Ein Grab in Tansania
Der Maji-Maji-Krieg im Gedächtnis der Welt
von Charlotte Wiedemann
Ein kleines Museum im Süden Tansanias, fast tausend Kilometer entfernt von Daressalam. An der Wand hängt ein Foto von Carl Peters, Kolonialpionier und Antisemit, sein Name stand noch lange auf deutschen Straßenschildern. In Songea, so heißt dieser Ort im grünen Hochland des östlichen Afrikas, zählt Peters zur Topografie der Täter. In Kiswahili hatte er den Beinamen „blutige Hand“, als seine einheimische Konkubine davonlief, ließ er ihr Dorf niederbrennen. Von solcher Art waren die Beziehungen.
Das kleine Memorial Museum von Songea ist eine Gedenkstätte für die hingerichteten Helden des Maji-Maji-Kriegs, der in dieser Region von 1905 bis 1907 gegen die deutsche Kolonialmacht ausgetragen wurde. Die materielle Bescheidenheit des Gedenkorts spiegelt die Asymmetrie der damaligen Auseinandersetzung: Die Zahl der einheimischen Opfer wird auf bis zu 200 000 geschätzt, die Deutschen verzeichneten kaum mehr als ein Dutzend Tote.
Maji bedeutet in Kiswahili Wasser; das Vertrauen, die Einnahme einer bestimmten Tinktur werde die Kugeln der Deutschen abperlen lassen wie Wasser, erhöhte den Todesmut der Kämpfenden. Natürlich hielt diese Vorstellung nicht lange, und sie wurde ohnehin nie von allen geteilt. Die eigentliche Wirksamkeit der Maji-Ideologie lässt sich eher als ein politisches Versprechen begreifen: dass nämlich die technologische Überlegenheit der Kolonialherrscher durch Massenmobilisierung überwunden werden könnte. So zog etwa eine Million Menschen in diesen Krieg, manche mit uralten Büchsen, die meisten nur mit Speeren, die Spitzen in Gift getränkt.
Maji-Maji war auf dem afrikanischen Kontinent der erste große Kampf um Befreiung, und in Tansania wurde daraus ein nationales Epos. Manche sehen darin den Ursprung des modernen Staats, denn es schlossen sich damals zahlreiche Gemeinschaften über ethnische Grenzen hinweg zusammen, und dies alles auf einem Gebiet, dessen Größe man sich als zwei Drittel des heutigen Deutschlands vorstellen kann.
Nicht weit vom kleinen Museum befindet sich die Grabstätte eines wichtigen Anführers: An ihrem Kopf markiert eine zweite Steinreihe eine Leerstelle; das Haupt des Toten nahmen die Deutschen mit, als Trophäe. Die Stadt Songea trägt den Namen des geköpften Helden, Songea Mbano, und ihr Fußballklub heißt FC Maji-Maji – im Vereinswappen Schild und Speer als Symbol des Kriegs, nach dem gleichfalls das örtliche Stadion benannt ist. Alljährlich wird am 27. Februar der Hinrichtung von Songea Mbano und mehr als 60 weiterer Führungsgestalten des Kriegs gedacht, unter ihnen eine Frau, alles eingerahmt vom mehrtägigen Maji-Maji-Kulturfestival. Der Galgen von damals ist als Replika wiedererrichtet worden, am Gedenktag werden dort symbolisch Waffen deponiert und tansanische Soldaten marschieren auf.
Wie seltsam: Die Verlierer dieses Kriegs triumphieren im stolzen Erinnern, haben aus einer furchtbaren Niederlage anscheinend einen Sieg destilliert, während es die Deutschen vorziehen, von der ganzen Geschichte nichts zu wissen. Zwei Varianten von Erinnerungspolitik; aber was ist eigentlich passiert?
Im Jahr 1968 sehen wir in Ostberlin und manchmal in Potsdam einen jungen tansanischen Historiker in Archiven und Bibliotheken sitzen. Gilbert Gwassa, 29 Jahre, arbeitet an seiner Dissertation über den Maji-Maji-Krieg und hat dafür eigens nicht nur Deutsch gelernt, sondern auch die alte Handschrift Sütterlin, um die Aufzeichnungen der Kolonialbeamten lesen zu können. In der DDR ist er nur zu Besuch, nutzt die Zeit intensiv, sitzt bis spät über den Akten.
Gwassas Doktorarbeit wird zur Grundlage für alle weitere Forschung. Er stammt selbst nicht aus dem Süden des Landes, dem einstigen Kriegsgebiet, er nähert sich seinem Thema als kühler Wissenschaftler, kennt aber dessen politische Bedeutung.
Koloniale Vernichtungswut in Deutsch-Ostafrika
Wenige Jahre zuvor ist Tansania, das vormalige Tanganjika, unabhängig geworden, ein Land mit 130 Ethnien und fast ebenso vielen Sprachen, in dem nation building von existenzieller Bedeutung ist. Julius Nyerere, der erste Präsident, nimmt persönlich Anteil an Gwassas Forschungen, bittet ihn mehrfach zu sich. Nyerere schwebt ein afrikanischer Sozialismus vor, und die transethnische Dimension von Maji-Maji sieht er als Mittel, dem jungen Land zu einem einigenden Mythos zu verhelfen.
Die Universität Daressalam legt ein Forschungsprojekt auf, Gilbert Gwassa ist der Erste, der Feldstudien unternimmt, in der einstigen Kriegsregion die letzten Überlebenden und Zeitzeug:innen ausfindig macht und die Nachkommen von Beteiligten interviewt. Der Krieg begann mit Sabotage auf einer kolonialen Baumwollplantage; Männer und Frauen rissen die Pflanzen aus dem Boden, es war keine spontane Aktion, sondern ein vereinbartes Signal. Kopfsteuern, Zwangsarbeit und Landraub – per Dekret gehörte alles Land dem Kaiser – plagten die Menschen, doch keine dieser Ursachen allein könne die Bitterkeit, Ungeduld und Kampfbereitschaft erklären, schreibt Gwassa. Der Aufstand richtete sich gegen das gesamte Unterworfensein, „und Unterdrückung machte aus Gewalt eine Notwendigkeit“.1
Supervisor von Gwassas Arbeit ist Walter Rodney, ein aus Guyana stammender Pan-Afrikanist und Vordenker von Black Power, der an der Universität Daressalam lehrt. Rodneys Buch „How Europe Underdeveloped Africa“ (Wie Europa Afrika unterentwickelte) wird zu einem Klassiker afrikanisch-emanzipativen Denkens. Auch Rodney hat für seine Forschungen eigens Deutsch gelernt; seine Texte erscheinen an der Universität in einer Zeitschrift mit dem Titel Maji-Maji.
Die Spur dieses Kriegs führt uns also in die aufstrebende akademische Welt der ersten nachkolonialen Jahre und ebenso in die staatliche Geschichtspolitik. Ein Kondensat von Gwassas Forschung wird aus dem Englischen ins Swahili übersetzt und von der tansanischen Historikervereinigung für den Geschichtsunterricht an Schulen verteilt.
Historische Mythen verdrängen Schmerzen, aber tilgen sie nicht. Für die am Krieg beteiligten Menschen endete Maji-Maji traumatisch. Nachdem sich die Kämpfenden angesichts ihrer unterlegenen Bewaffnung auf Guerillataktiken besonnen hatten, richtete die Kolonialarmee alle Anstrengungen darauf, die wirtschaftliche Basis der am Krieg beteiligten Bevölkerungen zu zerstören. Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, Felder abgebrannt, Vorräte vernichtet, Brunnen vergiftet. Nach zwei Jahren Krieg lagen ganze Landschaften stumm und brach.
Die meisten Opfer dieses Krieges wurden nicht erschossen, sie verhungerten. Das Vorgehen der Kolonialmacht war von einer ins Irrationale reichenden Vernichtungswut gekennzeichnet, ohne Rücksicht darauf, dass Arbeitskräfte die Basis einer Plantagenökonomie darstellten. Das Hungern hielt noch mehrere Jahre an. In den Augen der Bevölkerung war Gewalt als politisches Mittel seitdem diskreditiert, schreibt Gwassa.
Vor dem Reichstag gab die Kolonialverwaltung die Zahl der Toten mit 75 000 an; daran bestanden bereits damals Zweifel. Heutige Schätzungen liegen wie schon bei Gwassa dreimal höher. Neben 15 deutschen Soldaten verlor die Kolonialarmee knapp 400 Askari, afrikanische Söldner, häufig aus dem Sudan stammend. Natürlich wurden beide Gruppen von Toten separat gezählt.
Die weitgehend entvölkerten Räume Südtansanias wurden von der Kolonialverwaltung später unter Schutz gestellt, Schutz für Wildtiere. Afrikanische Nationalparks gehen auch andernorts auf koloniale Unterwerfung zurück; die Liebe zum afrikanischen Tier hat ihre Kehrseite in der Verachtung des afrikanischen Menschen. So ist erstaunlicherweise aus den Folgen von Verbrechen die Idee entstanden, Weiße seien Bewahrer der Schöpfung.
In welchem Maße und zu welchem Preis Afrikaner und Afrikanerinnen Widerstand gegen ihre Unterwerfung leisteten, das ist aus dem europäischen Gedächtnis, nicht nur dem deutschen, fast gänzlich getilgt. So erhält sich ein Bild vom afrikanischen Menschen, der phlegmatisch erduldet und keine Initiative ergreift. Ein solcher Mensch kennt allenfalls Auflehnung gegen eine unmittelbar erlebte Bedrückung, handelt nicht aus einem prinzipiellen Freiheitsbewusstsein, wie es die europäische Geschichte beschreibt und heroisiert.
Die Gegenüberstellung mag ein wenig schematisch sein, und wie immer gibt es Andersdenkende, aber die Nähe des kolonialen Bilds vom afrikanischen Menschen zu heutigen Ansichten ist unverkennbar. Der tansanischen Seite ist es deshalb wichtig, Maji-Maji als Krieg – Vita vya Maji Maji – zu bezeichnen, wie es bereits im Titel von Gwassas Doktorarbeit geschah, und nicht als Rebellion. So wird ungeachtet der dramatischen Asymmetrie der Bewaffnung von einem Geschehen auf Augenhöhe berichtet: Die Deutschen waren Invasoren, und die Invasion wurde bekämpft. Diese prinzipielle Setzung ist keineswegs nebensächlich, berührt vielmehr einen zentralen Punkt von Geschichtsbetrachtung.
Wer heute über Kolonialismus reden will, sieht sich in der Regel genötigt, einzelne benennbare und möglichst schlimme Verbrechen aufzurufen, als ließe sich nur so ein Diskurs über Unrecht führen. Als bedürfe es einer Opferzahl mit vielen Nullen, um zu beweisen, dass die Hierarchisierung von Leben und Lebensmöglichkeiten falsch war. Kolonialismus ist grundsätzlich nichts anderes als die Verweigerung von Gleichheit.
Doch bis zu diesem so simplen und zugleich so komplizierten Kern der Dinge dringt das öffentliche Gespräch selten vor. Denn es bedarf einer utopischen Kraft der Fantasie, um zu bebildern, was uns als Vorstellung nie beigebracht wurde: eine nicht kolonial strukturierte Welt. Wie sähe eine von allen mit gleichen Rechten bewohnte Erde aus? Wie hätte sie 1905, zu Beginn des Maji-Maji-Kriegs, aussehen können? Oder hat das Recht von allen, die Erde gedeihlich zu bewohnen, damals noch nicht gegolten? Die prinzipielle Gleichheit aller Menschen abstrakt zu konstatieren ist das eine; aber allen das gleiche Recht auf die Bestimmung der eigenen Geschichtlichkeit einzuräumen, ist etwas anderes.
Von dieser Anstrengung, die zugleich eine intellektuelle wie eine machtpolitische ist, handelt der Begriff Weltgedächtnis. Natürlich gibt es kein globales tickendes Hirn; das Gedächtnis der Welt ist eine höchst plurale, diverse, verzweigte Angelegenheit. Dennoch sind Strukturen sichtbar und wie der Maji-Maji-Krieg erinnert, in einen Schrein gestellt oder ausgelöscht und vergessen wird, ist ein Fingerzeig auf diese Strukturen, inmitten einer Vielzahl anderer Hinweise.
Die Nachfahren der Kolonisierten empfinden sich als in einer Welt lebend, die ganz unübersehbar noch von damals eingravierten Konturen gezeichnet ist, beginnend beim Verlauf von Landesgrenzen und bei den Namen für Landschaften, Inseln und ganze Staaten. Auch wenn Kolonialismus nicht allein ein weißeuropäisches Phänomen war, so hat sich doch keine andere Variante so tief und dauerhaft in die Globalgeschichte eingetragen.
Daraus sind zwei Arten von kollektivem Gedächtnis entstanden, ich nenne sie provisorisch und vereinfachend das kleine weiße und das große Schwarze Gedächtnis. In der kollektiven Erinnerung vieler Völker ist der Kolonialismus mit einem weiten Spektrum an Erfahrungen lebendig, natürlich nicht nur afrikanischen. Unser schlechtes Erinnerungsvermögen ist eine Abweichung, eine partikulare Angelegenheit, und Europa wird dieser Tage immer dringlicher darauf hingewiesen, sich doch bitte auf das Niveau der übrigen Welt hinaufzubemühen.
Es ist also für die Betrachtung von Geschichte ein neues Zeitalter angebrochen. Die Ursachen dafür finden sich im Inneren wie im Äußeren, in einer veränderten Gesellschaft vor der Haustür und in weltweiten Umbrüchen. Wer sich gegen heutigen Rassismus wendet, kann den historischen Rassismus der Kolonialepoche kaum übersehen. Und allenthalben werden nun Forderungen laut nach Anerkennung von Schuld, nach Rückgabe von Geraubtem und Entschädigung für Erlittenes. Das globale Kräfteverhältnis verschiebt sich politisch und moralisch zuungunsten der ehemaligen Kolonialmächte, der europäischen Staaten und Gesellschaften. Wer sich unter diesen Umständen weigert, für die Vergangenheit Verantwortung zu übernehmen, spielt gegen die Zeit.
Als Gilbert Gwassa 1968 in Ostberlin die Kolonialakten studierte, war im Westen, in Bonn, ein Mann namens Kai-Uwe von Hassel Minister: geboren sechs Jahre nach dem Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika, als Sohn des Kolonialoffiziers Theodor von Hassel, der Gewehrsalven auf die mit Speeren bewaffneten Aufständischen befahl und dann über „Berge von Toten“ berichtete. Es soll hier nicht der Sohn, ein führender Christdemokrat der Nachkriegszeit, für die Taten des Vaters in Haft genommen werden; Kai-Uwe, Leutnant der Wehrmacht, gehört schon zum Folgekapitel deutscher Geschichte, mit einem eigenen Kontingent an Verschwiegenem. Aber wenn wir für einen Moment die kolonial-militärische Tradition einer deutschen Adelsfamilie und den antikolonialen Forschergeist des tansanischen Historikers nebeneinander betrachten, dann offenbaren sich bereits vor einem halben Jahrhundert zwei gegensätzliche Arten von Gedächtnis.
Erst 2017, mehr als hundert Jahre nach dem Maji-Maji-Krieg, wird erstmals ein Nachfahre der Gehenkten von Songea nach Deutschland eingeladen, um seine Perspektive auf das Geschehen darzulegen. Selbst jetzt ist es keine offizielle Einladung, sondern ich höre den Chief des Volks der Ngoni auf einer Konferenz der Zivilgesellschaft, organisiert durch die Gruppe Berlin Postkolonial. Der Gast bezeichnet den hingerichteten Songea Mbano als General, und er macht deutlich, dass die markierte Leerstelle seines Grabs eine sehr konkrete Bedeutung hat: Der Tote kann so lange nicht angemessen betrauert werden, wie sein Kopf abwesend ist. Dasselbe gelte für andere Widerstandskämpfer aus Deutsch-Ostafrika, die von den Deutschen enthauptet wurden.
Als ich mich mit der Ökonomie der Empathie befasste und mit dem Umstand, dass es auf heutigen Kriegsschauplätzen aus westlicher Sicht nicht betrauerbare oder als vernachlässigbar betrachtete Leben gibt, hatte ich den kolonialen Ursprung des Phänomens nicht im Blick. Natürlich besteht Kolonialität an sich bereits in der Skalierung von Leben und Lebensrecht. Aber es ist noch einmal etwas anderes, einen Toten, der von seiner Gemeinschaft hochgeachtet wird, wie im Fall von Songea Mbano, drei Tage nach der Hinrichtung wieder zu exhumieren, die Leiche zu enthaupten und den Kopf in einer Holzkiste nach Deutschland zu verschicken. Er befindet sich womöglich noch heute unter den mehr als tausend Schädeln, die in Pappkartons in den Kellern von Instituten und Museen liegen.
Deutschland würde sich ihrer gern rasch entledigen, doch das geht nun nicht mehr. Eine würdige Rückerstattung erfordert Provenienzforschung, das dauert. Als hätten die Schädel nun uns in der Gewalt; sie wollen nicht gehen, ohne eine Botschaft zu hinterlassen. Die mit Nummern versehenen Schädel konfrontieren uns mit dem, woher wir kommen, und sie zeigen uns etwas von der Welt, in die wir gehen: Um die DNA eines Schädels nehmen zu können, wird heute die diplomatische Vertretung des Landes, aus dem er mutmaßlich stammt, um Erlaubnis gebeten. Der Andere ist kein Ding.
Der Maji-Maji-Krieg fand zeitgleich zum Genozid an Ovaherero und Nama in der Kolonie Südwestafrika statt; über Letzteren wird heute ungleich mehr gesprochen, auch weil die Geschichtswissenschaft daran die Frage einer möglichen Kontinuität zum Nationalsozialismus erörtert. Da genozidale Gewaltfantasien in Militär und Verwaltung bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts existierten und keineswegs geheim gehalten wurden, könnten sie als Einübung in spätere, größere Verbrechen betrachtet werden, ohne dass daraus eine Kausalität, eine Zwangsläufigkeit erwächst.
Diese Debatte, die der Historiker Jürgen Zimmerer vor fast zwei Jahrzehnten angestoßen hat, ist eigentlich älterer Natur, denn bereits Hannah Arendt notierte, in den afrikanischen Kolonien hätte sich erstmals der „Wunsch nach systematischer Ausrottung ganzer Rassen entwickelt“;2 gleichwohl betrachtete sie den Holocaust als einen Völkermord, „der in der Geschichte ohne Beispiel ist“.3
Kontinuitäten zu sehen, bedeutet nicht zu relativieren. Dies sollte allerdings auch in umgekehrter Hinsicht gelten, denn es gibt eine Tendenz, den Kolonialismus zu bagatellisieren oder bis zur Unkenntlichkeit in Ambivalenzen aufzulösen, damit nur ja keine Nähe zum Nationalsozialismus aufkommt – intellektuelle Verrenkungen sehr deutscher Art.
Den Genozid im heutigen Namibia öffentlich so ins Zentrum zu stellen, hat eine unbeabsichtigte Nebenwirkung: Wer einzig von der versuchten Ausrottung dieser kleinen Gemeinschaften hört, kann den irrigen Eindruck gewinnen, der deutsche Kolonialismus habe doch eigentlich nicht so arg viele Opfer auf dem Gewissen. Nimmt man indes den Maji-Maji-Krieg sowie den überaus blutigen Feldzug zur Verteidigung des Besitzes der ostafrikanischen Kolonie im Ersten Weltkrieg hinzu, dann hat das Kaiserreich allein in Afrika bis zu eine Million Tote hinterlassen. Überflüssig zu sagen, dass dafür niemand zur Rechenschaft gezogen wurde.
Eine Million, das entspricht fast der Zahl der in Auschwitz-Birkenau getöteten Menschen. Das kann man doch nicht vergleichen!!, höre ich. Aber vielleicht braucht es einmal einen solchen Hinweis, um ein Gespür dafür zu bekommen, was in nur drei Jahrzehnten deutscher Kolonialzeit geschehen ist. Warum aber fehlt das Erschrecken, warum so wenig Betroffenheit? Dies gilt weniger für den jüngeren migrantischen Teil Deutschlands, aber in der Mehrheitsgesellschaft ist der Mangel an Anteilnahme auffällig. Vergleicht man die Haltung gegenüber Opfern des Holocaust mit jener gegenüber kolonialen Opfern, zumal afrikanischen, dann ist da ein Empathiegefälle, das ich erklärungsbedürftig finde. Und ich schließe mich selbst in diese Erforschung ein; auch mir stehen die Opfer des Holocaust näher.
Seine verzweifelte Aussichtslosigkeit hat den Aufstand im Warschauer Ghetto für die Nachgeborenen zu einer ethischen Ikone gemacht, vor dessen Abbild Willy Brandt auf die Knie fiel. Die Aussichtslosigkeit des Aufstands der Maji-Maji-Kämpfer und -Kämpferinnen hat diese Wirkung nicht, er bleibt ein fernes, fremdes Ereignis. Gewiss: Zwischen Songea 1906 und Warschau 1943 gibt es einen ganzen Strauß von Unterschieden, und für unser Mitgefühl mag der wichtigste dieser sein: Aus dem Warschauer Ghetto wurde uns direkt berichtet, Leiden und Handeln wurden später literarisch verewigt. Wir können uns – so glauben wir! – in das Ghetto hineindenken, dank der Augenzeugenberichte von Marek Edelmann („Das Ghetto kämpft“), Emanuel Ringelblum („Notes from the Warsaw Ghetto“), Władysław Szpilman („Der Pianist“) oder Stephan Hermlins Annäherung „Die Zeit der Gemeinsamkeit“.
Maji-Maji hat uns keine Bücher geschickt, oder wir konnten sie nicht lesen. Sind das ausreichende Erklärungen?
Aus der Arbeit von Gilbert Gwassa berührt mich eine Szene besonders, vielleicht weil sie im Originalton eines Zeitzeugen verfasst ist, der ein Kind war während des Kriegs. „Wir, die Kinder, wurden am Tag der Exekution zusammengerufen. Wir standen in der ersten Reihe. Hinter uns standen die Frauen und in der dritten Reihe die Männer. Dann brachten sie das Opfer …“4 Es geht hier um einen routinemäßigen Akt, bei dem Kämpfer oder Gemeindeälteste an einem Baum in der Dorfmitte aufgehängt wurden. Die Kinder mussten auf deutschen Befehl aus nächster Nähe zusehen, ohne ihren Blick im Rock der Mutter verbergen zu können. Sie waren Teil eines homogenen Feindkörpers, in keiner Weise verwandt mit einem deutschen Kind im Kaiserreich; sie hatten keine Seele, die in diesem Moment für immer verletzt werden konnte.
Den Anderen auf diese Weise aus dem gemeinsamen Menschsein auszuschließen, verbindet für mich die beiden Epochen deutscher Gewaltgeschichte.
Aber das ist keine ausschließliche, exklusive Verbindung – es passt ja im Hinblick auf Dehumanisierung nicht nur Deutsches zu Deutschem, es passen auch deutsche Kolonialverbrechen zu britischen. Matt Fitzpatrick, Professor für internationale Geschichte an der australischen Flinders University, sieht zum Beispiel den Genozid in Südwestafrika am ehesten in einer Linie mit dem britischen Vernichtungskrieg gegen den Mahdi-Aufstand in Sudan einige Jahre zuvor. Die Stichhaltigkeit dieser Bezüge kann letztlich nur von fachlich spezialisierten Historiker:innen beurteilt werden; alle anderen tun meines Erachtens gut daran, verschiedene Erklärungsansätze nebeneinander bestehen zu lassen.
Denn worauf kommt es für die Allgemeinheit an? Was sollten wir wissen, worauf könnten sich Wohlmeinende einigen? Drei Dinge.
Erstens: Im Hinblick auf den NS-Krieg gegen die Sowjetunion sind die kolonial-rassistischen Motive heute unstrittig. „Der russische Raum ist unser Indien“, sagte Hitler. Der Generalplan Ost sah die Ermordung und Deportation von 30 Millionen „Slawen“ vor. Der deutsche Antislawismus ist uralt, er saß der Wehrmacht in den Uniformen. Allein in Weißrussland wurden 600 Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, wurden Städte ausradiert, Eliten vernichtet. Der Terror gegen die nichtjüdische Zivilbevölkerung im Osten ist eine Leerstelle im Gedenken, und sie ist der Indifferenz gegenüber den südlichen Opfern der Kolonialzeit ethisch verwandt.
Zweitens: Der Anspruch, bestimmen zu können, wer auf der Welt leben darf und wer nicht, wurde im Nationalsozialismus zu einem Grad an Konsequenz gesteigert, den man als bis dahin beispiellos ansehen kann. Doch rassistische Hierarchien, die massenhaftes Töten erlaubten, kannte die europäische Expansion seit ihrem Beginn im 15. Jahrhundert.
Den dritten Gedanken finde ich in einem Zitat des deutsch-jüdischen Essayisten Fabian Wolff am besten aufgehoben. „Nur wenn die Shoah nicht als hermetisch versiegelter Fakt außerhalb jeder Geschichte verstanden wird, sondern als radikalste Konsequenz einer gewalttätigen Aussonderung und Unterwerfung, als Teil von historischen Prozessen, die nicht 1933 begonnen und nicht 1945 aufgehört haben und in denen es nicht nur um Jüdinnen/ Juden und Deutsche geht, kann die Erinnerung an sie Grundlage dafür sein, dass Auschwitz nie wieder sein wird. Egal für wen.“5
Wenn jemand die Ansicht äußert, die Beschäftigung mit der Schoah habe die Erinnerung an den Kolonialismus überschattet, pflegen Deutsche eifrig zu nicken, während Nichtdeutsche und erst recht Nichteuropäer:innen erstaunt fragen: Habt ihr denn keine Zusammenhänge gesehen – den Wahnsinn des Rassismus? Eher nicht; das Wort Rassismus war lange reserviert für den exterminatorischen Antisemitismus der NS-Zeit, alles andere hieß Ausländerfeindlichkeit (auch in meinen Texten von damals). Zudem hatte die Mehrzahl der Deutschen bereits vor der NS-Zeit, also in den Tagen der Weimarer Republik, einen nostalgischen Schleier um das koloniale Unternehmen gehüllt; dahinter verblasste es zu einer beiläufigen Episode, schien irgendwann kaum mehr als ein Spleen gewesen zu sein. So wurde es leicht, sich rückblickend aus dem Gesamtschema des europäischen Kolonialismus auszuklinken: Wir waren die Harmlosen, kaum dabei.
2 Hannah Arendt, „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951), München/Zürich (Piper) 2006, S. 407.
3 Arendt, S. 25, siehe Anmerkung 2.
4 Gwassa, S. 203, siehe Anmerkung 1.
5 Fabian Wolff, „Nur in Deutschland“, Zeit Online, 2. Mai 2021.
Charlotte Wiedemann ist Journalistin und Autorin. Der vorliegende Text ist ein Vorabdruck aus ihrem neuen Buch, das am 27. Mai erscheint: „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“, Berlin (Propyläen Verlag) 2022. Wir danken dem Verlag für die Abdruckgenehmigung.