landes, das ein Viertel des kolumbianischen Bankvermögens verwaltet. Seit 2013 hat es sich als führendes Unternehmen für Bank- und Finanzdienstleistungen in Zentralamerika und der Karibik etabliert. Ähnliches gilt für die Suramericana Group (Sura), die größte Versicherung Kolumbiens, die in den letzten zehn Jahren ihr Geschäft auf die gesamte Region ausweitete und auch in den USA aktiv ist. Die größte Subholding der GEA, die Argos-Gruppe, ist derzeit in 20 Ländern vertreten. Sie hatte ursprünglich Zement produziert, stieg dann aber auch in die Energieerzeugung, in Immobilien und in den Bau von Infrastruktur ein.

Die Nutresa Group wiederum ist Marktführer bei verarbeiteten Nahrungsmitteln wie Nudeln und Süßwaren. Sie besitzt 30 Produktionsstätten in Kolumbien, weitere 16 Standorte sind über ganz Mittelamerika und die USA verteilt. Alle vier Konzerne sind Subholdings der GEA.

Diese Konzentration von Eigentum, Kapital und Vermögen in der Stadt Medellín hat eine krasse Ungleichheit zur Folge; Prekarität und Armut sind in den comunas, den Armenvierteln am Stadtrand, allgegenwärtig. Die kolumbianische Regierung versucht, die Armut in den offiziellen Statistiken zu manipulieren, indem sie die Bewertungsmaßstäbe entsprechend anpasst. Die notwendigen Ausgaben von Haushalten werden kleingerechnet und Wohn­eigen­tum in das Einkommen einbezogen, um es höher erscheinen zu lassen.

So kam die Regierung für 2020 in Medellín auf eine Armutsquote von lediglich 19,2 Prozent, was nur unwesentlich über dem landesweiten Durchschnitt liegt. Nach Angaben der Na­tio­na­len Statistikbehörde Dane lag die Armutsquote im selben Jahr jedoch bei 32,9 Prozent. Ein Drittel der Einwohnerinnen und Einwohner konnte sich demnach nur ein bis zwei Mahlzeiten pro Tag leisten.

Zur Ungleichheit tragen auch Kolumbiens archaische Steuergesetze bei, die die Reichen seit jeher schonen – so unterliegen kleine Unternehmen höheren Steuersätzen als große. Die Einnahmen aus der Einkommensteuer betrugen 2019 nur ein Sechstel des OECD-Durchschnitts; das gesamte Steueraufkommen zählt mit 19,7 Prozent des BIPs zu den niedrigsten in Lateinamerika (in der OECD sind es im Schnitt 33,8 Prozent). Bei der Ungleichheit stand Kolumbien 2020 auf dem 153. Platz (von 167 Ländern weltweit).

Dazu kommt, dass es in Kolumbien seit vielen Jahrzehnten eine hohe Zahl von Binnenflüchtlingen gibt. Meist sind es Kleinbauernfamilien, die sich am Rande der großen Städte niederlassen. Trotz des Friedensabkommens von 2016 zwischen Regierung und Farc-Guerilla gehen die Konflikte (und Bündnisse) zwischen Paramilitärs und Guerilla-Fraktionen, Mafia und Militär auf dem Land unvermindert weiter.1

Nach Medellín, der Hauptstadt des bevölkerungsreichsten Departamentos Antioquia (6,4 Millionen Einwohnende), strömen vor allem Vertriebene aus den Gebieten Bajo Cauca und Ura­bá im Nordosten, die wie Medellín auf der Drogenhandelsroute zur Karibikküste liegen. Von dort aus gelangt Kokain nach Mittelamerika, Mexiko und in die USA.

Die kriminellen Banden, die in Bajo Cau­ca und Urabá mit rechten paramilitärischen Gruppen oder abtrünnigen Farc-Guerilleros zusammenarbeiten, terrorisieren auch Medellín: Vor eskalierenden Revierkämpfen, Erpressung, Folter, Mord und Zwangsrekrutierung von Kindern und Jugendlichen fliehen viele Menschen zum zweiten Mal innerhalb der Stadt. Die Vertreibung der bereits Vertriebenen ist in Medellín alltäglich und schwer zu beziffern, da die Opfer im Allgemeinen lieber schweigen.

Organisiertes Verbrechen ist jedoch nicht die einzige Ursache für innerstädtische Verdrängung. In etlichen Comunas, wo vom Land Vertriebene leben, werden derzeit grüne Infrastrukturprojekte umgesetzt, die mit Zwangsräumungen, Umsiedlungen und Zerstörungen von Wohnraum einhergehen. Dazu gehört der Cinturón Verde, der Grüngürtel entlang der Bergkette im Osten, und der Jardín Circunvalar, ein sich über 75 Kilometer erstreckender Park an den Hängen rund um das Zentrum.

Beide Projekte gehören zu Maßnahmen der Stadtverwaltung, um das von Kriminalität geprägte Medellín zu einer sicheren, modernen und lebenswerten Metropole zu machen. Der grüne Gürtel soll das unregulierte Bevölkerungswachstum und die Ausdehnung der Stadt in die umliegenden Berge bremsen. Und er soll das Risiko von Bergrutschen bei den durch den Klimawandel immer häufiger auftretenden Extremwettern mindern.

Auf den gefährdeten Hängen existieren rund 180 000 Haushalte, von denen die meisten keinerlei Eigentums­titel haben. Die langjährigen Bewohner behaupten, die Stadtverwaltung erkläre bewusst größere Gebiete zur Gefahrenzone, um den Abriss der selbstgebauten Hütten und Häuschen zu rechtfertigen und damit Platz für neue Wohnkomplexe der oberen Mittelschicht frei zu machen. Die neuen ökologischen Schutzgebiete und verschönerten Stadtlandschaften sollen Investoren und Wohlhabende in Gegenden locken, in die sie sich früher kaum getraut hätten.

Treibende Kraft dahinter sind außer der städtischen Planungsbehörde Baufirmen und Immobilienentwickler – wie Argos. Zudem hat die Stadtregierung ein Programm zur Förderung städtischer Landwirtschaft (Urban Farming) aufgelegt, bei dessen Umsetzung viele „illegale“ Kleingärten der Zugewanderten zerstört wurden.

Der Umbau Medellíns beschleunigte sich 2004 mit der Wahl Sergio Fajardos zum Bürgermeister. Fajardo arbeitete eng mit der GEA-Gruppe und ausländischen Investoren zusammen und verfolgte eine neoliberale Entwicklungsstrategie, mit der er Wettbewerbsfähigkeit und unternehmerische Innovationskraft fördern wollte. Das Wirtschaftswachstum sollte sich aus den komparativen Kostenvorteilen der Stadt in den Sektoren Dienstleistung, Finanzen, Tourismus, Medizin und Bauen speisen.

Fajardos Nachfolger setzten seine Bemühungen um ein investorenfreundliches Geschäftsklima fort. Mit der Förderung von Informations- und Kommunikationstechnologien und Steuernachlässen für transnationale Unternehmen vermarktet sich Medellín heute als Silicon Valley Lateinamerikas.

Die internationalen Medien haben den Imagewandel von Medellín tatkräftig unterstützt. Von einer „Transformation von der gewalttätigsten zur innovativsten Stadt“ schrieb der Courier International (8. Januar 2015). Und die New York Times feierte „die Stadt des ewigen Frühlings, eine der progressivsten Städte Lateinamerikas“ (13. Mai 2015).

Jenseits aller Greenwashing-Bemühungen und des vollmundigen Marketingsprechs ist das Leben in der Stadt jedoch nach wie vor gesundheitsgefährdend. Medellín hat die schlechteste Luft aller Metropolen Lateinamerikas. Die Feinstaubkonzentration ist derzeit 5,8-mal so hoch wie der WHO-Richtwert. Etwa 80 Prozent der Luftverschmutzung in Medellín gehen auf den Verkehr zurück, der Rest auf die Industrie.

Medellín verzeichnet das höchste Bevölkerungswachstum Kolumbiens, die Zuwanderungsrate liegt doppelt so hoch wie in anderen Städten. Mit zunehmender Bevölkerung wächst auch die Zahl der Autos und besonders der Motorräder. Zwischen 2005 und 2016 hat sich die Zahl privater Fahrzeuge nahezu verdreifacht.

Der grüne Imagewandel und die innovationsgetriebene Wachstumsagenda der Stadt sind eng mit der Ausweitung des Tourismus verbunden. 2008 kündigte die Stadtverwaltung an, Tourismus, Handel, Messen und Kongresse in einer eigenen Abteilung zusammenzuführen. Im folgenden Jahrzehnt vervierfachte sich die Zahl der einheimischen und ausländischen Gäste, der Anteil des Tourismus am Wirtschaftswachstum verdoppelte sich. Neben Messen und Kongressen gibt es noch weitere Anziehungspunkte in Me­dellín. Die Stadt ist inzwischen eines der beliebtesten Reiseziele für Sextouristen in Lateinamerika, und sie ist regionaler Spitzenreiter beim Medizintourismus (vor allem in plastischer ­Chirurgie).

Und dann gibt es noch den Grusel­effekt: Medellíns Drogenkönig Pablo Escobar, der in den 1980er Jahren die Stadt praktisch beherrschte (und terrorisierte), wurde zum Helden der 2015 produzierten und sehr erfolgreichen Netflix-Serie „Narcos“ – neben vielen anderen reichweitenstarken nationalen und internationalen Dokumentar- und Spielfilmen. Auf sogenannten Narco-Touren kann man heute Escobars Spuren folgen und seine Villen und Verstecke besichtigen.

Durch den Krieg, den Escobar Ende der 1980er bis zu seinem Tod 1993 gegen die kolumbianische Regierung führte, war Medellín einst zur Mordhauptstadt der Welt aufgestiegen. Jetzt hat man die brutale Vergangenheit der Stadt aufpoliert und vermarktet sie als Gangsterglamour. Stadtverwaltung und GEA wünschen sich – ebenso wie die meisten Bür­ge­r:in­nen – sehnlichst ein besseres Image Medellíns im Ausland, um Tourismus und Investitionen in die „Stadt des ewigen Frühlings“ zu locken, wie sie früher in der Werbung hieß.

Tatsächlich sind die schlimmen Zeiten von Mord und Chaos heute Geschichte. Trotz mancher Ausreißer in den Jahren von 2007 bis 2009 und (in geringerem Maße) 2016 bis 2021 sank die Mordrate in Medellín um fast 90 Prozent gegenüber den 1990er Jahren. Das ist jedoch weniger auf das weise Regierungshandeln denn auf veränderte Machtverhältnisse, Abkommen und Bündnisse innerhalb der Unterwelt zurückzuführen. Ab 2015 pendelte sich die Mordrate ungefähr auf Landesniveau ein und liegt damit weitaus niedriger als in Baltimore oder Chicago – oder auch Kingston oder Caracas.

Die lokalen und regionalen kriminellen Organisationen, die sich in einem Bündnis mit dem Namen „Oficina de Envigado“ (Büro von Envigado, nach dem gleichnamigen Vorort Medellíns) zusammengeschlossen haben, pflegen seit Jahrzehnten beste Verbindungen ins Rathaus und vermeiden unnötiges Morden. Seit der Auslieferung des Drogenbarons (und paramilitärischen Kommandanten) Diego Fernando Murillo 2008 in die USA lässt sich bei städtischer Gewalt insgesamt eine Veränderung feststellen. Doch um die Durchsetzung von Recht und Ordnung sowie die Sicherheit und den Schutz der Stadtbevölkerung ist es in Medellín schlecht bestellt.

Nach wie vor haben lokale Mafiabosse und Drogenbanden das Stadtgebiet unter sich aufgeteilt und beherrschen ihr jeweiliges Territorium mit Drohungen, Morden, Einschüchterungen und Erpressungen. Daher fühlen sich die Menschen zwar in ihrem eigenen Viertel sicher, wo die Banden Vergewaltigung oder Raub mit Todesstrafe ahnden, aber nicht außerhalb.

Das Verbrechen ist weiterhin gut organisiert, allerdings dezentraler als früher. Über Wahlkampfspenden und Geldwäsche hält man gute Verbindungen zur offiziellen Politik und zur Geschäftswelt, insbesondere zu Firmen der Überwachungstechnologie und zu privaten Sicherheitsdiensten; aber auch (Sex-)Tourismus, Hotels, Bars und Restaurants sowie Verkehr, Bauwesen und Immobiliengeschäfte sind betroffen.

In den letzten Jahren sind die Kokainexporte in nie dagewesene Höhen geschossen. Zwischen den großen kriminellen Organisationen herrschen Spannungen, Konflikte und blutiger Wettbewerb, vor allem zwischen der regionalen Oficina de Envigado und nationalen Kartellen wie dem Golf-Clan, der sich neuerdings „Autodefensas Gaitanistas de Colombia“ (Gaitanische Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens, AGC) nennt. Unter diesem Dach haben sich regionale oder lokale paramilitärische Drogenhändler im gesamten Land vernetzt, oder besser gesagt: Sie wurden zu Franchise-Nehmern der Marke AGC.

Die AGC ist eine neoparamilitärische Organisation mit Sitz in Urabá, im karibischen Hinterland von Antioquia, nahe der Grenze zu Panama. Hier bestimmen Bananen- und Palmenplantagen das Landschaftsbild, und hier tritt das Kokain seine Reise durch Mexiko oder die Karibik in die USA oder nach Europa an. Die AGC entstammt einer älteren paramilitärischen Regionalorganisation, der ACCU (Autodefensas Campesinas de Córdoba y Urabá), die ihrerseits das Rückgrat des nationalen Verbands der Paramiltärs (AUC) gebildet hatte. Ab Mitte der 1990er Jahre terrorisierte die AUC, die mit zahlreichen Parlamentsabgeordneten eng verbunden war, das ganze Land mit Folter und Massakern an Zivilpersonen, bis sie ab 2003 demobilisiert wurde.

Gangsterglamour für Touristen

Wie manche der damals Beteiligten selbst zugaben, war die Demobilisierung der Paramilitärs allerdings nur eine grausame Farce: Die AGC ist dafür verantwortlich, dass es in Antioquia 2021 wieder verstärkt zu Massakern kam. Unterstützt wird die Organisa­tion von hochrangigen Kontaktpersonen in den kolumbianischen Streitkräften: Ein Offizier, genannt „Der Pate“, wurde kürzlich gefasst, als er Kokaintransporte an der südwestlichen Pazifikküste (in den Bezirken Cauca und Nariño) nahe der Grenze zu Ecuador überwachte. Die AGC verfügt auch über Verbindungen zum organisierten Verbrechen in Mexiko, insbesondere zum Sinaloa-Kartell, dessen einstiger Boss, „El Chapo“ Guzmán, inzwischen in den USA inhaftiert ist.

Dasselbe gilt allerdings auch für die Oficina de Envigado: Als einer von Guzmáns Söhnen 2018 nach Medellín kam, kümmerte sich die Oficina um dessen Sicherheit. Die Oficina pflegt bereits seit Mitte der 1990er Jahre gute Kontakte zum Sinaloa-Kartell; damals hatte Diego Fernando Murillo nach dem Tod Escobars das Ruder übernommen. Die Oficina teilt sich in fünf Fraktionen auf und kontrolliert die Mehrheit der schätzungsweise 240 Gangs und ihrer 5000 Mitglieder in der Stadt, während die Banden unter dem AGC-Label eine starke Minderheit bilden.

Als 2017 und 2019 die Führungsspitze der Oficina verhaftet wurde, folgten allerdings interne Streitigkeiten, so dass sie sich schließlich auf ein Abkommen mit der AGC einließ. Da die US-amerikanische Drogenbehörde DEA und Abteilungen der kolumbianischen Polizei ihre Führungsfiguren im Visier haben, setzt die Oficina nun auf Überwachungstechnologien.

Angesichts all dieser Schwierigkeiten ist es beeindruckend, wie progressive NGOs in den Comunas an den Hängen von Medellín weitergearbeitet haben – zumal Bürgermeister Fajardo und sein Nachfolger Alonso Salazar (2008–2011) zahlreiche Führungspersonen der Graswurzelorganisationen kooptiert hatten. Auch die aktuelle, von jungen Menschen angeführte Protestbewegung, die mehr Demokratie in Staat und Gesellschaft fordert, verdient größten Respekt. Ihr Durchhaltevermögen und die Entschiedenheit ihres Engagements sind in der neueren kolumbianischen Geschichte beispiellos.2

Die Bewegung begann im September 2018 auf Initiative von Studierenden an staatlichen Hochschulen, vor allem an der Universität von Antioquia, der Vorzeigeuni der Region. Als ihre Proteste von den Aufstandsbekämpfungseinheiten der Polizei niedergeschlagen wurden, riefen sie einen landesweiten Streik aus und legten Medellín im Verlauf mehrerer Monate ein Dutzend Mal mit Massenaufmärschen lahm. Sie beriefen sich auf das verfassungsmäßige Recht zu friedlichen Protesten und forderten eine angemessene Finanzierung der öffentlichen Bildungsanstalten.

Obgleich sich Regierung und Medien bemühten, die Studierenden als Randalierer und Terroristen darzustellen, gewannen sie immer mehr Sympathien in den Berggemeinden am Stadtrand, aus denen viele der Protestierenden selbst stammten. Aber auch in den Büros, Lagerhäusern und Werkstätten im Zentrum wurde die Bewegung unterstützt.

Schließlich sagte die Regierung zu, die wichtigsten Forderungen der Studenten zu erfüllen. Dazu gehörte vor allem die Aufstockung der Finanzmittel für die Hochschulen, die durch die neoliberalen Reformen zu Massenuniversitäten geworden waren und immer mehr – oft hoch verschuldete – Studierende aufnehmen sollten.

Wie viele erwartet hatten, hielt die Regierung ihre Vereinbarungen mit den Studierenden jedoch nicht ein, so dass diese einen weiteren Streik ausriefen. Daraus entstand im November/Dezember 2019 ein landesweiter Generalstreik, zu dem auch die (in Kolumbien nur kleinen) Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und kleinen oppositionellen Parteien aufriefen.3

Waren es 2018 vor allem Studierende, die die Proteste anführten, so nahmen 2019 auch viele andere gesellschaftliche Gruppen daran teil. Bei den Demonstrationen und Protestmärschen in Medellín sah man Jugendliche aus den Comunas, Arbeiterinnen und Arbeiter aller Sektoren, indigene und afrokolumbianische Gemeinschaften, Mitglieder von Friedens- und Umweltgruppen, Menschenrechts- und feministischen Organisationen. Als die Weihnachtsferien nahten, war die Regierung am Ende, trotz – oder wegen – der unverhältnismäßig heftigen Repressionen.

Dann kam die Coronapandemie, und mit ihr ein katastrophales Regierungsmanagement sowie zusätzliche Korruption. Der allgemeine Unmut machte sich im Mai 2021 in einer neuen landesweiten Protestwelle Luft, in der marginalisierte junge Menschen ohne Ausbildung und Arbeit die Führung übernahmen. Noch nie zuvor hatte es so viel Selbstorganisation und Mobilisierung in den Comunas am Rande der Stadt gegeben.

Selbstorganisation in den Comunas

Mit Ausnahme einer Handvoll Oppositioneller büßten praktisch sämtliche politischen Re­prä­sen­tan­t*in­nen ihre Autorität und Legitimation ein. Diese Selbstermächtigung der Bür­ge­r*in­nen dauerte zwei Monate. Nach fast 50 Todesopfern und über 3000 Verletzten gewann jedoch die staatliche Repression wieder die Oberhand.

Bei den Wahlen von 2018 hatte der linke Kandidat Gustavo Petro in Medellín 22 Prozent erzielt; bei der am 29. Mai anstehenden Präsidentschaftswahl sehen ihn Umfragen landesweit mit 40 Prozent vorn. Sein wichtigster Gegner ist der Mitte-rechts-Kandidat Federico Gutiérrez, der von 2015 bis 2019 als Bürgermeister von Medellín amtierte.

Sollte Petro der nächste Präsident werden – was durchaus im Bereich des Möglichen liegt –, dann stellt sich die Frage, ob die Zentralregierung gemeinsam mit den engagierten Bürgerbewegungen vor Ort der GEA und dem politischen Filz von Medellín etwas entgegensetzen kann – und vielleicht auch der organisierten Kriminalität. Wie Petro selbst bereits sagte: Wenn der Wandel in Kolumbien mehr als ein Wahlkampfversprechen sein soll, dann muss er in Medellín beginnen.

Medellín ist heute geprägt von einer geradezu paradoxen Gleichzeitigkeit: Auf der einen Seite kämpft die Stadt mit extremer und weit verbreiteter Armut, Angst und großen Umweltproblemen und wird von mafiosen Gruppen beherrscht. Auf der anderen Seite existiert dort ein supermoderner, junger Hightech-Kapitalismus, und die Stadtverwaltung propagiert eine „fortschrittliche“ Politik. Medellíns Strukturmerkmal ist das offizielle und das kriminelle Kapital. Beides ist dort miteinander verflochten.

Die GEA konzentriert und zen­tra­li­siert das Kapital der Region und macht es in Mittelamerika grenzüberschreitend verfügbar. Mit dieser Durchschlagskraft kann die Unternehmensgruppe den Handlungsrahmen für die Stadtverwaltung setzen und Wahlen beeinflussen. Während die GEA das wichtigste Machtzentrum in der Stadt und Metropolregion von Medellín darstellt und praktisch wie eine ständige, nichtgewählte Regierung agiert, treibt die Oficina de Envigado eigene Steuern und Schutzgelder ein; sie ist mächtiger als der Bürgermeister oder der Stadtrat.

Es ist die Oficina und nicht die Stadtverwaltung, die in den endlosen Revierkämpfen den Schiedsrichter spielt, die das Verbrechen durch ein eigenes Regelwerk eingrenzt und auch vor Mord, Folter, Entführung und Erpressung nicht zurückschreckt. Sie wäscht ihr Geld in der regulären Immobilien-, Bau-, Finanz- und Versicherungswirtschaft, im Transportwesen und in privaten Sicherheitsdiensten; außerdem über öffentliche Aufträge und Wahlkampfspenden.

Die GEA wirft gewissermaßen den langen Schatten, in dem die Oficina tätig ist. Beide Organisationen schützen ihre lukrativen Geschäfte und bestimmen so letztlich, in welcher Form die Stadtregierung ihre Entwicklungspläne aufstellen und umsetzen kann. Die Stadtplanungsabteilung entwirft neue Grünflächen, die dann von der GEA gebaut und mit kräftigen Investitionen bedacht werden, und die Oficina de Envigado wirft die alten Bewohner hinaus, um das Gebiet für die Neuankömmlinge frei und sicher zu machen.

Eine Hoffnung in diesem altbekannten Drehbuch bildet die aufstrebende, neue städtische Linke, in der sich vor allem junge Leute organisieren. Angesichts hoher Arbeitslosigkeit und prekärer Jobs fordern sie strukturelle Veränderungen in der bestehenden politischen und wirtschaftlichen Ordnung. Die Fassade vom „Wunder von Medellín“ bekommt so immer mehr Risse.

1 Siehe Loïc Ramirez, „In der Roten Zone“, LMd, August 2019.

2 Siehe Sofía Cevallos, „Brief aus Bogotá“, LMd, November 2020.

3 Siehe Lola Allen und Guillaume Long, „Außer Kontrolle in Kolumbien“, LMd, Juni 2021.

Aus dem Englischen von Sabine Jainski

Alcides Gómez, Forrest Hylton und Aaron Tauss forschen an der Nationaluniversität Kolumbien, der Föderalen Universität Bahia und der Universität Wien.

Le Monde diplomatique vom 12.05.2022, von Alcides Gómez, Forrest Hylton und Aaron Tauss