07.04.2022

Russland, China und der Feind

zurück

Russland, China und der Feind

Die beiden großen Flächenstaaten auf dem eurasischen Kontinent waren in den letzten 70 Jahren mal Partner, mal Gegner. Die Anfang Februar in einer gemeinsamen Erklärung verkündete Allianz richtet sich gegen die USA und sieht eine wirtschaftliche Zusammenarbeit vor, die Russland dringend braucht und China sehr zupasskommt.

von Alfred W. McCoy

„Stalin und Mao führen uns zum Sieg“: chinesisches Propagandaplakat aus dem Jahr 1952 picture-alliance/dpa/HPICICC
Audio: Artikel vorlesen lassen

Ganz so wie die Reibung der tektonischen Platten immer wieder Erdbeben und Vulkanausbrüche auslöst, provoziert der ständige Kampf der Supermächte um Dominanz in Eurasien immer wieder Spannungen und bewaffnete Konflikte. So gesehen vollzieht sich über das aktuelle Kriegsgeschehen in der Ukraine und die Konfronta­tion der chinesischen mit der US-Kriegsmarine im Südchinesischen Meer hinaus eine tiefer liegende Verschiebung der geopolitischen Kräfteverhältnisse in Eurasien – also im globalen Epizentrum der Macht auf unserem sich rasch verändernden, überhitzten Planeten.

Treten wir einen Schritt zurück und versuchen zu verstehen, was in unserer zunehmend umkämpften Welt derzeit vonstatten geht. Wie geologische Erkenntnisse die Eruptionen auf der Erdkruste erklären, sind geopolitische Analysen das Werkzeug, um die Bedeutung des verheerenden Kriegs in der Ukraine zu erfassen und die Ereignisse einzuordnen, die zu dieser Krise geführt haben.

Geopolitik ist ihrem Ursprung nach eine Methode, mit der ein Imperium geografische Gegebenheiten (in den drei Dimensionen Luft, Land und Meer) einsetzt, um seine militärische und ökonomische Macht zu maximieren.1 Freilich sind Imperien – anders als normale Staaten, deren Bevölkerung jederzeit zur Selbstverteidigung mobilisiert werden kann – verblüffend fragile Herrschaftssysteme, da sie sich über territoriale Grenzen erstrecken und militärische Aktionen jenseits dieser Grenzen mit Gefahren verbunden sind. Folglich muss ein Imperium, um auch bei extremen Widrigkeiten zu überleben, eine robuste geopolitische Architektur aufweisen.

Mehr als ein Jahrhundert lang haben die geopolitischen Theorien des viktorianischen Geografen Sir Halford Mackinder das strategische Denken einer ganzen Reihe unterschiedlichster politischer Figuren beeinflusst, die im eurasischen Raum ein Imperium aufbauen oder zerstören wollten – wie Adolf Hitler, Zbigniew Brzeziński (der unter anderem Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter war) und am Ende auch Wladimir Putin.

In einer Abhandlung von 1904 – als die 9300 Kilometer lange Transsibirische Eisenbahnlinie von Moskau nach Wladiwostok langsam vorankam – sagte Mackinder voraus, weitere künftige Bahntrassen würden Eurasien zu einer einzigen Landmasse verbinden. Im Zusammenschluss mit Afrika werde ein einziger Großraum entstehen, den er die trikontinentale „Weltinsel“ nannte.

Irgendwann, so Mackinder, werde sich Russland im Bündnis mit einer anderen Landmacht wie Deutschland (aus heutiger Sicht käme auch China in Betracht) – über das gesamte endlose „Herzland“ Eurasiens ausdehnen. Damit wäre es in der Lage,„die gewaltigen Ressourcen des Kontinents für den Aufbau einer Flotte zu nutzen“, und ein Weltreich („empire of the world“) könne entstehen.

Zu Beginn der Versailler Friedenskonferenz von 1919 formulierte Mackinder auf Grundlage seiner Thesen eine einprägsame Maxime über das Verhältnis von osteuropäischen Regionen wie der Ukraine, dem „Herzland“ Zentralasien und globaler Macht. Der Kernsatz lautete: „Wer Osteuropa beherrscht, kontrolliert das Herzland. Wer das Herzland beherrscht, kontrolliert die Weltinsel. Wer die Weltinsel beherrscht, kontrolliert die Welt.“

Im Kern der aktuellen Konflikte am westlichen und am östlichen Rand von Eurasien steht das Bündnis zwischen China und Russland, wie es die Welt seit der sino-sowjetischen Allianz zu Beginn des Kalten Kriegs nicht erlebt hat. Um die Bedeutung dieser Entwicklung zu erfassen, sollten wir zwei welthistorische Schlüsselmomente nebeneinanderstellen: das Treffen zwischen Mao Tse-tung und Josef Stalin vom 16. Dezember 1949 in Moskau; und das Gipfeltreffen zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping am 4. Februar 2022 in Peking.

Allerdings müssen wir dabei den historischen Kontext beider Treffen im Kopf behalten: Als Mao nur wenige Wochen nach der Ausrufung der Volksrepublik im Oktober 1949 nach Moskau fuhr, hatte China einen neun Jahre dauernden Krieg gegen Japan hinter sich, der das Land verwüstet und 20 Millionen Menschenleben gekostet hatte, und dazu noch einen fünfjährigen Bürgerkrieg mit weiteren sieben Millionen Todesopfern.

Die Sowjetunion dagegen hatte Hitlerdeutschland besiegt, ganz Osteuropa an sich gerissen, die sozialistische Wirtschaft wieder in Gang gebracht und vier Monate zuvor ihre erste Atombombe getestet. Stalin war auf dem Gipfel seiner Macht. Im Gegensatz zu China, das lediglich eine schlecht ausgerüstete Infanterie besaß, verfügte die Sowjet­union über moderne Waffen, die weltweit besten Panzer und Kampfflugzeuge, seit Oktober 1948 auch Raketen. Als Oberhaupt des kommunistischen Lagers war Stalin „der Boss“, zu dem Mao in der Rolle des Bittstellers kam.

Während seines zweimonatigen Aufenthalts in Moskau bat Mao um dringend benötigte Wirtschaftshilfe für den Wiederaufbau seines verwüsteten Landes, aber auch um militärische Unterstützung für die Befreiung Taiwans. In einem euphorischen Telegramm vom 18. Dezember berichtete Mao an seine Genossen in Peking: „Am 16. in Moskau angekommen … traf mich um 10 Uhr abends mit Stalin für zwei Stunden. Sein Verhalten war wirklich aufrichtig. Zu den angesprochenen Fragen gehörten die Möglichkeit eines Friedens, das Abkommen, Darlehen, Taiwan und die Publikation meiner ausgewählten Werke.“2

Doch dann überraschte Stalin seinen Gast mit der Weigerung, die von China abgetretenen Gebiete in Nordchina (Innere Mandschurei) aufzugeben, die sich Moskau auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 gesichert hatte. Dieses Thema, erklärte Stalin, könne man erst bei einem nächsten Treffen diskutieren. Der neue Termin ließ 17 Tage auf sich warten, die Mao bei eisiger Kälte in einer zugigen Datscha verbrachte. Über diese Wartezeit erzählte er später: „Ich war so wütend, dass ich einmal mit den Fäusten auf den Tisch eindrosch.“

Als Stalin Mao warten ließ

Endlich, am 2. Januar 1950, konnte Mao nach Peking telegrafieren: „In den letzten zwei Tagen haben wir in unserer Arbeit hier einen wichtigen Durchbruch erzielt. Genosse Stalin hat schließlich einem neuen chinesisch-sowjetischen Freundschaftsvertrag zugestimmt.“

In diesem am 14. Februar 1950 unterzeichneten „Freundschafts- und Bündnisvertrag“ gab Russland seine territorialen Ansprüche auf; im Gegenzug wurde die Demilitarisierung der langen Landgrenze zwischen den beiden Ländern vereinbart. Mit dem Abkommen flossen nun auch sowjetische Finanzhilfen für die neue Volksrepublik, die ihrerseits die „unzerstörbare Freundschaft“ mit der Sowjetunion in ihrer Verfassung festschrieb.

Doch Stalin hatte mit seinem Verhalten bereits das Misstrauen gesät, das zum späteren Zerwürfnis zwischen Peking und Moskau führte. Das ließ der verbitterte Mao 1958 gegenüber dem sowjetischen Botschafter in Peking durchblicken: „Ihr Russen habt niemals Vertrauen in das chinesische Volk gehabt, und Stalin gehörte zu den Schlimmsten … Ihr habt oft gesagt, die Europäer würden auf euch Russen herabsehen. Ich glaube, dass einige Russen auf das chinesische Volk herabsehen.“3

Für Moskau war die Allianz mit Peking zunächst ein wichtiger Trumpf im Kalten Krieg: Damit verfügte die Sowjetunion über einen asiatischen Stellvertreter, der die USA in einen verlustreichen Konflikt in Korea hineinziehen konnte, ohne dass die Sowjetunion selbst Opfer verzeichnen musste. Als chinesische Truppen im Oktober 1950 – vier Monate nach Kriegsbeginn – die Grenze nach Korea überschritten, wurden sie von einem Mahlstrom verschlungen, in dem die Volksrepublik innerhalb von drei Jahren 208 000 Soldaten verlor und der 40 Prozent ihrer Staatsausgaben kostete.

Nach Stalins Tod am 5. März 1953 und dem koreanischen Waffenstillstand vom 27. Juli versuchte Nikita Chruschtschow, der neue Mann an der Spitze der Sowjetunion, die gestörten Beziehungen mit China zu reparieren. Er bewilligte ein umfassendes wirtschaftliches Hilfsprogramm, das allerdings der sowjetischen Seite klare Vorteile bot. Außerdem weigerte er sich, beim Bau einer chinesischen Atombombe zu helfen. Sein Argument: Das wäre eine „ungeheure Verschwendung“, schließlich sei China unter dem nuklearen Schutzschirm der Sowjetunion ohnehin sicher. Aber gleichzeitig forderte Chruschtschow die gemeinsame Ausbeutung von Uranvorkommen, die sowjetische Forscher im Südwesten Chinas entdeckt hatten.

Der Disput um die chinesische Atombombe führte nach einigen Jahren zum Zerwürfnis zwischen China und der Sowjetunion. Im September 1959 kam es bei Chruschtschows Besuch in Peking zu einem siebenstündigen Treffen mit Mao, das in einem Desaster endete. Der Bruch trat vollends zutage, als Mao nach der Kubakrise 1962 Moskau dafür kritisierte, dass es keine Atomwaffen gegen die USA eingesetzt hatte.

Der erfolgreiche Test der ersten Atombombe am 16. Oktober 1964 machte China zu einem Hauptakteur auf der weltpolitischen Bühne. Mit der Entwicklung ihres nuklearen Arsenals wurde die Volksrepublik zu einer unabhängigen Weltmacht. Und der Zwist mit der Sowjetunion verwandelte sich von einem Krieg der Worte in eine militärische Konfrontation. Bis 1968 stationierte Moskau 16 Divisionen, 1200 Kampfflugzeuge und 120 Mittelstreckenraketen entlang der sowjetisch-chinesischen Grenze. Inzwischen bauten die Chinesen, um auf einen sowjetischen Angriff vorbereitet zu sein, unter ihrer Hauptstadt eine atomwaffensichere „unterirdische Stadt“, die sich über fast 80 Quadratkilometer erstreckte.

Die kurzlebige sino-sowjetische Allianz hat den Lauf der Weltgeschichte stärker beeinflusst als jedes andere Ereignis seit 1945. Sie verwandelte den Kalten Krieg von einem auf Osteuropa konzentrierten regionalen Machtkampf in einen globalen Konflikt, der viel schwerer zu beherrschen war. China war damals mit seinen 550 Millionen Menschen (ein Fünftel der Weltbevölkerung) nicht nur das bevölkerungsreichste Land der Erde, seine kommunistische Regierung war auch entschlossen, die Folgen einer 50-jährigen Geschichte imperialistischer Ausbeutung und innerer Wirren zu überwinden, in der das Land keinerlei internationalen Einfluss gehabt hatte.4

Der Aufstieg Chinas und der Koreakrieg zwangen die USA, ihre Strategie für den Kalten Krieg radikal neu auszurichten. Statt alle Kräfte auf die Nato und Europa zu konzentrieren, um die Sowjetunion hinter dem Eisernen Vorhang „einzudämmen“, schloss Washington nunmehr Beistandsverträge mit pazifischen Staaten – von Japan bis Australien –, um die ost- und südostasiatischen Küstengebiete abzusichern. In den letzten 70 Jahren war dieser Gürtel militärisch hochgerüsteter Inseln Dreh- und Angelpunkt der US-amerikanischen Weltmachtstrategie. Sie ermöglichte es, den einen Kontinent, nämlich Nordamerika, zu verteidigen und zugleich den anderen, den eurasischen, zu dominieren.

Auch am Südrand des eurasischen Kontinents entstand im Zuge des Kalten Kriegs eine stählerne Kette, mit der Washington die westlichen und die östlichen Randgebiete Eurasiens zu einer strategischen Zone verbinden wollte. Diese Kette bestand aus drei großen Flottenverbänden, hunderten Kampfflugzeugen und einer Reihe von Verteidigungsabkommen, die eine Verbindung zwischen dem Gebiet des nordatlantischen Bündnisses (Nato) und des Pazifikpakts (Anzus) herstellen.

Nachdem man in Washington ein Jahrzehnt gebraucht hatte, um das Zerwürfnis zwischen Peking und Moskau richtig wahrzunehmen, bemühte man sich dann mit einiger Verspätung um ein Bündnis mit Peking, das die Sowjetunion geopolitisch noch stärker isolieren sollte. Diese Strategie hat mit dazu beigetragen, dass das geschwächte Sowjetimperium letztlich implodierte und der Kalte Krieg endete.

1991 waren die USA die dominierende Weltmacht. Aber selbst zu diesem Zeitpunkt, da kein auch nur annähernd gleichrangiger Rivale mehr existierte, lehnte es die Regierung in Washington ab, sich seine „Friedensdividende“ auszuzahlen. Im Gegenteil: Sie hielt an der stählernen Kette um Eurasien fest. Darüber hinaus unternahmen die USA mehrere militärische Operationen im Nahen und Mittleren Osten, von denen einige katastrophal endeten. Und erst im letzten Jahr schmiedete die Biden-Regierung eine neue Vierer-Allianz (Quad) mit Australien, Indien und Japan in der Indopazifik-Region.5

Andererseits ermöglichte das faktische Wirtschaftsbündnis mit China seit dessen Aufnahme in die Welthandelsorganisation (WTO) 2001 den USA fünfzehn Jahre lang ein anhaltendes Wirtschaftswachstum.

Das Treffen zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping, das am 4. Februar dieses Jahres zu Beginn der Olympischen Winterspiele in Peking stattfand, belegt im Vergleich zu der Mao-Stalin-Episode von 1946 eine geradezu sensationelle Umkehrung der Machtverhältnisse. Die postsowjetische Volkswirtschaft Russlands bleibt unterhalb des Niveaus von Kanada und ist nach wie vor zu stark von Öl- und Gasexporten abhängig. China dagegen ist mit seiner Industrie zu einem Motor der globalen Konjunktur geworden. Die Volksrepublik hat eine zehnmal größere Bevölkerung als Russland und ist heute, gemessen an der Kaufkraft, die größte Volkswirtschaft der Welt.

Das russische Militär stützt sich noch immer maßgeblich auf Panzer und Nuklearwaffen sowjetischer Bauart (inzwischen allerdings auch neue Hyperschallraketen). Dagegen hat China die größte Kriegsflotte der Welt gebaut, verfügt über das sicherste globale Satellitensystem und ein ballistisches Arsenal mit Hyperschallraketen, die jedes Abwehrsystem durchbrechen können.

So war es diesmal der russische Präsident, der als Bittsteller in die chinesische Hauptstadt reiste. Als Russland immer mehr Truppen an den Grenzen der Ukraine konzentrierte und die USA mit Wirtschaftssanktionen drohten, war Putin verzweifelt auf die diplomatische Unterstützung Pekings angewiesen. Nachdem er sich jahrelang um China bemüht hatte, indem er dem großen Nachbarn gemeinsam betriebene Öl- und Gaspipelines und gemeinsame Militärmanöver in der Pazifikregion anbot, wollte Putin jetzt die Früchte seiner politischen Investitionen ernten.

Putin und Xi proklamierten bei ihrem Treffen vom 4. Februar nicht weniger als ein Ad-hoc-Bündnis, das dazu gedacht ist, die Welt von Grund auf zu verändern. Um dem anvisierten neuen „globalen Governance-System“ ein Fundament zu geben, kündigten sie an, „die Verkehrsinfrastruktur zu verbessern, um die reibungslose Logistik auf dem eurasischen Kontinent aufrechtzuerhalten“, sowie „stetige Fortschritte bei den großen Öl- und Gas-Kooperationsprojekten zu machen“.

Unterfüttert wurden diese Ankündigungen durch den Abschluss von Verträgen für russische Öl- und Gaslieferungen (über 25 Jahre) im Wert von 117,5 Milliarden US-Dollar über die geplante Pipeline Power of Siberia 2, deren Bau Moskau allerdings 55 Milliarden Dollar kosten wird.6 Auf lange Sicht soll eine integrierte sino-russische Öl- und Gasinfrakstruktur entstehen, die es China ermöglichen würde, seine Abhängigkeit von Flüssiggas-Lieferungen, die heute noch zur Hälfte aus Australien und den USA kommen, so drastisch zu reduzieren, dass westliche Beobachter Siberia 2 als einen möglichen „Gamechanger“ sehen.7

In einer ausführlichen gemeinsamen Erklärung verkündeten Xi und Putin, dass die Welt „grundlegende Wandlungen“ erlebe, die zu einer „Umverteilung der Macht“ führen werden; die „hegemonialen Versuche“ der USA verurteile man und man sei sich einig im „Widerstand gegen die Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten unter dem Vorwand, Demokratie und Menschenrechte zu schützen“.

Als Putin Xi um Hilfe bat

Um die Verbindung „zwischen den pazifischen und eurasischen Regionen“ zu verbessern, sollen das russische Projekt einer „Eurasischen Wirtschaftsunion“ und Chinas bereits fortgeschrittene Initiative „Neuen Seidenstraße“ miteinander verknüpft werden. Mit ihrem alternativen Modell für die wirtschaftliche Entwicklung Eurasiens wollen die beiden politischen Führer demonstrieren, dass ihr Bündnis „keine Grenzen“ hat und keine „verbotenen Bereiche von Kooperation“ kennt, weshalb es „den politischen und militärischen Allianzen der Kalten-Kriegs-Ära überlegen“ sei.

Auf militärstrategischer Ebene stellen sich beide Parteien entschieden gegen die Expansion der Nato und gegen „Farbenrevolutionen“ wie die ukrainische Maidan-Revolution von 2014 wie auch gegen jeden Schritt in Richtung eines unabhängigen Taiwan. Damit bekam Putin genau die Rückendeckung, die er im Hinblick auf die drei Wochen später begonnene Invasion in der Ukraine dringend brauchte; sozusagen als Gegenleistung dafür, dass Russland den unstillbaren Energiehunger Chinas bedient – inmitten der globalen Klimakrise.

Peking hat nicht nur die Einmischung der USA in der „russischen Sphäre“ verurteilt, sondern Moskau auch nach Beginn der Invasion auf diplomatischer Ebene unterstützt. Obwohl die chinesische Führung erkennbare Vorbehalte gegenüber dem russischen Vorgehen in der Ukraine hatte, vermied sie, Putins Invasion als solche zu bezeichnen. Und das, obwohl China seit 2019 zum wichtigsten Handelspartner der Ukraine geworden ist und sich ständig auf das Prinzip der unverletzlichen Souveränität beruft.

Allem Anschein nach hatte Xi vorab Kenntnis von Putins Invasionsplänen, wobei er offenbar eine zeitliche Verschiebung bis zum Ende der Olympischen Winterspiele in Peking erwirken konnte.8 Seine anhaltende Unterstützung für Putins Ukrainekrieg scheint ungebrochen. Und hier zeigen sich einige aufschlussreiche Parallelen zu der Situation von 1950.

Damals war Stalins Druck auf Westeuropa durch die Berliner Luftbrücke und die Gründung der Nato im April 1949 gekontert worden. Daraufhin unternahm Stalin eine geopolitische Verlagerung nach Ostasien, die sich das Bündnis mit Mao zunutze machte. Durch das Eingreifen chinesischer Truppen in Korea konnte Stalin die Militärmacht der USA in Ostasien binden und die Konsolidierung der russischen Macht in Osteuropa ungehindert vorantreiben.

In ähnlicher Weise ist Präsident Xi heute in der Lage, von Putins Überfall auf die Ukraine zu profitieren. Dass sich Washington jetzt vorrangig mit Europa beschäftigen muss, könnte den von Obama eingeleiteten strategischen Schwenk zur Pazifik-Region weiter verzögern. Das würde es China erlauben, seine Machtstellung in Asien weiter zu festigen.

Das gilt insbesondere für den Fall, dass Putin in Kiew so brutal zuschlagen sollte wie in Grosny vor 23 Jahren. Dann wäre Russland endgültig ein Pariastaat, der irgendwann so verarmt, dass er den Chinesen seine Energie und sein Getreide zu Schleuderpreisen anbieten muss.9 So wie Stalin einstmals von Maos Eingreifen in Korea profitierte, könnte die geopolitische Dynamik Eurasiens dafür sorgen, dass sich die Verluste Putins in Gewinne für Xi verwandeln.

Schon vor der Invasion vom 24. Februar verfolgten Russland und China eine Strategie, die an beiden Rändern Eurasiens langsam, aber unablässig den Druck verstärkte – um irgendwann die stählerne Kette um die ungeheure Kontinentalmasse aufzusprengen.

Nach genau dieser Methode hat Putin in den letzten 15 Jahren auf die Strategie der Nato reagiert. Zunächst war er bemüht, die früheren Sowjetrepubliken durch ökonomischen Druck in Abhängigkeit zu halten. Wenn einer der von ihm gestützten Autokraten durch eine demokratische Opposition oder einen lokalen Rivalen bedroht schien, entsandte er russische Spezialtruppen, um das betreffende Regime zu stabilisieren. Wenn einer der Klientelstaaten aus dem Einflussbereich Moskaus ausbrechen will, reagiert Putin mit einer massiven militärischen Intervention. Diese Strategie könnte darauf zielen, größere Teile der alten sowjetischen Einflusssphäre in Osteuropa, Zentralasien, im Kaukasus und im Nahen Osten wiederzugewinnen.

2008 beendete Putin den kurzen Flirt der Nato mit Georgien durch eine Militärinvasion und die Übernahme der autonomen Republiken Südossetien und Abchasien. Im November 2020 entsandte Russland nach einem kurzen Krieg zwischen den Ex-Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan eine 2000 Mann starke „Friedenstruppe“, was den Konflikt zugunsten des moskautreuen Aserbaidschan entschied. Und als Anfang Januar 2022 das Regime in Kasachstan durch Massenproteste gefährdet schien, entsandte Putin mehr als 2000 russische Soldaten nach Almaty, formell als ein Kontingent der Organisation des Vertrags kollektive Sicherheit (OVKS), die eine Art russischer Nato darstellt. Bei der Niederschlagung der Proteste wurden einige Dutzend Demonstranten getötet und mehrere hundert verletzt.

2015 griff Russland in Syrien militärisch ein, um das Regime von Baschar al-Assad in Syrien zu retten. Vom Stützpunkt Hmeimim an der syrischen Mittelmeerküste aus bombardierten russische Flugzeuge die Städte Aleppo und Homs. (siehe Text auf Seite 16/17).

Doch das Hauptaugenmerk Russlands liegt auf Osteuropa. So hat Putin dem Lukaschenko-Regime in Minsk geholfen, die demokratische Opposition zu zerschlagen, die gegen die gefälschten Wahlen vom August 2020 demons­trierte, und machte so Belarus vollends zu einem Satellitenstaat. Gegenüber der Ukraine erhöhte er den Druck seit Februar 2014, nachdem die Maidan-Revolution in Kiew seinen Gefolgsmann Janukowitsch aus dem Amt gejagt hatte.

Als unmittelbare Antwort erfolgte die Annexion der Krim, danach die militärische Unterstützung der separatistischen Kräfte im ostukrainischen Donbass. Im Februar 2022 erkannte Moskau die Unabhängigkeit der dort ausgerufenen Volksrepubliken Donezk und Luhansk an. Unmittelbar darauf folgte die Invasion in der Ukraine, die Putin mit der Behauptung begründete, die „moderne Ukraine“ sei überhaupt nur „vom bolschewistischen, kommunistischen Russland“ geschaffen worden.

Im eurasischen Osten verfolgt China eine ähnliche, wenn auch subtilere Strategie. 2014 hat Peking begonnen, Atolle im Südchinesischen Meer aufzufüllen, um ein halbes Dutzend Militärbasen zu errichten, die offenbar der Kontrolle der Schifffahrtsstraßen dienen sollen. In der Straße von Taiwan drangen chinesische Kampfflugzeuge Anfang Oktober letzten Jahres mehrfach in den taiwanesischen Luftraum ein. Danach umrundete eine chinesisch-russische Formation von zehn Kriegsschiffen gemeinsam die japanischen Inseln – eine Provokation, die die bisherige Dominanz der US-Flotte in diesen Gewässern infrage stellte.

Sollte China Putins Drehbuch folgen und einen Angriff auf Taiwan wagen, müsste sich Washington womöglich damit begnügen, seine Bewunderung für den heroischen, aber vergeblichen Widerstand der Bevölkerung auszudrücken. Denn würden die USA ihre Flugzeugträger in die Straße von Taiwan entsenden, könnten diese binnen kurzem von den gefürchteten Antischiffsraketen vom Typ DF-21D oder einer chinesischen Hyperschallrakete versenkt werden.

Der Verlust von Taiwan würde die Position der USA im Westpazifik entscheidend schwächen und zu deren Rückzug auf die Pazifik-Mittellinie führen. Auf dem Papier scheint all das möglich. Angesichts der brutalen Realität der aktuellen Invasionen und militärischen Auseinandersetzungen, noch dazu im Kontext der sich beschleunigenden Erderwärmung könnte die geopolitische Dynamik in und um Eurasien überraschende Wendungen vollziehen.

Es ist zwar durchaus möglich, dass die USA, wenn das Bündnis Xi und Putin am östlichen wie am westlichen Rand Eurasiens immer wieder bewaffnete Konflikte anzettelt, ernsthaft in Schwierigkeiten kommen und ihre eiserne Kette reißt, so dass sie am Ende faktisch vom eurasischen Kontinent verdrängt werden. Aber es kann auch ganz anders kommen. Und zwar nicht nur dann, wenn Putin seine unselige Invasion in der Ukraine zum Verhängnis werden sollte.

Da die chinesisch-russische Allianz stark auf den Handel mit fossilen Energieträgern angewiesen ist, könnte sich in einigen Jahren zeigen, dass gerade diese Allianz aufgrund des Klimawandels und der Folgen für die Energiemärkte in große Schwierigkeiten gerät.

Dann müsste ein Halford Mackinder von heute nicht nur feststellen, dass die Macht der USA mit dem Verlust von Eurasien schwindet. Sondern auch, dass alle Mächte Probleme bekommen, wenn sich unser gefährdeter Planet weiter so stark erwärmt, wie es der historische Mackinder niemals für möglich gehalten hätte.

1 Siehe Alfred McCoy, „To Govern the Globe: World Order and Catastrophic Change“, Haymarket Books (Chicago) 2021.

2 Digitalarchiv des Wilson Center, Washington, D. C., unter: https://digitalarchive.wilsoncenter.org/document/110393.pdf.

3 Protokoll eines Gesprächs zwischen Mao und dem sowjetischen Botschafter Yudin vom 22. Juli 1958.

4 Vgl. Jean-Louis Rocca, „Eine Partei, eine Nation“, LMd, Juli 2021.

5 Siehe Martine Bulard, „Kommt eine pazifische Nato?“ LMd, Juni 2021.

6 Über die 2019 fertiggestellte Gaspipeline „Power of Siberia 1“ soll innerhalb von 30 Jahren Erdgas im Wert von 400 Milliarden Dollar nach China fließen.

7 Siehe „Russian gas boost fuels Moscow‘s China pivot“, Deutsche Welle, 12. Januar 2022.

8 Entsprechende Geheimdienstberichte zitiert die New York Times vom 2. März 2022: „China Asked Russia to Delay Ukraine War Until After Olympics, U.S. Officials Say“.

9 China verbrauchte im vergangenen Jahr 19 Prozent der globalen Weizenproduk­tion. Siehe World-Grain.com vom 31. Januar 2022.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Alfred W. McCoy ist Professor für Geschichte an der University of Wisconsin-Madison. Autor u. a. von: „Die CIA und das Heroin. Weltpolitik durch Drogenhandel.“ Neuausgabe Frankfurt am Main (Westend) 2016. Dieser Text erschien zuerst bei Tom Dispatch.

© für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.04.2022, von Alfred W. McCoy