07.04.2022

Wer sind die russischen Falken?

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Wer sind die russischen Falken?

Hinter Putins politischer Radikalisierung stehen ultranationalistische Ideologen

von Juliette Faure

Julius Weiland, Ohne Titel II, Acryl auf Leinwand, 50 × 40cm, 2018
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Am 26. Februar 2022, seinem 84. Geburtstag, gab der russische Schriftsteller Alexander Prochanow ein Liveinterview aus dem Cockpit eines Kampfjets über der Ukraine. Sein Traum vom Wiederaufbau des sowjetischen Weltreichs nahm unter seinen Augen Gestalt an – mit Gewalt. „Ich überfliege die schwarze, ukrainische Erde, die die russischen Panzer nun durchqueren und so die ungeheure Schmach, die man der russischen Geschichte 1991 zugefügt hat, wiedergutmachen. Heute vermählen wir uns aufs Neue mit der Ukraine!“1

Prochanow gehört zu den Anführern der „Nationalpatrioten“, einer Denkschule, die während der Pere­stroi­ka-Phase (1985–1991) in Opposi­tion zu den „Westlern“ („Sapadniki“) und „Liberaldemokraten“ entstand. Man identifizierte sich mit der politisch-militärischen Elite der Sowjetunion und war gegen die Liberalisierungspolitik Michail Gorbatschows, des letzten Generalsekretärs der KPdSU.

In den 1990er Jahren wurde die von Prochanow gegründete Zeitschrift Sawtra („Morgen“) zum Sammelbecken der Jelzin-Gegner. Die festen Autoren waren Stalin-Anhänger, Nationalisten, monarchistisch-orthodoxe Priester und konservative Muslime. Hinzu kamen so unterschiedliche Figuren wie der Eurasien-Theoretiker Alexander Dugin2 , der nationalbolschewistische Schriftsteller Eduard Limonow und der KP-Vorsitzende Gennadi Sjuganow. Was sie verband, war die harsche Kritik an der postsowjetischen Demokratie, an Wirtschaftsliberalismus und Oligarchenmacht, an der „Verwestlichung“ der Gesellschaft und der geopolitischen Vorherrschaft der USA. 1995 titelte die Sawtra „Jelzin hat 2 200 000 Russen getötet“ und behauptete, Jelzins Wirtschaftspolitik sei ein „Genozid“ am russischen Volk.

Die Nationalpatrioten setzten auf einen starken Staat, der das aus ihrer Sicht Beste aus allen Epochen der russischen Geschichte in sich vereinen sollte, also die spirituellen Traditionen aus der Zarenzeit und die militärisch-technischen Errungenschaften aus der Sow­jet­ära. Die Gruppe blieb zwar in der Opposition, doch einige ihrer Ideen wurden zu Beginn des Ersten Tschetschenienkriegs 1994 von der Regierung aufgegriffen: So sollte ein neuer Staatspatriotismus den Kampf gegen die Separatisten im Nordkaukasus stützen. 1996 gründete Jelzin extra eine Regierungskommission für „die nationale Idee“ im postsowjetischen Russland.

Kurz vor der Jahrtausendwende beförderten folgende einschneidende Ereignisse den neuen Patriotismus, der mit einer fortschreitenden Ablehnung des liberalen Modells westlicher Prägung einherging: 1998 die Finanzkrise und die brutale Abwertung des Rubels, 1999 die Nato-Osterweiterung (Ungarn, Polen und Tschechien), die Nato-Bombardierung Serbiens ohne UN-Mandat und der Beginn des Zweiten Tsche­tsche­nienkriegs (1999–2009).

Eine neue Generation von Intellektuellen, die Jungen Konservativen, trat hervor. Diese in den 1970er Jahren geborenen, neuen russischen „Falken“ verspürten zwar keinerlei Sehnsucht mehr nach der Sowjetunion wie die älteren Nationalpatrioten; doch sie teilten deren Kritik an der Globalisierung und den unbedingten Willen, Russlands Souveränität und Großmachtanspruch zu verteidigen.

Wladimir Putins erster Wahlsieg 2000 läutete dann die konservative Wende ein. Der neue Staatschef setzte auf Zentralisierung und Hierarchien. Als 2004 zunächst in der Ukraine, dann auch anderswo im postsowjetischen Raum die prowestlichen „Farbrevolu­tio­nen“ ausbrachen, schlug in Russland die Stunde der neuen Falken, die von Putin aufgefordert wurden, zum ideologischen Gegenangriff überzugehen.

2006 präsentierte Wladislaw Surkow3 , damals stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung und Mastermind der Präsidentenpartei „Einiges Russland“, eine neue Staatsideologie, deren autoritärer Charakter unter dem Leitbegriff „souveräne Demokratie“ verschleiert wurde. Zugleich war es eine programmatische Abgrenzung zu der angeblich vom Westen „gelenkten Demokratie“ in der Ukraine.4 Als Redner für die Versammlungen der regierungsnahen Jugendorganisationen Naschi („Die Unsrigen“) und Molodaja Gwardija („Junge Garde“) engagierte man Dugin und Prochanow und förderte deren Karrieren.

Der Einfluss des Isborsk-Klubs

Dugin wurde 2010 zum Professor für Internationale Beziehungen an der renommierten Moskauer Lomonossow-Universität ernannt. Prochanow war häufiger Gast in den Talkshows des bekannten, regierungstreuen Journalisten Wladimir Solowjew im Sender NTV.5 Die Jungen Konservativen gründeten wiederum eine Denkfabrik innerhalb der Partei, den Russischen Klub, der die damals einflussreichen, ethnisch-nationalistischen Strömungen, die sich gegen den Kreml richteten, unterwandern sollte.

In den Reden, die Putin 2007 hielt, griff er bereits unverkennbar die Ideen der Falken auf, wie die von der „spirituellen Sicherheit“, die den Schutz der religiösen Identität Russlands mit den Herausforderungen der nationalen Sicherheit verbindet: „Die traditionellen Religionen der Russischen Föderation und der nukleare Schutzschild Russlands sind zwei Dinge, die den russischen Staat stärken und die notwendigen Bedingungen schaffen, um die innere und äußere Sicherheit des Landes zu gewährleisten“, erklärte Putin etwa am 1. Februar 2007 vor russischen und ausländischen Journalist:innen. Seine Verurteilung der „unipolaren Weltordnung“ bei der Münchner Sicherheitskonferenz im selben Jahr markierte seine antiwestliche Wende in der Außenpolitik.

Dmitri Medwedjew, der Putin 2008 zwischendurch als Präsident ablöste, führte dessen offensive Außenpolitik zunächst fort. Der Georgienkrieg im Sommer 2008, der Russland weiter vom Westen isolierte, wurde gleichzeitig zum Anlass genommen, die Streitkräfte zu modernisieren. Während Medwedjews restlicher Amtszeit hatten die Falken keinen Zugang mehr zu den Beraterzirkeln im Kreml. An ihre Stelle rückten liberale Reformanhänger, die neue Parolen ausgaben: Wiederaufnahme der Beziehungen zum Westen, Stärkung des Rechtsstaats und Modernisierung der Wirtschaft.

Nach den Massendemonstrationen gegen die Wahlfälschungen im Winter 2011/12 wurde Putin im Mai 2012 zwar wiedergewählt,6 doch die Legitimation seiner Regierung stand infrage. In den Führungszirkeln gewannen wieder die Vertreter aus Armee und Geheimdiensten („Silowiki“) die Oberhand über die Technokraten7 – zugunsten der Konservativen, die ihre Rolle als ideologische Unterstützer des autoritären Systems weiter ausbauten.

Im selben Jahr gründete Prochanow den Isborsk-Klub. Nach dem Vorbild der mittelalterlichen Burg in dem gleichnamigen Dorf nahe der estnischen Grenze versteht sich der Thinktank als „ein mächtiges politisches und ideologisches Bündnis patriotischer Staatsmänner, eine Reichsfront, die sich den Manipulationen ausländischer Einflusszentren entgegenstellt“. Dem Isborsk-Klub gehören etwa 60 Mitglieder verschiedener Berufsgruppen an: Intellektuelle, Professoren, Politiker, Unternehmer, Journalisten, Künstler, Geistliche und Geheimdienstler. Sein Ziel besteht darin, „eine patriotische Staatspolitik“ zu entwerfen, „die auf alle Ebenen des nationalen Lebens angewandt wird“.8

Direkter Draht nach Donezk

Zu seinen Mitgliedern zählen einflussreiche Persönlichkeiten wie der Ökonom Sergei Glasew, der Putin von 2012 bis 2019 bei der eurasischen Wirtschaftsintegration beriet, der Journalist Michail Leontjew, Leiter der Analyseabteilung des Ölkonzerns Rosneft, oder der 2019 verstorbene Physik-Nobelpreisträger Schores Alferow. Der Klub wird von hochrangigen Politikern unterstützt: Andrei Turtschak, früherer Gouverneur von Pskow, inzwischen Generalsekretär der Partei Einiges Russland, und Kulturminister Wladimir Medinski kamen zur Gründungsfeier.

Die Ideologen des Isborsk-Klub gewannen immer mehr an Einfluss. Bei seiner Jahresansprache vor dem Parlament verkündete Wladimir Putin 2012, er wolle die „spirituellen und traditionellen“ Werte stärken – als Antwort darauf, was er als die „demografische und moralische Krise“ Russlands bezeichnete. In der Praxis wurde dies im folgenden Jahr mit der Verabschiedung zweier Gesetze gegen Blasphemie und „die Förderung nichttraditioneller sexueller Identitäten“ umgesetzt.

Bei dem alljährlich im Herbst zelebrierten Waldai-Klub, einem Treffen von russischen und internationalen Journalistinnen, Politikern und Wissenschaftlerinnen, erklärte Putin 2013, Russland sei das Gegenmodell des Westens, der einem moralischen und kulturellen Verfallsprozess anheimgefallen sei, weil er seine „Wurzeln“ und „christlichen Werte“ vernachlässigt habe. Der stellvertretende Leiter des Isborsk-Klubs, der Journalist und Politologe Alexander Nagorni, erkannte in Putins Rede „die Gesamtheit der Ideen, Werte und Begriffe, die seit Jahren von russischen patriotischen Souveränisten gepflegt wurden“.9

Am deutlichsten zeigte sich der Einfluss des Isborsk-Klubs in der Ukrainekrise 2014. Der Kreml übernahm dessen Interpretation der proeuropäischen Maidan-Revolution als eine vom Westen gesteuerte Operation, die die eurasische Integration verhindern sollte.10 Auch die ideologische Rechtfertigung der Annexion der Krim übernahm Putin vom Isborsk-Klub: Weil Prinz Wladimir und die Kiewer Rus im Jahr 988 auf der Krim zum Christentum übergetreten seien, habe die Halbinsel eine „unschätzbare zivilisatorische und sakrale Bedeutung für Russland“.11

Im Juli 2014 lobte Dmitri Polonski, Minister für Inneres, Information und Kommunikation der neuen „Krim-Republik“, den Isborsk-Gründer Prochanow: „Wir glauben, Ihre Meinung hat bei den Ereignissen des Krim-Frühlings eine entscheidende Rolle gespielt.“12 Die russischen Luftstreitkräfte tauften sogar einen Langstreckenbomber „Isborsk“ und ließen ihn mit dem Klub-Logo bemalen.

Bei den Separatisten im Donbass wich die russische Regierung allerdings offiziell von der Linie des Isborsk-Klubs ab und erklärte, dessen Parteinahme für die Aufständischen sei zu radikal. Angesichts der hohen Kosten der westlichen Sanktionen weigerte sich der Kreml, die Volksabstimmungen anzuerkennen, mit denen die Unabhängigkeit der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk besiegelt werden sollte. Der Klub setzte sich seinerseits aktiv dafür ein, den Donbass als „Noworossija“ (Neues Russland) zu bezeichnen und damit dessen Eingliederung in die Russische Föderation zu rechtfertigen. Klubmitglied Dugin verlor wegen seiner Position zu Noworossija 2014 seinen Lehrstuhl.

Der Isborsk-Klub pflegte besonders enge Verbindungen zu den Gründern der selbsternannten Volksrepublik Donezk: Gouverneur Pawel Gubarew, Ministerpräsident Alexander Borodai und Verteidigungsminister Igor Strelkow hatten früher alle für Prochanows Sawtra geschrieben. Im Sommer 2014 unterstützte der Klub die Separatisten mit politischen und organisatorischen Ratschlägen und half auch bei der Erarbeitung einer künftigen Verfassung.

Am 5. September 2014 inszenierte der Kreml die Machtübernahme neuer Eliten im Donbass, die die Separatisten-Regierung ersetzten, um gemeinsam mit Russland und der Ukraine das Minsker Abkommen zu unterzeichnen, das die Wiedereingliederung des Donbass in die Ukraine unter „lokaler Selbstverwaltung in gesonderten Gebieten“ vorsah. Der Isborsk-Klub fühlte sich ausgebootet, bedauerte den diplomatischen Kompromiss und plädierte stattdessen für eine „totale Militäroperation“ durch freiwillige Milizen, die mit Luftschlägen gegen strategische Ziele unterstützt werden sollte.13

Über sein Lokalbüro in Donezk unterhielt der Klub zudem regelmäßige Kontakte mit den Donbass-Separatisten. Im Mai 2015 stellte Waleri Korowin dort sein Buch „Das Ende des Ukraine-Projekts“ vor, in dem er argumentierte, die Ukraine sei ein „von Lenin entworfenes, künstliches Geschichtssubjekt“, das niemals „ein echter Staat“ werden könne.

Diese Ideen wurden zwar nicht offiziell zitiert, aber von der russischen Regierung unterstützt und finanziert. 2015 erhielt der Isborsk-Klub von der Präsidialverwaltung 10 Millionen Rubel (damals etwa 150 000 Euro), um seine „Doktrin der russischen Welt“ auszuarbeiten, die 2016 veröffentlicht wurde. Diese empfahl „die Bildung von russischen Interessensphären“, um dem Westen auf dem Balkan und am Schwarzen Meer Konkurrenz zu machen. In diesem Text findet sich auch die Behauptung, die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine sei Opfer einer „Russophobie“ der ukrainischen Regierung, die „unter dem Einfluss von Neonazis“ stehe.

Putins autoritäres Regime stützte sich damals noch nicht auf eine einheitliche Ideologie, sondern setzte auf eine gewisse Flexibilität in der politischen Entscheidungsfindung. Der Wechsel an der Spitze der Präsidialverwaltung nach den Parlamentswahlen vom September 2016 verlieh den Liberaldemokraten neues Gewicht.

Wjatscheslaw Wolodin, ein radikal antiwestlicher Konservativer und informeller Unterstützer des Isborsk-Klubs, wurde als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung abgelöst und auf den weniger einflussreichen Posten des Vorsitzenden der Staatsduma versetzt. Sein Nachfolger Sergei Kirijenko, der während der Wirtschaftskrise von 1998 Ministerpräsident war und von 2005 bis 2016 Chef des staatlichen Atomkonzerns Rosatom, ist eher der liberalen, technokratischen Elite zuzurechnen. Unter seiner Leitung lehnte der Unterstützungsfonds des russischen Präsidenten für die Zivilgesellschaft zweimal Finanzierungsanträge des Isborsk-Klubs ab.

Nach der Vergiftung und Inhaftierung des Oppositionellen Alexei Nawalny Ende 2020 wurden Putins Reden immer härter und ideologischer. Sein Artikel vom Juli 2021 über die „Historische Einheit der Russen und Ukrainer“ griff die Thesen des Isborsk-Klubs wieder auf und stellte die Ukraine als ein „Produkt der sowjetischen Ära“ dar. Neonazistische Kräfte würden die ukrainische Politik stark beeinflussen, und die vom Westen geschürte Russophobie sei ein Instrument der „Staatspolitik“.

Der Überfall auf die Ukraine acht Monate später hat endgültig gezeigt, wie es um das politische System Russlands heute steht. Der hybride Autoritarismus, der noch eine Vielfalt ideologischer Fraktionen integriert hatte, wurde durch ein extrem repressives Regime abgelöst, das nun ein imperialistisches, kriegerisches Staatswesen durchsetzt. Einer der ersten prominenten Anhänger des Isborsk-Klubs, der ehemalige Kulturminister Wladimir Medinski, wurde als Chef der russischen Delegation zu den Verhandlungen mit der Ukraine entsandt.

1 Komsomolskaja Prawda, Moskau, 26. Februar 2022.

2 Siehe Jean-Marie Chauvier, „Die Wiederentdeckung Eurasiens“, LMd, Mai 2014.

3 Zum Werdegang von Putins ehemaligem Spindoctor Surkow, der im Februar 2020 von „seinem Amt als Präsidentenberater entbunden wurde“, siehe Peter Pomerantsev, “Staatstheater in Moskau“, LMd, Januar 2012.

4 Siehe Margareta Mommsen, „Surkows „souveräne Demokratie“ – Formel für einen russischen Sonderweg?“, Russland-Analysen 114, 20. Oktober 2006.

5 Siehe Christophe Trontin, „Tiraden zur besten Sendezeit“, LMd, August 2021.

6 Siehe Mischa Gabowitsch, „Die Rebellion im Zen­trum“, Edition LMd, Nr. 13, Berlin (taz Verlag) 2013, S. 8 ff.

7 Richard Sakwa, „Putin Redux: Power and Contradiction in Contemporary Russia“, London (Routledge) 2014.

8 Siehe www.izborsk-club.ru.

9 Siehe Alexander Nagorni, „Von München nach Waldai“ (auf Russisch), izborsk-club.ru, 3. Oktober 2013.

10 Rede Putins, 18. März 2014.

11 Rede Putins vor der Förderationsversammlung, 4. Dezember 2014.

12 Zeitschrift des Isborsk-Klubs, Bd. 10, Nr. 7, Moskau, 2014.

13 Alexander Nagorni, „Stalins Rezept“ (auf Russisch), izborsk-club.ru, 25. Juni 2014.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Juliette Faure ist Doktorandin am Internationalen Forschungszentrum Ceri der Hochschule Sciences Po und des Nationalen Forschungszentrums CNRS.

Le Monde diplomatique vom 07.04.2022, von Juliette Faure