07.04.2022

Pharaonische Obsession

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Pharaonische Obsession

Wie das Al-Sisi-Regime das antike Erbe Ägyptens für politische Zwecke instrumentalisiert

von Léa Polverini

Sphinx-Allee in Luxor picture alliance/dpa/cam
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Die El-Orouba-Autobahn, die das Stadtzentrum von Kairo mit dem Flughafen verbindet, ist von riesigen Reklametafeln gesäumt. Geworben wird für Coca-Cola und Immobilienmakler, aber auch für die Sphinx und die Mumien der Pharaonen. Und für die Mächtigen von damals und heute, Tutanchamun respektive Abdel Fattah al-Sisi: salbungsvoll lächelnd, im Hintergrund die Pyramiden.

Der ägyptische Präsident macht höchstpersönlich Reklame für das antike Erbe, das den Stolz des Landes ausmacht. Am 3. April 2021 eröffnete er die spektakuläre „Goldene Parade der Pharaonen“,1 bei der 22 Mumien in das neue Nationalmuseum der ägyptischen Zivilisation überführt wurden. Das Ereignis wurde von mehr als 400 ausländischen Fernsehsendern übertragen. Es wurde inszeniert, um die Touristen nach Ägypten zurückzulocken.

Aber hinter den Werbetafeln ließ sich auch das alltägliche Elend vor den Kameras verbergen, zum Beispiel die schäbigen Fassaden der sogenannten informellen Siedlungen entlang der Prozessionsstraße. Das Spektakel war für die Bildschirme bestimmt, nicht für die einheimische Bevölkerung. Den Anwohnern wurde untersagt, auf die Straße zu gehen, um den Umzug nicht zu stören.

Der Tourismus erbringt einen Anteil von mehr als 10 Prozent am ägyptischen Bruttoinlandsprodukt, zudem ist er die größte Devisenquelle des Landes. Die Revolution von 2011 und die Attentate in Touristenorten hatten die Konjunktur stark gedämpft. Doch ohne die Coronapandemie, die die Ökonomie erneut geschwächt hat, würde Ägypten wohl sehr viel besser dastehen: In den Jahren 2018 und 2019 erzielte die Tourismusbranche mit 12,6 Milliarden US-Dollar bereits wieder ebenso große Einnahmen wie vor der Revolution.

Um diese Erholung zu fördern, baut die Regierung überall: Das Kairoer Stadtzentrum wird erneuert, Luxor umgestaltet, neue Städte werden angelegt und riesige Museen gebaut. Und überall verkünden die Symbole des alten Ägyptens die Botschaft, dass das Land bei aller Modernität das stolze Erbe einer tausendjährigen Kultur verkörpert. Mit den Touristen will Ägypten auch neue Investoren anlocken und das Image aufpolieren, das durch die politischen Unruhen des letzten Jahrzehnts und besonders durch die von Unterdrückung, willkürlichen Verhaftungen und Missachtung der Menschenrechte geprägte Präsidentschaft al-Sisis erheblich gelitten hat.2

Wenn es eine Wissenschaft gibt, die sich als Instrument des autoritären Systems anbietet, ist es die Ägyptologie. Sie schenkt der Gesellschaft den Traum einer großen Vergangenheit; zudem ist sie ein erstklassiges diplomatisches Werkzeug, um das Regime auf dem internationalen Parkett zu rehabilitieren. Die Obelisken und Sarkophage sind für Ägypten das, was der Rock ’n’ Roll für die USA und die Pandas für China sind: Kultobjekte, mit denen Träume verkauft werden.

Die lebenden Bewohner der Totenstadt

Dass die antike Vergangenheit für politische Ziele ausgenutzt wird, ist nicht neu. Das war schon während der Herrschaft von Muhammad Ali Pascha (1805–1848) so, der das Land modernisierte. Als osmanischer Gouverneur bot er seinen ausländischen Partnern antike Schätze als Entgelt für erwiesene Dienste an. So gelangte zum Beispiel 1836 der Obelisk aus dem Tempel von Luxor auf die Place de la Concorde in Paris. Damals wurden die Ausgrabungen überwiegend von den europäischen Kolonialmächten geleitet, die Verbindung zwischen antikem Erbe und nationaler Identität war noch nicht hergestellt; sie entstand erst allmählich im Zuge der Unabhängigkeitsbestrebungen ab Ende des 19. Jahrhunderts.

„Seit Nasser dient die ägyptische Antike als Instrument, um diskrete diplomatische Kontakte mit westlichen Mächten zu knüpfen, auch wenn man nach außen eine panarabische und antiwestliche Ideologie vertritt“, erläutert die Politikwissenschaftlerin Sandrine Gamblin, die über das kulturelle Erbe und den internationalen Tourismus in Ägypten arbeitet. Als Beispiel nennt sie die französisch-ägyptische Zusammenarbeit bei der Rettung der Monumente in Nubien, die nach der Suezkrise 1956 zur Verbesserungen der bilateralen Beziehungen beitrug und die Tourismuspolitik der Regierung stärkte. Der Nasserismus setzte zwar auf umfassende Verstaatlichungen, aber der Tourismus blieb in privaten Händen und prosperierte dank der Partnerschaft zwischen Ägypten und ausländischem Kapital.

Dieser Umgang mit dem ägyptischen Erbe hatte jedoch einen Preis, den häufig die lokale Bevölkerung zahlte. Auch die aktuelle Politik der Stadterneuerung führt zur Zerstörung großer Stadtviertel und zur Vertreibung ihrer Bewohner. „Hinter jeder Sphinx und jedem Obelisken“, sagt der Geograf Roman Stadnicki, „verbergen sich in Ägypten irgendwelche Sanierungsstrategien oder eine autoritäre Stadtplanung.“

Hinter der „Sphinx-Allee“ etwa, die den Luxor- mit dem Karnak-Tempel verbindet und jüngst eröffnet wurde, verbirgt sich ein städtebauliches und menschliches Desaster. Um freies Feld für das Projekt zu schaffen, wurden mehrere Siedlungen abgerissen und historische Gebäude wie der 1897 gebaute Palast von Tawfik Pascha Andraos zerstört. Um das antike Theben zu rekonstruieren, war ursprünglich vorgesehen, das gesamte urbane Gefüge Luxors zu zerstören. Stattdessen sollte als Touristenattraktion das ideale „Freilichtmuseum“ entstehen – malerisch, aber ohne eine lebende Seele.

Der Spatenstich erfolgte unter der Präsidentschaft von Husni Mubarak. Gefördert vom UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) begann 1996 die Umsetzung des „Comprehensive plan of Luxor city project“. Unter Leitung des US-Entwicklungsdienstleisters Abt Associates sollte das Projekt die Armut bekämpfen helfen und Arbeitsplätze schaffen. 2006 rollten die Bulldozer der Armee an. Die Unesco protestierte nachdrücklich, als sie von dem umstrittenen Plan erfuhr, am Nil eine Landungsbrücke aus Beton zu bauen, die einen Panoramablick auf die antike Stätte bieten sollte.

Nach einem längeren Tauziehen mit dem früheren Minister für ägyptische Antike, Zahi Hawass, fiel das Projekt ins Wasser. Aber Luxor blieb damit nicht vollkommen verschont. „Menschen wurden umgesiedelt und der Raum unter ausschließlich touristischen Aspekten so umgestaltet, dass der Zugang zu den Sehenswürdigkeiten erleichtert wurde“, erläutert Sandrine Gamblin, „die Touristen sollten so wenig wie möglich in Kontakt mit der Bevölkerung kommen.“

Tatsächlich ist die Umgestaltung der Stadt Luxor ein klassischer Fall von kapitalistisch und monopolistisch organisiertem Tourismus. Die Einnahmen gehen an Public-private-Partnerships (PPP). Eine nationale Klausel verbietet es ausländischen Reiseunternehmen, ohne ägyptischen Partner im Land tätig zu sein. Nur die historische Stätte selbst bekommt einen Teil des finanziellen Segens ab. Die Aufwertung des archäologischen Erbes geht mit einer städtebaulichen Sterilisierung einher, die vor allem eine reibungslose Anfahrt der Touristenbusse ermöglichen soll und sehr gut zu den Sicherheitsvorkehrungen passt, die seit den Attentaten in den 1990er Jahren gelten.

Bis 2016 war es für Ausländer unmöglich, bestimmte Sehenswürdigkeiten im Süden des Landes, wie Abu Simbel, ohne Militäreskorte zu besuchen. Inzwischen wurden die Regeln aufgeweicht, aber an den Straßen gibt es immer noch unzählige Checkpoints.

Die Obsession des Regimes für große Verkehrsachsen zeigt sich auch in dem Zehnjahresplan al-Sisis, der Ägypten zu einem der wichtigsten globalen Knotenpunkte für Transport und Logistik machen soll. Er liefert die Legitimation für noch das umstrittenste Bauvorhaben, das die Regierung bevorzugt durch Bauunternehmen der Armee ausführen lässt.3

Einige Autobahnen haben immerhin den Vorteil, dass sie über Bewässerungskanälen verlaufen, die an anderer Stelle längst zu Mülldeponien geworden sind. Damit tragen sie immerhin zur Reinhaltung des Wassers und zum Kampf gegen die Wasserknappheit bei. Oft geht der Autobahnbau jedoch auf Kosten landwirtschaftlicher Flächen – oder zerstört sogar Wohngebiete, die der Staat im Kampf gegen die informellen Siedlungen ohnehin im Visier hat.

Teile des kulturellen Erbes, die wenig profitabel erschienen, wurden in großem Stil zerstört. Im Osten der Hauptstadt erstreckt sich die 1000 Hektar große Stadt der Toten, die größte Nekropole des Nahen Ostens, deren Anfänge ins 7. Jahrhundert zurückgehen. Sie ist von der Unesco als Weltkulturerbe anerkannt, wobei ihr Kennzeichen ein architektonischer Synkretismus ist.

Im Juli 2020 rollten die Bulldozer der Armee über die ungepflasterten Wege des Friedhofs, auf dem Tote und Lebende zusammen wohnen. Das Terrain sollte geräumt werden, um einen Autobahnzubringer zu bauen, der Kairo mit der neuen Verwaltungshauptstadt verbinden soll. Die Grabsteine wurden von Baggern zerstört, noch bevor die Leichen verlegt werden konnten.

Menschen mussten zusehen, wie Mausoleen, die sie als Wohnraum nutzten, ohne Vorwarnung und Entschädigung plattgewalzt wurden. Nationale sowie internationale Gesetze über das kulturelle Erbe wurden missachtet; doch der Minister für Antike behauptete, die zerstörten Strukturen stammten ausschließlich aus dem 20. Jahrhundert. Eine Petition von Architekten bei der Unesco konnte die Zerstörungswut für kurze Zeit stoppen, aber Ende 2021 waren die Baufahrzeuge zurück und die Proteste waren verstummt.4

„Die Architekten haben Angst, das Thema anzusprechen“, klagt Galila El Kadi, Co-Autorin eines Buches über die Stadt der Toten.5 „Sie arbeiten für das Antike-Ministerium an der Restaurierung antiker Stätten oder für den Staat, und die Armee vergibt alle Aufträge. Wenn sie den Mund aufmachen, könnten sie ihren Job verlieren. 20 Beamte des Ministeriums wurden bereits entlassen, weil sie gegen die Herabstufung von Monumenten protestiert hatten.“

Inzwischen sind 2700 Gräber zur Zerstörung freigegeben, darunter das von Königin Farida, der ersten Ehefrau von König Faruk (dem letzten Herrscher Ägyptens), aber auch die von Politikern und Dichtern, die architektonisch wie symbolisch wertvoll sind. Die lebenden Bewohner der Totenstadt werden – wenn überhaupt – nur durch vage Ankündigungen und widersprüchliche Warnbriefe des Gouverneurs informiert.

Was die Zahl der Betroffenen angeht, so sind die Angaben – wie häufig in Ägypten – sehr willkürlich. Offiziell hat die Stadt der Toten mehr als 1,5 Millionen Einwohner. „Tatsächlich sind es höchstens 175 000. Und davon leben weniger als 15 000 in den Grabgebäuden selbst“, versichert Galila El Kadi. Warum sollte man die Zahl so aufblähen? „Um zu sagen, dass das Problem nicht lösbar ist. Und was macht man mit einem unlösbaren Problem? Man macht es platt.“

Im Schatten des strahlenden Pharaonen-Erbes pflegt die Regierung also eine sehr selektive Behandlung von Kulturdenkmälern. Islamische, koptische oder einfach historische Bauten werden gleichermaßen geopfert, wenn damit Grund und Boden frei wird, den man Investoren anbieten kann. In Ägypten ist der Boden teuer und die Baufirmen fungieren als Käufer.

Gegen die Dekrete des Präsidenten richten die schüchternen Proteste der Unesco nichts aus. Die Nachsicht der UN-Institution gegenüber Ägypten erklärt El Kadi damit, dass man dem Land offenbar eine wichtige stabilisierende ­Rolle in der Region zuschreibt: „Deswegen darf man die Staatsmacht nicht verärgern; das zählt mehr als das kulturelle Erbe und die Menschenrechte.“

Offiziell begründet wird die Zerstörung von Armenvierteln wie Sayeda Zeinab oder Maspero mit Einsturzgefahr, etwa bei Erdbeben. Tatsächlich handelt es sich um Kollateralschäden einer „Haussmannisierung“ Kairos. Das ganze Großprojekt ist als PPP organisiert. Wobei der private Partner das Unternehmen Orascom Construction ist, das Nassef Sawiris, einem der reichsten Männer des Landes, gehört.

Die soziale Bilanz des Eingriffs macht Roman Stadnicki auf: „Das Ägypten des Volkes, das seit den 1950er Jahren große Gebiete in Eigenregie bebaut hat, wird ohne Vorwarnung zerstört. Die Staatsmacht betrachtet das überhaupt nicht als Teil des historischen Erbes; doch die ägyptische Geschichte ist eine Abfolge kultureller Epochen, die ganz unterschiedlich sind.“

Mit der Zerstörung von Maspero verschwindet auch ein Teil des Erbes der Revolution. Die informelle Siedlung liegt nah am Tahrir-Platz, auf dem 2011 die großen Demonstrationen stattfanden. Schon damals ging es auch um die Erhaltung solcher Wohnviertel. Die 2019 begonnene Umgestaltung des Tahrir-Platzes unterliegt einer ähnlichen Dynamik, die auf die Rückeroberung des Platzes durch die Staatsmacht zielt. Die manifestiert sich in den baulichen Sicherheitsstrukturen: Betonpoller überall, breite, kahle Alleen, Polizeiposten an jeder Ecke.6

Und selbst noch im Zentrum des Tahrir-Platzes – mit seinem dreitausendjähriger Obelisken aus Tanis im Nildelta, umgeben von vier Sphinxen aus dem Tempel von Karnak – lauern überall und rund um die Uhr die Wachleute von ASSC Security und machen Jagd auf die Fotoapparate von Neugierigen.

„Die Machthaber tun so, als würden die Männer die antiken Schätze bewachen, was ja legitim wäre“, sagt Stadnicki. Aber hier geht es nicht um den Schutz des Pharaonen-Erbes. Im Gegenteil: Die Wissenschaftler sind empört, dass die erosionsanfälligen Sphinx-Figuren überhaupt auf diesen Platz versetzt wurden, über den jeden Tag tausende Autos fahren.

Für Sandrine Gamblin geht es weniger darum, die Spuren der Revolution von 2011 auszulöschen, als „vor allem die Symbole der Macht, die auf das alte Ägypten verweisen, zur Schau zu stellen. Der pharaonische Stil ist in der zeitgenössischen Architektur des Regimes allgegenwärtig.“

Gamblin nennt ein weiteres Beispiel der Ausbeutung des „Pharaonismus“ für politische Ziele, nämlich der Beilegung von Konflikten: Nach dem Tod von Saad Zaghlul, der sich für die Unabhängigkeit Ägyptens eingesetzt hatte, stritt man 1927 über eine islamische Architektur für sein Grabmal. Am Ende einigten sich alle auf ein Mausoleum im Pharaonenstil.

Polizeiposten am Tahrir-Platz

Das historische Erbe ist also immer dabei – je nach den aktuellen politischen Interessen. Darin liegt auch ein ganz pragmatischer Aspekt: In einem Land, wo man sich nur einmal bücken muss, um ein Stück Antike in der Hand zu halten, weiß man nicht immer, wohin damit.

Gamblin verweist auch auf einen ökonomischen Aspekt: „Seit den nuller Jahren hat man in der Tourismuspolitik fast nur auf den Strandurlaub gesetzt; der archeologische Kultur-Tourismus spielte kaum eine Rolle. Jetzt kommt man darauf zurück, und das Pendel schwenkt zurück.“ Allerdings kommen die Touristen, die Meer, Strand und ein Tauchparadies suchen, Jahr für Jahr wieder, während sie die Pyramiden nur einmal besuchen.

Das andere Motiv für den Kampf gegen die informellen Siedlungen sind die gewaltigen Investitionen in neue Städte, vor allem in die neue ägyptische Hauptstadt, die Sisi-City, wie sie die Gegner des Präsidenten nennen. „Das sind Projekte zur Eroberung der Wüste, um Kairo zu entlasten“, erläutert Stadnicki. „Es sind genormte, überwachte, gesicherte Entwicklungsprojekte, und damit in jeder Hinsicht das Gegenteil der Agglomeration Kairo mit ihren Armenvierteln und informellen Siedlungen“. Der Geograf spricht von „Exurbanisierung“ als einer Methode, „eine Stadt ihrer Zentren zu berauben“.

Dass die neue Version des modernen Kairo dem Ehrgeiz ihrer Planer gerecht wird, kann man sich angesichts der großen Verzögerungen im Zeitplan und der ständig wechselnden Investoren kaum vorstellen. Die Bautätigkeit wurde 2015 von Emaar Properties begonnen. Dem Rückzug des Dubaier Bauriesen folgte die Übernahme durch die China State Construction Engineering Corporation und schließlich durch das ägyptische Konsortium 5+ UDC.

Neben den Abbildungen auf den Hochglanzbautafeln, die an Dubai und Abu Dhabi erinnern, nimmt sich die Wirklichkeit mit halbfertigen Straßen und leeren Häusern trostlos aus. Sisi-City ist auf 6,5 bis 15 Millionen Bewohner ausgelegt, aber es ist keineswegs sicher, dass selbst die wohlhabenden Kairoer zum Umzug bereit wären. Und die Zwangsumsiedlung der enteigneten Bevölkerung in andere neue Städte, die überhaupt nicht auf die Bedürfnisse der einfachen Schichten eingerichtet sind, war bislang wenig erfolgreich.

Das wirklich Neue bei diesen ehrgeizigen Plänen liegt in der kulturellen Dimension, die diesen urbanen Konglomeraten in der Wüste aufgepfropft werden soll. Das Regime berauscht sich an dem gigantischen Museum, das zu Füßen der Pyramiden entstehen soll. Und in der neuen Hauptstadt wurde bereits der Kongress- und Kulturpalast eingeweiht. Stadnicki sieht darin „eine Überinvestition in kulturelle Projekte“, für die er zwei Gründe sieht. Das ist zum einen der Einfluss der Golfmonarchien, die schon lange verstanden haben, dass die Kultur für das internationale Image einer „destination“ von entscheidender Bedeutung ist. Der zweite Grund ist schlicht der, dass sich „über Museen oder Kulturpaläste leichter sprechen lässt als über das, was weniger gut läuft, wie der Bau der neuen Hauptstadt“.

Ägyptens Modernisierungsdrang findet offenbar die Unterstützung der europäischen Staaten. Am 7. Dezember 2020 verlieh Präsident Emmanuel Macron Marschall al-Sisi – wenn auch diskret – das Große Kreuz der Ehrenlegion.7 Am 8. November 2021 konnte der französische Alstom-Konzern einen 876-Millionen-Euro-Auftrag für die Renovierung der Kairoer Metro melden, finanziert über die staatliche Entwicklungshilfe, also die Agence française de développement (AFD). Zwei Wochen später enthüllte die NGO Disclose die Beihilfe Frankreichs bei der Tötung von Zivilisten durch das ägyptische Militär.8

Offenbar kann sich Ägypten noch immer auf die Faszination verlassen, die sein kulturelles Erbe im Ausland ausübt. Etwa in Frankreich, wo die Wanderausstellung „Tutanchamun, der Schatz des Pharaos“ mit 1,42 Millionen verkauften Eintrittskarten 2019 alle Besucherrekorde brach. Bis dahin war die bestbesuchte Ausstellung eine ebenfalls dem jungen Pharao gewidmete Schau im Jahr 1967 gewesen.

Ägypten ist zwar bereit, seine Objekte auf Reisen zu schicken, strebt aber zugleich die Rückführung der antiken Schätze an, etwa des Rosettasteins aus dem British Museum in London, der Büste der Nofretete aus dem Berliner Ägyptischen Museum oder des Tierkreises von Dendera aus dem Pariser Louvre. So fordert der Ägyptologe Zahi Hawass, der als Vertrauter Mubaraks während der Revolution in Ungnade gefallen war, dann aber von al-Sisi rehabilitiert wurde: „Wir müssen den Imperialismus der Museen stoppen.“ Durch Diebstahl und Aufkauf von Artefakten sei Afrika ausgeraubt worden: „Ich begehre nicht alles, was sich im Louvre befindet, wohl aber die gestohlenen Objekte, die der Louvre gekauft hat.“

2009 hatte Hawass die europäischen Museen um eine Leihgabe dieser Objekte gebeten. Die Bitte blieb unbeantwortet. Damals zweifelte das British Museum an, ob die ägyptischen Museen die Sicherheit der Objekte gewährleisten könnten. In London wurde uns ein Interview verweigert.

Von Friederike Seyfried, Direktorin des Ägyptischen Museums in Berlin, kam die Auskunft, dass „im Moment keine Restitutionsforderungen auf dem Tisch liegen“. Für sie wäre aber auch eine Leihgabe eine politische Entscheidung: „Ich selbst muss auf den kuratorischen Aspekt achten. In meiner Sammlung gibt es zahlreiche Objekte, die auf einer roten Liste stehen und an niemanden ausgeliehen werden dürfen, auch nicht an den Louvre, weil sie sehr zerbrechlich sind.“

Für Seyfried gehört die ägyptische Sammlung des Berliner Museums „zum Weltkulturerbe in Deutschland“. Sie meint, im 21. Jahrhunderts soll die Vorstellung gelten, „dass wir alle Teil einer Gemeinschaft sind und dass es eine fantastische Chance ist, verschiedene Kulturen und ihre Artefakte an vielen Orten überall in der Welt teilen zu können.“ Zur Frage des Handels mit gestohlenen Objekten erklärt die Berliner Direktorin: „Was wir als Ägyptisches Museum tun können, ist, der Polizei und dem Zoll helfen, illegalen Handel aufzudecken und alles nach Ägypten zurückzubringen, was illegal auf dem Markt ist.“

Hawass tröstet sich: „Es ist mir zwar nicht gelungen, alle Stücke heimzuholen, aber ich habe 6000 Artefakte zurück nach Ägypten gebracht.“ In seinem Büro in Mohandessin im Norden von Gizeh befindet er darüber, was mit den Ausgrabungsstätten des Landes geschieht. Der offenbar unkündbare, obgleich in Fachkreisen umstrittene Ägyptologe beharrt darauf, zu seinen Aufgaben gehöre auch Marketing: „Ich habe überall auf der Welt in hunderten Fernsehshows gesessen, und das hat uns sehr geholfen, die Touristen nach Ägypten zu holen. Ohne Touristen gibt es keine Erhaltung der antiken Monumente und keine Ausgrabungen.“

Tatsächlich finanziert der Tourismus einen Teil der archäologischen Ausgrabungen. Viele große Grabungsstätten werden allerdings von europäischen oder US-amerikanischen Institutionen gefördert. Die Agence française de développement ist ein großer Geldgeber und hat zwischen 2009 und 2015 eine halbe Million Euro für die Gestaltung der Nekropole Sakkara beigesteuert. Und USAID gewährte in 30 Jahren mehr als 100 Millionen US-Dollar für Projekte zur Erhaltung des Erbes der Pharaonen und der Osmanischen Epoche.

Darüber hinaus gibt es private Mäzene. Eine der jüngsten von Hawass betreuten Ausgrabungen in Sakkara, die 2018 in der Hoffnung begonnen wurde, das Grab von Imhotep zu finden, wird mit 15 000 US-Dollar monatlich von Clovis Rossillon, dem Präsidenten der Filmproduktionsfirma Orichalcum pictures, über den Fonds français pour l’archéologie et la recherche (FFAR) finanziert.

Um große Grabungen durchzuführen, fehlt es dem ägyptischen Staat an Geld und den entsprechenden Kompetenzen. Deshalb versucht er die Zahl der ausländischen Sponsoren zu vergrößern, ohne jedoch die strenge Kontrolle über die Genehmigungen aufzugeben. Was die archäologischen Stätten betrifft, so spielen hier noch immer die Rivalitäten zwischen den einstigen Kolonialmächten mit.

Hawass nimmt für sich in Anspruch, die Ägyptologie den Ägyptern zurückgegeben zu haben, indem er einheimische Wissenschaftler gezielt gefördert hat: „Ich engagiere ständig ägyptische Teams. Zum ersten Mal arbeitet beispielsweise ein Ägypter im Königstal, vorher gab es dort nur Ausländer. Wir müssen ebenbürtig werden, dazu müssen wir wettbewerbsfähig und besser ausgebildet sein.“ Werden die Ausgrabungen von ausländischen Gruppen geleitet, werde das erlangte Wissen noch zu selten an einheimische Wissenschaftler weitergegeben, meint Hawass.

Neben den ökonomischen und diplomatischen Zielen soll die Absicherung des archäologischen Terrains durch die ägyptischen Behörden auch erreichen, die alte koloniale Abhängigkeit zu überwinden; also selbst über das eigene kulturelle Erbe zu verfügen, nachdem es von den imperialistischen Mächten lange in alle Himmelsrichtungen verstreut wurde. Wie sagte doch die Politikwissenschaftlerin Sandrine Gamblin: „Die Ägyptologie ist eine koloniale Wissenschaft par excellence.“

1 „Goldene Parade der Pharaonen“, ägyptisches Ministerium für Tourismus- und Antike.

2 Siehe Pierre Daum, „Mehr Armut, weniger Hilfe“, LMd, März 2018.

3 Siehe Jamal Bukhari und Ariane Lavrilleux, „Ägyptens unersättliche Armee“, LMd, Juli 2020.

4 Dalia Chams, „La Cité des morts du Caire craint de partir en poussière“, Orient XXI, 14. Februar 2022.

5 Galila El Kadi und Alain Bonnamy, „La Cité des morts: Le Caire“, Institut de recherche pour le développement, Paris/Sprimont (Mardaga) 2001.

6 Siehe Martin Roux, „Das Herz von Kairo“, LMd, Februar 2021.

7 „Une légion d’honneur au maréchal Sissi en catimini … qui finit par faire du bruit“, France 24, 15. Dezember 2020.

8 Siehe: „Egypt Papers“, Disclose, 21. November 2021.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Léa Polverini ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 07.04.2022, von Léa Polverini