12.05.2022

Der Tod im Topf

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Der Tod im Topf

von Benoît Breville

Fleischkontrolle MARC BUGNASKI/picture alliance/JOKER
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Im 18. Jahrhundert blähten skrupellose Metzger die Körper der geschlachteten Tiere mit Luft auf, um ihr Volumen zu vergrößern. Sie bepinselten gräuliches Fleisch mit Farbstoffen wie Cochenille, die es schön rot erscheinen ließen. In das Fleisch ihrer Würste mengten sie Aas.

Die Bäcker mischten alles Mögliche in den Brotteig: Gips, Kreide, Sand, Talkum, Kartoffelstärke. Derartige Praktiken wurden zwar streng bestraft, aber es gab wenig Kontrollen. Wenn Brotfälscher erwischt wurden, drohte ihnen der Tod durch den Strang.

Heute vergrößern Produzenten von Fertiggerichten Hähnchenbrüste, indem sie Wasser in das Fleisch injizieren. Damit beim Erhitzen nicht zu viel Flüssigkeit austritt, setzen sie Polyphosphate zu, sogenannte Stabilisatoren, die das Wasser auf den Proteinen binden. Industrielle Wursthersteller behandeln ihren Schinken mit Natriumnitrit, damit er eine appetitliche rosa Farbe bekommt.

All das ist legal. Es genügt, dass der Hersteller im Kleingedruckten auf der Verpackung angibt, welche Inhaltsstoffe er verwendet hat, manchmal in Form rätselhafter Codes: E452 steht für Polyphosphat; E250 für Nitrit.

Nahrungsmittelproduzenten und -händler haben schon immer versucht, Aussehen, Gewicht, Volumen, Geschmack und Geruch von Esswaren zu verändern. 1820 zeigte sich der deutsche Chemiker Friedrich Accum in seiner „Abhandlung über die Verfälschung der Nahrungsmittel und von den Küchengiften“1 alarmiert über die Betrügereien und ihre Folgen für die Gesundheit der Menschen. Als Motto seines zunächst nur in England erscheinenden Werks wählte er einen Satz aus der Bibel: „Der Tod ist im Topf“.

Bei der Liste der Fälschungen, die Accum aufzählt, kann einem schlecht werden. Weißer Pfeffer war teuer und wurde deshalb oft durch schwarzen Pfeffer ersetzt, den man in Urin eingeweicht und dann in der Sonne getrocknet hatte. Schwarzer Pfeffer enthielt eine beträchtliche Menge Staub. Dem Essig setzte man Schwefelsäure zu, damit er saurer schmeckte, zu den eingelegten Gurken gab man Kupfer, um die grüne Farbe zu verstärken, Bier wurde mit Melasse gefärbt und Tee enthielt auch Stroh, Blätter und getrocknete Zweige.

Accums Buch erregte einiges Aufsehen. Innerhalb von wenigen Wochen wurden tausend Exemplare verkauft. 1822 erschien die deutsche Übersetzung. Da die Gefahr von Nahrungsmittelknappheit und Hungersnöten nicht mehr so groß war, interessierte man sich nun zunehmend für die Qualität von Lebensmitteln. Die neu aufgekommene Keimtheorie erkannte, dass Mi­kro­organismen die Ursache von Krankheiten waren, und stellte auch einen Zusammenhang zwischen der Ernährung und bestimmten Krankheiten her. Auch das Aufkommen der Hygienebewegung verstärkte das Interesse.

Doch der Kampf gegen die Fälschungen war eine Herkulesaufgabe. Betrug, wie mit Wasser verdünnte Milch oder mit Sand vermischter Zucker, war alltäglich. Und zu den üblichen Methoden kamen mit den Fortschritten in der Chemie ständig neue hinzu. Doch diese Fortschritte ermöglichten auch verbesserte und verfeinerte Kontrollen von Lebensmitteln. So entdeckte man nun zum Beispiel Bleipigmente in manchen Waren, Arsen in Konserven, Strychnin im Bier, Kupferoxid im Wermut.

Wein beflügelte die Fantasie der Fälscher ganz besonders. Während Gastwirte ihn einfach mit Wasser streckten, ersannen die Produzenten immer neue Tricks, um ihre Erzeugnisse zu verbessern. War der Wein zu sauer, fügte man Honig oder Zucker­sirup hinzu. War er zu klar, half Johannis- oder Holunderbeerenmus.

Wenn gerade keine Trauben da waren, ließ sich anhand eines Rezepts aus einem niederländischen Lehrbuch Wein auf ganz andere Weise herstellen: „Man nehme fünfundzwanzig oder dreißig Pfund gereinigte Rosinen oder Beeren der chinesischen Dattel, gebe sie in einen Topf, füge das Vierfache ihres Gewichts an Wasser hinzu, dazu ein wenig Sandelholz in ein sauberes Stück Stoff eingeschlagen, koche diese Mischung in einem Kessel, füge dann noch ein wenig Weinsteingeist hinzu und lasse sie gären.“2

Manche Winzer verwendeten auch Lithargit, ein Bleioxid, als Farbstoff. Damals war bekannt, dass Wein aus dem Poitou in Westfrankreich häufig mit Blei versetzt wurde. In den Sieben Vereinigten Provinzen (heute ein Teil der Niederlande), wo dieser Wein wegen seines niedrigen Preises beliebt war, gab es sogar eine danach benannte Krankheit, die „Kolik von Poitou“. Tatsächlich handelte es sich dabei um eine Bleivergiftung, die mit Fieber, Kopfschmerzen, Krämpfen und Lähmungserscheinungen einherging und zum Tod führen konnte.

Strychnin im Bier, Bakterien in der Pizza

Und dann gab es die Probleme mit der Hygiene. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts war es üblich, Tiere auf offener Straße zu schlachten und zu zerlegen, obwohl es dort von Ratten und anderen Krankheitsüberträgern wimmelte.

Louis-Sébastien Mercier schrieb in seinem „Tableau de Paris“ (1781): „Beim Gehen hört man plötzlich klagendes Brüllen. Ein junger Ochse wird niedergeschlagen und sein behörnter Kopf mit Seilen gefesselt. Ein schwerer Knüppel bricht ihm den Schädel, ein großes Messer fügt ihm eine klaffende Wunde an der Kehle zu. Sein dampfendes Blut fließt in einem Schwall heraus und mit ihm sein Leben.“3 Bei dieser Art der Schlachtung bestand nicht nur die Gefahr, das Fleisch zu verderben, sie trug auch zur Verschmutzung der wenigen Trinkwasserquellen bei. Wie sollte man Gemüse waschen, wenn das Wasser selbst dreckig war?

Die Behörden verstärkten nach und nach die Bemühungen, verdorbene, gepanschte und verfälschte Lebensmittel aufzuspüren. 1851 wurde ein Gesetz erlassen, das bei „gesundheitsschädlichen Beimischungen“ für die Täter eine Strafe von 50 bis 500 Francs sowie „eine Freiheitsstrafe zwischen drei Monaten und zwei Jahren“ vorsah. Aber dieses Gesetz kam nur selten zur Anwendung, weil die Kapazitäten für die Kontrollen nicht ausreichten.

Um die Versäumnisse der Regierung auszugleichen, finanzierten die Kommunen Labore für Lebensmittelanalysen. Die dort tätigen Inspektoren und Chemiker untersuchten die Zusammensetzung von Nahrungsmitteln – entweder auf Anfrage von unzufriedenen Kon­su­men­t*in­nen oder bei unangekündigten Kontrollen und Stichproben.

Paris machte 1881 den Anfang mit institutionellen Lebensmittelkontrollen, rasch folgten andere Städte wie Rouen, Lyon, Brest und Le Havre. Allerdings verfügten die Kontrollstellen nur über begrenzte Mittel, und die Mitarbeiter leisteten eine Sisyphus­arbeit.

Am 1. August 1905 wurde schließlich ein wichtiges Gesetz verabschiedet, das bis heute als Rahmen für den Kampf gegen Lebensmittelbetrug dient. Es war solide finanziert und definierte nicht nur die drohenden Strafen, sondern auch Wege zur Verhinderung und Aufdeckung unterschiedlicher Formen von Betrug.

In Verbindung mit den Fortschritten der Medizin, bei der Hygiene und den Konservierungstechniken sorgte es dafür, dass sich die Lebensmittelsicherheit in Frankreich über hundert Jahre hinweg kontinuierlich verbesserte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts starben alljährlich etwa 20 000 Menschen im Land an Lebensmittelvergiftungen.4 Seit 2008 liegt die Zahl zwischen 250 und 400.

Die Jagd nach immer mehr Profit sorgt aber weiterhin für reichlich Skandale, vom Pferdefleisch in der Lasagne von Findus, das 2013 gefunden wurde, bis zur Tiefkühlpizza von Buitoni, in der man 2022 Escherichia-coli-Bakte­rien nachwies. Die Selbstkontrolle der Hersteller, die für die Qualität und die Hygiene ihrer Produkte verantwortlich sind, ist unzureichend, und infolge von Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben finden unangekündigte Inspektionen seltener statt.

Im Zeitraum von 2012 bis 2019 hat in Frankreich die Zahl der unangekündigten Kontrollen durch das Ministe­rium für Landwirtschaft und Ernährung um ein Drittel abgenommen.5 Weil Lebensmittelskandale Millionen von Produkten betreffen, die überall auf der Welt verkauft werden – die kontaminierten Pizzen wurden außer in Frankreich auch in Katar, Benin und Niger ausgeliefert –, erregen sie international Aufsehen.

Ängste hinsichtlich der Lebensmittelqualität sind in den westlichen Überflussgesellschaften so verbreitet, dass man schon von einem neuen Krankheitsbild spricht: Orthorexie, der zwanghaften Fixierung auf gesunde Ernährung.

Auch wenn es bei der Lebensmittelsicherheit in den letzten hundert Jahren beträchtliche Fortschritte gegeben hat: Die Giganten des Nahrungsmittelindustrie verändern weiterhin künstlich ihre Produkte, um die Kundschaft zu verführen und ihre Gewinnmargen zu erhöhen. Man muss sich nur ansehen, was alles neben den zu erwartenden Zutaten Butter, Milch, Mehl, Zucker, Hefe und Salz in einem Croissant aus industrieller Herstellung enthalten ist: Rapsöl, Weizenproteine, Fasern von Flohsamen, Mono- und Diglyceride von Speisefettsäuren (Emulgator E471), Karottenextrakt (Farbstoff E160), Ascorbinsäure (Antioxidant E300).

Einige solcher Zusatzstoffe erschienen zunächst harmlos, erst nach Jahren wurde ihre Gefährlichkeit erkannt. So war es etwa bei Natriumnitrit, das seit Jahrzehnten verwendet wird und inzwischen als krebserregend gilt – und trotzdem weiter eingesetzt werden darf. Verbotene Zusatzstoffe werden gewöhnlich einfach durch andere ersetzt, über deren Langzeitwirkung kaum etwas bekannt ist. Dieser Verschleierungs- und Aufschubtaktik der Hersteller verdanken wir, dass wir weiterhin mit Lebensmittelunsicherheit zu kämpfen haben.

1 „A Treatise on Adulterations of Food and Culinary Poisons“, London 1820.

2 Anne Sleeswijk Wegener, „Du nectar et de la go­daille: qualité et falsification du vin aux Provinces-Unies, ­XVIIIe siècle“, Revue d’histoire moderne et contemporaine, Bd. 51, Nr. 3, Paris 2004.

3 Zitiert bei Sydney Watts, „Boucherie et hygiène à Paris au XVIIIe“, siehe Anmerkung 2.

4 Mireille Delmas-Marty, „Le relatif et l’universel. Les forces imaginantes du droit“, Paris (Le Seuil) 2004.

5 „De Lactalis à Buitoni, l’insuffisance des contrôles menace la sécurité sanitaire“, Le Monde, 18. April 2022.

Aus dem Französischen Ursel Schäfer

Le Monde diplomatique vom 12.05.2022, von Benoît Breville