Französischer Wahlkampf im Zeichen des Krieges
von Serge Halimi
Emmanuel Macrons Amtszeit war nicht unbedingt von Erfolg gekrönt. Dennoch scheint seine Wiederwahl eine ausgemachte Sache zu sein. Die extreme Rechte ist zwar stark und erreicht je nach Umfrage zwischen 21 und 34 Prozent, da diese sich jedoch auf zwei Kandidaten verteilen, ist es höchst unwahrscheinlich, dass Marine Le Pen bei ihrem dritten Anlauf als Präsidentschaftskandidatin das Rennen macht.
Ein beträchtlicher Teil der bürgerlichen und konservativen Wählerschaft wird für Macron stimmen, weil dessen Wirtschafts- und Sozialpolitik ihren Vorstellungen entspricht. Zudem wird er von vielen führenden Politikern aus diesem Lager unterstützt. Und die Linke ist nicht nur zu schwach, um sich durchzusetzen.1
Die linken Parteien sind sich in wichtigen Fragen uneinig, und der Dissens wird immer größer. Das gilt etwa für das Renteneintrittsalter, die Wirtschaftsplanung und die Rolle der Atomenergie bis hin zu den Institutionen der Fünften Republik, dem europäischen Föderalismus, dem Bündnis mit den USA und dem Krieg in der Ukraine.
Sollte Jean-Luc Mélenchon am 24. April die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen erreichen – kein anderer linker Kandidat hätte überhaupt eine Chance –, würden etliche sozialistische und grüne Wähler und Wählerinnen eine Ausrede finden, warum sie dann doch lieber Macron unterstützen. Der profitiert überdies vom Krieg in der Ukraine, weil seine diplomatischen Bemühungen mehr Beachtung finden als die desolate Bilanz seiner fünfjährigen Präsidentschaft.
Macrons Amtszeit begann mit der Abschaffung der Vermögensteuer und der Senkung der Unternehmensteuern. Als er auch das Arbeitsgesetz reformieren wollte, gingen die Gelbwesten auf die Straße, die dann im November und Dezember 2018 mit unglaublich brutaler Polizeigewalt unterdrückt wurden.2 Doch Macron ficht das nicht an, wie man an zwei zentralen Punkten seines Wahlprogramms sehen kann. Der erste ist die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 65 Jahre – was sogar noch ein Jahr über die Forderung der Arbeitgeberverbände hinausgeht.
Das zweite wichtige Vorhaben betrifft alle Menschen, die Sozialhilfe beziehen: Sie sollen zu mindestens 15 Wochenstunden Arbeit verpflichtet werden. Was als „Maßnahme für Gerechtigkeit und Kaufkraft“ angepriesen wird, verschafft den Arbeitgebern billige oder sogar kostenlose Arbeitskräfte. Damit wären die Unternehmer von der Sorge befreit, wie schwer zu besetzende Jobs attraktiver zu machen wären – zum Beispiel durch höhere Löhne.
Ein wichtiges Thema ist auch die steigende Inflation. Da sie nicht von einer verantwortungsbewussten Lohnpolitik flankiert wird, muss die Mehrheit der Bevölkerung wohl oder übel den Gürtel noch enger schnallen. Die „Koste es, was es wolle“-Strategie der Regierung soll auf mittlere Sicht vor allem die Gewinnspannen derjenigen Unternehmen stabil halten, die von der sinkenden Nachfrage betroffen sind. Dabei erzielten die finanzstärksten börsennotierten Konzerne (deren Kurse dem CAC 40 zugrunde liegen) im Geschäftsjahr 2021 historische Rekordgewinne in Höhe von 160 Milliarden Euro.
Im Interesse der Industrie will Macron auch Preiskontrollen vermeiden, sodass diese ihre höheren Transportkosten und Rohstoffpreise ungehindert an die Kunden weitergeben können. Zwar müssen die Aktionäre künftig mit geringeren Dividenden rechnen, doch deren Schutz gehört nicht zu den vorrangigen Regierungsaufgaben.
Doch am meisten Gefahren würde eine zweite – und gemäß der Verfassung letzte – Amtszeit Macrons für die unteren Klassen mit sich bringen. Ohne sich um seine Wiederwahl sorgen zu müssen, könnte Macron, gestützt auf eine neue parlamentarische Mehrheit, sein neoliberales Projekt zu Ende bringen, das er wegen der Gelbwestenbewegung und auch der Coronapandemie teilweise aufschieben musste. Von diesem Vorhaben könnten ihn allenfalls noch brutalere Schocks mit entsprechend langfristigen Auswirkungen abhalten.
Ein solcher Schock ist der russische Angriff auf die Ukraine. Noch kann niemand das volle Ausmaß der Katastrophe erfassen. Doch schon stehen wir vor einer schrecklichen Bilanz: Was die Ukraine betrifft, so haben in den ersten fünf Kriegswochen bereits mehr als 4 Millionen Menschen das Land verlassen; hinzu kommen 6,5 Millionen Binnenflüchtlinge, das sind 15 Prozent der Gesamtbevölkerung.3
Die Zahl der zivilen Toten ist schwer zu erfassen, geht aber bereits in die Tausende. Was die russische Bevölkerung betrifft, so ist sie einerseits einem Regime unterworfen, das auf oppositionelle Regungen immer härter reagiert. Andererseits hat sie schwere Verluste unter den Soldaten zu verkraften, wie auch die westlichen Sanktionen und diversen Boykottmaßnahmen, die unterschiedslos Sportler, Künstlerinnen, Mastercard-Kunden und Netflix-Abonentinnen treffen. Wenn das Ziel darin besteht, das Volk dem „Herrscher im Kreml“ zu entfremden, so sind Kollektivstrafen nicht das geeignete Mittel.
Die Ukraine-Katastrophe hat noch weitere Konsequenzen. Am 14. März warnte UN-Generalsekretär Guterres vor einem „Zusammenbruch des globalen Ernährungssystems“. Russland wie die Ukraine sind wichtige Weizen-Exporteure (siehe Beitrag auf Seite 7). An der Klimafront ist die Lage ähnlich düster. Zum einen wird die allgemeine Aufrüstung den Verbrauch von fossilen Energien und Rohstoffen erhöhen, zum anderen sind Kriegszeiten schlecht für die internationale Kooperation, die für den Kampf gegen den Klimawandel unentbehrlich ist. Ganz zu schweigen von der Gefahr einer nuklearen Eskalation.
Ein Rückblick auf die Entstehung der Ukrainekrise hilft nicht nur zu verstehen, wie es so weit kommen konnte, sondern auch – und vor allem – Wege aus der Krise zu finden. Wir sind stets versucht, durch den Verlauf der Ereignisse nachträglich eigene frühere Mahnungen bestätigt zu sehen. Sicher ist jedoch: Noch vor sechs oder drei Monaten hätte sich niemand vorstellen können, dass die russische Armee in die gesamte Ukraine einmarschieren würde – selbst Präsident Selenski nicht.
Bei jedem Konflikt, der womöglich in eine nukleare Eskalation münden könnte, liegt die Macht letztlich in den Händen einer einzigen Person: „Die Abschreckung bin ich“, tönte einst Präsident François Mitterrand. „Die Entscheidung trifft das Staatsoberhaupt.“ Einige Jahre nach der Kubakrise berichtete Robert Kennedy über die Stimmung im engeren Nationalen Sicherheitsrat, unter den 14 Mitgliedern habe es 6 gegeben, „von denen meinem Eindruck nach jeder, wenn er Präsident der Vereinigten Staaten gewesen wäre, den Planeten in die Luft gejagt hätte“.4
Wladimir Putin steht seit 22 Jahren an der Spitze Russlands. Natürlich will man begreifen, was seine Beweggründe waren, als er seinen Truppen den Befehl zur Invasion in der Ukraine gab. Das ist insofern nicht so schwer, als er sich wiederholt zu diesem Thema geäußert hat. Aber es gibt dazu zwei widerstreitende Interpretationen. Die erste lautet: Putin reagierte darauf, dass seine sicherheitspolitischen Forderungen vom Westen immer wieder abgelehnt wurden, während die Nato entgegen ihren Zusagen immer näher an die russische Grenze heranrückte.
Die zweite Erzählung lautet: Putin wurde in seinem Expansionsdrang ermutigt, als Reaktionen auf seine wiederholten Aggressionen ausblieben; also hat ihm die Passivität des Westens die Chance eröffnet, die alte russische Einflusssphäre wiederherzustellen.
Beide Erklärungsansätze – defensive gegen revanchistische Logik – sind nicht total unvereinbar. Der erste Lesart, die an dieser Stelle mehrfach dargestellt wurde, kann sich auf eine Vielzahl historischer Dokumenten stützen. Die zweite, von Neokonservativen bevorzugte, rekurriert dagegen auf psychologische Spekulationen über die Verhaltensweisen von Diktatoren. Sie diente bereits dazu, den Golfkrieg (1991), den Kosovokrieg (1999), den Afghanistankrieg (2001) und den Libyenkrieg (2011) zu rechtfertigen und das Ausbleiben einer ebenso entschlossenen militärischen Reaktion in Georgien, Syrien und der Ukraine anzuprangern.
Die Grundannahme dieser Lesart ist recht simpel. Wenn man einen Feind des Westens, der vom rechten Weg abweicht, nicht sofort „bestraft“, ermutigt man ihn zu noch größeren Aggressionen. Es versteht sich von selbst, dass diese Abstrafungsdoktrin niemals auf die USA, Saudi-Arabien oder Israel angewendet wird.
Demnach lässt sich der russische Angriff auf die Ukraine nicht einmal teilweise mit der verstärkten Präsenz der USA an den Grenzen Russlands erklären, sondern vielmehr durch die Tatsache, dass die Nato der Ukraine die Mittel zur Abschreckung ihres mächtigen Nachbarn verweigert hat.
In Washington beschuldigen dem Pentagon hörige republikanische Abgeordnete die Biden- und die Obama-Regierung, „zu zaghaft, zu langsam, zu spät“ agiert zu haben. Die Liste der angeblichen Versäumnisse ist lang und reicht vom übereilten Ende des Afghanistankriegs über die Weigerung, sich in Syrien stärker zu engagieren, bis zum Ausbleiben einer harten Reaktion des Westens auf die Annexion der Krim durch Russland.
Dieselben Kreise bemäkeln ein unzureichendes Militärbudget (von 768 Milliarden US-Dollar) und Umweltgesetze, die angeblich zulasten der einheimischen Öl- und Gasförderung gehen. Angesichts des Verzichts auf die Keystone-XL-Ölpipeline lästerte Karl Rove: „Putin dürfte verblüfft gewesen sein, dass die USA einen derart großen Vorteil verschenkt haben.“5
Der Chefstratege von George W. Bush und Architekt des Irakkriegs kommentiert seit Jahren jeden Krieg. Er muss nicht befürchten, dass er für die von ihm geplanten Verbrechen jemals zur Rechenschaft gezogen wird. Die Neokonservativen sind überzeugt, dass der Westen zumindest teilweise für den aktuellen Krieg verantwortlich ist, und zwar nicht wegen der Nato-Osterweiterung, sondern weil er Putin in Georgien, Syrien und auf der Krim einfach hat machen lassen.
Warum sollte er „an den Grenzen der Ukraine haltmachen?“, fragt beispielsweise auch der EU-Parlamentarier Raphaël Glucksmann von der linken Liste Envie d’Europe écologique et sociale und gibt die Antwort: „Anhand der Karten der baltischen Staaten erörtern die Experten des Regimes schon die Pläne für zukünftige Invasionen.“6
Die Rhetorik der Falken ist per se unwiderlegbar. Sie können schließlich immer behaupten, eine Niederlage wäre zum Sieg geworden, hätte man nur früher oder härter zugeschlagen. Und wenn ihre Eskapaden schiefgehen, sind natürlich nicht sie verantwortlich, sondern die „Appeaser“, weil sie kurz vor dem Sieg kapituliert haben. Wer ihnen entgegenhält, dass die Russen nicht Berlin, London oder Paris angreifen werden, bekommt die Antwort: Ihr habt ja auch nicht geglaubt, dass sie Kiew bombardieren würden. Als angeblicher Kreml-Propagandist hat man praktisch keine Chance, ihnen begreiflich zu machen, dass die russische Regierung kein Raubtier ist, das nur auf eine Schwäche seiner Beute wartet, um sie zu verschlingen.
Die Tragödie hätte tatsächlich vermieden werden können. Die meisten Experten geben zu, dass die Bush-Regierung 2008 mit dem Feuer spielte, als sie der Ukraine die Nato-Mitgliedschaft in Aussicht stellte. Dabei war man sich in Washington zweifellos darüber im Klaren, dass man die Ukraine im Fall eines Angriffs nicht schützen kann. Das war geradezu unverantwortlich, wenn man daran denkt, dass Putin erst ein Jahr zuvor bei der Münchner Sicherheitskonferenz seine Besorgnis darüber geäußert hatte, „dass die Nato ihre Streitkräfte näher an unsere Grenzen heranrückt, ohne dass wir reagieren“, und in die Runde fragte: „Was ist aus den Zusicherungen geworden, die unsere westlichen Partner nach der Auflösung des Warschauer Pakts gegeben haben?“
Moral hin oder her, Großmächte neigen nun einmal dazu, ihre Sicherheit mit der Verteidigung ihres Einflussbereichs gleichzusetzen, notfalls auch mit Gewalt. Darauf verwies etwa der linke US-Senator Bernie Sanders am 10. Februar: „Selbst wenn Russland nicht von einem korrupten autoritären Führer wie Wladimir Putin regiert würde, hätte es genauso wie die Vereinigten Staaten ein Interesse an der Sicherheitspolitik seiner Nachbarländer. Glaubt denn jemand, dass die Vereinigten Staaten nichts dazu sagen würden, wenn zum Beispiel Mexiko ein Militärbündnis mit einem Gegner der USA eingehen würde?“7
Macron profiliert sich als Friedensvermittler
Diese Frage stellen sich auch viele andere Länder – nicht weil sie für die Not der Ukrainer unempfindlich wären, sondern weil sie den Westen für heuchlerisch halten, der sich heute über Verbrechen empört, die er gestern selbst begangen hat. Ein Beispiel dafür ist die Besetzung des Irak durch die USA, an der 15 von 27 EU-Ländern beteiligt waren. Auch die Ukraine hat mitgemacht, wenn auch vielleicht nur in der Hoffnung, dass US-Präsident Bush es ihr danken würde.
In diesem Krieg ist moralischer Eifer ein besonders gefährlicher Kompass. Die ständigen Bilder von Flucht und Zerstörung stärken verständlicherweise den Wunsch nach Vergeltung und die Versuchung, Maximalforderungen zu stellen. Immer neue Sanktionen müssen her und neue militärische Maßnahmen; kaum wurden die einen bewilligt, sollen schon die nächsten folgen.
Moskau kann jedoch nicht wie Bagdad, Belgrad, Gaza oder Tripolis behandelt werden. Russland wird diesen Krieg zwar nicht gewinnen, aber es kann ihn auch nicht komplett verlieren. Putins mörderisches Vabanquespiel hat zweifellos das Gegenteil des erhofften Effekts bewirkt. Wir sehen eine Armee, die sich in der Ukraine aufreibt und nur noch blinde Zerstörung betreibt; eine Nato, die die Reihen hinter der Führungsmacht USA schließt; Sanktionen, die drastischer ausfallen als erwartet; und ein Russland, dessen diplomatisches Prestige dauerhaft beschädigt ist.
„Der amerikanische Imperialismus ist ein Papiertiger“, verkündete Mao Tse-tung 1956. Sollte ein westlicher Eiferer geneigt sein, dasselbe heute über Russland zu sagen und zum Halali zu blasen, sollte er bedenken, was die sowjetische Führung damals zu der abenteuerlichen Strategie des chinesischen Staatspräsidenten gesagt hat: Der Papiertiger hat nukleare Zähne. Man sollte ihn nie in die Enge treiben, damit er sich nicht zwischen Niederlage und Eskalation entscheiden muss.
Im Juni 1963, die Kubakrise war noch kein Jahr vorbei, erklärte John F. Kennedy: „Die Atommächte müssen bei der Verteidigung ihrer eigenen lebenswichtigen Interessen alle Konfrontationen vermeiden, die den Gegner vor die Wahl stellen, entweder einen demütigenden Rückzug oder einen Atomkrieg zu führen.“8
Die Ukraine wird weder die Krim noch den Donbass zurückbekommen und sie wird auch nicht der Nato beitreten. Russland wird keines der eroberten Gebiete aufgeben, bevor nicht zumindest ein Teil der Sanktionen zurückgenommen wird. Solche Zugeständnisse mögen enorm und angesichts der ukrainischen Opfer ungerecht sein. Allerdings würden sie lediglich die Situation vor der russischen Invasion wiederherstellen und gleichzeitig Putin einen Ausweg eröffnen, um seine strategische Schlappe zu vertuschen. Präsident Selenski scheint dazu bereit zu sein – unter der Bedingung, dass die Ukraine internationale Sicherheitsgarantien erhält und die betroffene Bevölkerung zustimmt. Bis es so weit ist, ruft er seine Leute weiter zum Widerstand auf.
„Europa kann nicht sicher und in Frieden leben, solange es nicht mit Russland spricht und sich weiter um ein konstruktives Verhältnis zu Russland bemüht“, hat Präsident Macron gesagt. „Denn das ist unsere Geschichte und unsere Geografie.“ Aus Sicht der USA sieht die Lage ganz anders aus. Dort braucht man nicht zu befürchten, ein großes, gedemütigtes und rachsüchtiges Land als Nachbarn zu haben.
Die aktuelle Krise beschert der US-Regierung sogar eher gute Nachrichten. Immerhin hat Putin, der als brillanter Stratege gepriesen wurde, die Träume der Neokonservativen erfüllt: ein Europa, das geeint ist und sich an die USA anlehnt, das mehr Geld für seine Verteidigung ausgibt – natürlich für den Kauf von US-Waffen – und das sich aus seiner Abhängigkeit von russischem Gas löst und stattdessen Schiefergas aus den Appalachen und aus Texas bezieht.
Im Übrigen ist es immer einfacher, über einen Krieg nur als Beobachter zu schwadronieren, wenn man über die mächtigste Armee der Welt verfügt und der Konflikt nicht an den eigenen Grenzen, sondern auf der anderen Seite des Atlantiks stattfindet.
Dass diese schwere internationale Krise auch die französischen Präsidentschaftswahlen beeinflusst, ist kein Wunder. Die Sozialisten und die Grünen versuchen angesichts ihrer wenig überzeugenden Wahlkampagnen und pessimistischen Umfragen, den Krieg zu instrumentalisieren, um ihren gewaltigen Abstand zu Mélenchon zu verringern. Der Kandidat von La France insoumise (LFI) hat den russischen Angriffskrieg zwar sofort verurteilt und seine große Kundgebung in Paris am 20. März „dem Widerstand des ukrainischen Volks gegen die russische Invasion und den mutigen Russen, die gegen den Krieg und gegen die Diktatur kämpfen“ gewidmet.
Moralischer Eifer ist kein guter Kompass
Doch Mélenchons – im Übrigen völlig legitime – Auslassungen gegen die Nato wurden ihm so ausgelegt, als wolle er die Demokratien schwächen und die Franzosen zu „Vasallen Chinas und Russlands machen“, wie die sozialistische Kandidatin Anne Hidalgo sich ausdrückte. Die Pariser Bürgermeisterin bezeichnete Mélenchon sogar als „Agenten“, der „eher den Interessen Putins als denen Frankreichs dienen dürfte, wenn er die Pläne des russischen Regimes gegen Europa und unser demokratisches Modell herunterspielt“.9 Und der Grünen-Kandidat Yannick Jadot unterstellte Mélenchon, er wolle „die Ukraine zugunsten Russlands verschwinden“ sehen.
Solange der Ukrainekrieg die politische Agenda dominiert, ist es nur schwer vorstellbar, dass die linken Protagonisten in ein paar Wochen oder Monaten an einem Strang ziehen werden, um die jüngsten Maßnahmen zum Abbau des Sozialstaats zu verhindern. Eine Kooperation der Rechten und der extremen Rechten könnte sich demgegenüber als einfacher erweisen. Schon jetzt haben die gemäßigt rechten Parteien viele rechtsextreme Forderungen zur Sicherheits- und Einwanderungspolitik übernommen, während sich die extreme Rechte dem liberalen Wirtschaftsprogramm der gemäßigt Rechten annähert.
Das sind keine guten Nachrichten für die Zukunft der bürgerlichen Freiheiten. Schon in den letzten fünf Jahren haben die Angst vor Unsicherheit, Terrorismus, Pandemie und Krieg eine antidemokratische „Schockstrategie“ gefördert und einen autoritären Präsidenten ermutigt, die Angst als Mittel zum Zweck einzusetzen.
Die Bürgerrechtsbeauftragte Claire Hedon war sichtlich entsetzt darüber, wie bei der Einführung des Gesundheitspasses (le pass sanitaire) im Sommer 2021 die sozialen Kontrollmaßnahmen im Namen der Pandemiebekämpfung heruntergespielt wurden: „Privatpersonen werden damit beauftragt, den Gesundheitszustand von Personen und damit zugleich ihre Identität zu kontrollieren. Dies ist letzten Endes nichts anderes als die Überwachung eines Teils der Bevölkerung durch einen anderen.“10
Die Coronabeschränkungen wurden gerade aufgehoben, aber die relative Gelassenheit, mit der die Bevölkerung sie bis dahin hingenommen hatte, lässt darauf schließen, dass man wieder darauf zurückgreifen wird.
Denn so ist es fast immer: Wenn ein neues technologisches Instrument einen Eingriff in die bürgerlichen Freiheiten möglich macht, setzt es sich durch und wird dauerhaft etabliert. Den Familienstand bei allen Behördengängen angeben zu müssen, das Geburtsdatum für den Erwerb eines Zugtickets oder die Kreditkartennummer, um bei den „Bürgervorwahlen“ seine Stimme abzugeben – der „illiberalste“ Präsident der Fünften Republik hat all dies zum Alltag gemacht. Überdies war die politische Debatte bis zum Ausbruch des Ukrainekriegs von den Themen Einwanderung und Unsicherheit beherrscht, die nicht nur von den rechtsextremen Kräften gepusht wurden.
Unser Leben in Frankreich wird immer mehr vom Ausnahmezustand bestimmt. Das zeigen etwa der Einsatz gepanzerter Polizeifahrzeuge gegen friedliche Demonstrationen oder die polizeiliche und gerichtliche Verfolgung der Gelbwesten. Aber auch die Angriffe von Innenminister Darmanin gegen linke Organisationen wie die beiden Palästina-Solidaritäts-Gruppen Collectif Palestine Vaincra und Comité Action Palestine oder gegen die Lyoner Antifa Gale (Groupe antifasciste Lyon et environs), denen er im März die Auflösung angedroht hat.
Die Lehre lautet: Die bürgerlichen Freiheiten müssen auch hierzulande verteidigt werden. Doch die mögliche Neuauflage des Szenarios von vor fünf Jahren, also eine Stichwahl zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen, lässt leider vermuten, dass wir uns nicht für diesen Weg entscheiden.
1 Siehe „Trauerspiel in Rot“, LMd, Januar 2022.
5 Karl Rove, „Zelenski Defines Courage in Our Time“, The Wall Street Journal, 17. März 2022.
9 L’Express, 28. Februar 2022.
10 Siehe Franceinfo, 20. Juli 2021.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert