Wer zählt die zivilen Toten?
Im Irak und in Syrien haben Russland und die von den USA angeführte Anti-IS-Koalition jahrelang Bomben abgeworfen – wie viele Zivilisten dabei ums Leben kamen, kann oft nur geschätzt werden. Die offiziellen Stellen schweigen, leugnen oder recherchieren zu spät und oberflächlich.
von Damien Lefauconnier
Im August 2014 bombardierten die USA wieder einmal den Irak und kurz darauf auch Syrien. Diesmal richteten sich ihre Luftangriffe gegen die Streitkräfte des „Kalifats“, das der Islamische Staat (IS) kurz zuvor in beiden Ländern ausgerufen hatte. Wenige Monate später schmiedete Washington eine internationale Anti-IS-Koalition aus 59 Staaten.
Etwa ein Jahr später, im September 2015, beschloss Russland, das Regime von Baschar al-Assad militärisch zu unterstützen. Assads Macht war durch einen breiten Volksaufstand ins Wanken geraten, der von Damaskus als „terroristisch“ eingestuft wurde und schon bald unter die Kontrolle dschihadistischer Gruppierungen geriet.1 Im Zuge dieser beiden Militärinterventionen wurden der Irak und Syrien zum Ziel von rund 75 000 „Luftschlägen“.
Bei allen Unterschieden, was Intention und Kontext betrifft, hatte die Militäroperation der Anti-IS-Koalition und die der syrisch-russischen Allianz eines gemeinsam: Beide hatten katastrophale Folgen für die Bevölkerung. Durch die Bombardements dieser großen internationalen Armeen sind 20 000 bis 55 000 syrische und irakische Zivilisten ums Leben gekommen.
Bei diesen Zahlen handelt es sich allerdings um inoffizielle Schätzungen. In vielschichtigen Konflikten unter Beteiligung ausländischer Streitkräfte ist es besonders schwierig, die Zahl der zivilen Opfer zu ermitteln. Man ist dabei auf die Aussagen der militärisch beteiligten Akteure und auf die Informationen von NGOs angewiesen. In diesem Beitrag werfen wir einen genaueren Blick auf die Opferbilanzen der Militäreinsätze der internationalen Koalition gegen den IS und Russlands gegen die syrische Rebellion.
Die von Washington angeführte Koalition unterrichtet die Öffentlichkeit einmal im Monat über ihre Luftoperationen, aber die Berichte über zivile Todesopfer werden mitunter erst lange nach dem jeweiligen Vorfall auf den neuesten Stand gebracht.
Im Juli 2021 zum Beispiel gab die Koalition an, sie habe seit August 2014 im Irak und in Syrien 34 984 „Luftschläge“ durchgeführt – das Wort „Bombardierung“ wurde systematisch durch den Begriff „Luftschlag“ ersetzt. „Nach den verfügbaren Informationen“, schätzt die Combined Joint Task Force (CJTF), „dass mindestens 1417 Zivilisten versehentlich durch Luftschläge der Koalition getötet wurden.“2
Die Rechtfertigung in diesen Dokumenten erfolgt immer in dem gleichen Wortlaut: „Wir arbeiten bei allen unseren Luftschlägen mit hochpräziser Zielerfassungstechnik, um die strikte Einhaltung des Kriegsvölkerrechts zu gewährleisten, und versuchen Kollateralschäden zu vermeiden. Jeder versehentliche Verlust an Menschenleben ist tragisch. Deshalb werden wir weiterhin alles dafür tun, damit bei der Jagd auf unseren skrupellosen Feind keine Zivilisten gefährdet werden.“
Im selben Dokument erklärt die Koalition zudem, über einhundert „Berichte“ würden noch geprüft. Dabei geht es um Vorfälle, die von externen Quellen – hauptsächlich NGOs –, lokalen Medien oder in den sozialen Netzwerken (Twitter, Facebook) gemeldet werden oder mit denen sich die Koalition auf eigene Initiative noch einmal befasst.
Die Zahl von 1.417 durch die Allianz getöteten Zivilisten wird auf breiter Front bezweifelt. Die New York Times nahm 1300 Pentagon-Berichte unter die Lupe und zog am 20. Dezember 2021 folgendes Fazit: „Der US-Luftkrieg war geprägt von mangelhafter Aufklärung, übereiltem und ungenauem Raketenbeschuss und dem Tod tausender Zivilisten, darunter viele Kinder.“3 Wir haben bei unserer Überprüfung der betreffenden Abschlussberichte ebenfalls festgestellt, dass im Nachhinein in vielen Fällen sehr spät zugegeben wurde, wenn dutzende Zivilisten zu Tode gekommen sind. Dies lässt vermuten, dass die Zahl 1417 weit entfernt ist von der tatsächlichen Zahl der Opfer.
So räumte die Koalition zum Beispiel erst im September 2019 ein, dass am 5. April 2017 bei einem Luftangriff „gegen eine Granatwerferstellung des IS in al-Shafa leider 16 Zivilisten unabsichtlich getötet wurden“. Zu der Neueinschätzung hatten Informationen der britischen NGO Airwars geführt, die sich auf die Untersuchung von Luftangriffen spezialisiert hat. Im selben Dokument ist zu lesen, dass am 16. Juli 2018 „bei einem Luftangriff der Koalition gegen eine Sprengstofffabrik des IS bedauerlicherweise zwei Zivilisten getötet wurden“.
Im Mai 2019 berichtete die CJTF, dass drei Jahre zuvor, am 9. April 2016, bei einem Drohnenangriff auf eine Kommunikationszentrale in Mossul nicht nur – wie ursprünglich behauptet – ein Zivilist, sondern „fünf Zivilisten unabsichtlich und aufgrund ihrer räumlichen Nähe zum Einschlagsort“ getötet wurden.
Die NGO Airwars nennt die Opfer beim Namen
Die Koalition versichert, dass sie viel Wert auf Transparenz lege und bereitwillig „mit jedem zusammenarbeitet, der Angaben machen kann oder neue, glaubwürdige Informationen liefert.“ Dennoch nennen mehrere NGOs erheblich höhere zivile Opferzahlen. Das von syrischen Regimegegnern gegründete und bei der UNO akkreditierte Syrische Netzwerk für Menschenrechte (SNHR) beziffert die Zahl der zivilen Opfer heute auf 3047. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (Sohr) in London meldet, dass nach ihren Quellen in sechs Jahren 3847 Zivilisten bei Luftangriffen getötet wurden, darunter mehr als eintausend Kinder.
Airwars kommt noch zu viel bedrückenderen Zahlen. Die NGO teilt die Vorfälle nach Glaubwürdigkeitsstufen ein: Als zuverlässig wertet sie Berichte, wenn diese von „zwei glaubwürdigen Quellen“ bestätigt wurden. Nach Einschätzung von Airwars wurden durch die Bombenangriffe der Koalition im Irak und in Syrien zwischen 8192 und 13 243 Zivilisten getötet (Stand: 22. März 2022)4 ; die Zahl der getöteten Kinder liegt laut Airwars zwischen 1724 und 2364.
Bei 3717 Opfern konnte Airwars nach eigener Aussage die Identität ermitteln. Auf ihrer Internetseite veröffentlicht die Organisation die Namen der Opfer und erzählt deren Geschichte, gestützt auf Augenzeugenberichte und andere Quellen. Wenn man auch Vorfälle berücksichtigt, die nicht durch Beweise oder Zeugenaussagen bestätigt wurden, zählt die NGO sogar 19 177 bis 29 752 Opfer. Das ist, wenn man den oberen Wert heranzieht, das 20-Fache dessen, was die internationale Allianz offiziell einräumt.
Einer der Vorfälle, der von Airwars dokumentiert und gemeldet wurde, den die Koalition aber im Mai 2019 als „nicht glaubhaft“ einstufte, firmiert bei Airwars unter der Bezeichnung „Fall 1396“. Er ereignete sich am 20. August 2017, sechs Wochen nach Beginn der Offensive, mit der die Stadt Rakka vom IS befreit werden sollte. Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF, ein mit der Koalition kooperierendes arabisch-kurdisches Bündnis), die am Boden gegen die Dschihadisten kämpften, wurden von der Allianz aus der Luft unterstützt; Moskau und Damaskus waren an den Luftangriffen nicht beteiligt.
An jenem 20. August tauchten ab 10 Uhr morgens auf Facebook und Twitter mehrfach Meldungen über ein Bombardement im Stadtteil al-Badu auf. Vor allem Syrer, die sich als Aktivisten oder Journalistinnen zu erkennen gaben, berichteten dort von 40 bis 50 Toten. Um 17 Uhr veröffentlichte die lokale News-Website Euphrate Post Fotos von einem bis auf die Grundmauern zerstörten Gebäudekomplex. Eine Stunde später zog die Beobachtungsstelle Sohr eine vorläufige Bilanz: 23 Tote. Auf Youtube erschien ein nicht überprüfbares Video. Es zeigt mehrere auf dem Boden liegende Kinderleichen und Ruinen von Wohnhäusern, die offenbar von einer gewaltigen Explosion zerstört wurden. Alle genannten Quellen machten die internationale Koalition dafür verantwortlich.
Obwohl zwei Satellitenfotos von Google – eines vom Vortag des Angriffs und eines vom Tag danach – beweisen, dass die Gebäude zerstört wurden, hat die Koalition diesen Vorfall nie zugegeben. In ihrem Bericht vom Mai 2019 über die zivilen Opfer ihrer Einsätze teilt sie zur Bombardierung von al-Badu lediglich mit: „Nach Überprüfung aller verfügbaren Aufzeichnungen über die Luftangriffe wurde es als ‚eher wahrscheinlich‘ befunden, dass die Zivilisten nicht bei einem Luftangriff der Koalition ums Leben kamen.“
Nach offiziellen Angaben flog die internationale Koalition am Morgen des 20. August keinen Luftangriff in der Nähe des Stadtteils al-Badu. „Dass die Koalition Berichte über einen Vorfall als ‚nicht glaubhaft‘ zurückweist, sollte nicht als Beweis gewertet werden“, erklärt Airwars-Chef Chris Woods. Er erinnert an den Vorfall vom März 2019 im syrischen Baghuz, der traurige Berühmtheit erlangte und den die New York Times als mutmaßliches Kriegsverbrechen der USA dokumentierte.5 „Zwei Mal wurde dieser Fall öffentlich als ‚nicht glaubhaft‘ zurückgewiesen, obwohl die amerikanischen Gutachter insgeheim ermittelt hatten, dass bis zu 70, mindestens aber 4 Zivilisten bei dem Angriff ums Leben kamen.“
Woods, der in regelmäßigem Austausch mit den Vertretern der Koalition steht und die Überprüfung von dutzenden Vorfällen aus der Vergangenheit anmahnt, ist nach wie vor „überzeugt, dass die Koalition für den Angriff verantwortlich ist, weil nur sie in dem betreffenden Zeitraum in Rakka operiert hat“.
Wie kann sich Woods dessen so sicher sein? Er verweist auf die umfangreiche Untersuchung, die Airwars gemeinsam mit Amnesty International über die Bombardierungen in Rakka angestellt hat6 : „Die Feuerkraft des IS war in Rakka erheblich eingeschränkt, und den SDF war der Einsatz schwerer Waffen verwehrt worden. Die zugänglichen Beweismittel deuten stark darauf hin, dass diese Todesfälle durch einen Luft- oder Artillerieangriff der Koalition verursacht worden sind, die die größten Zerstörungen in Rakka zu verantworten hat.“7
Nach Schätzungen von Amnesty International und Airwars kamen in Rakka etwa 1600 Zivilisten bei US-amerikanischen, britischen und französischen Luftangriffen und durch Artilleriebeschuss ums Leben, und zwar allein bei der Offensive der internationalen Koalition zwischen Juni und Oktober 2017. Amnesty International hat zahlreiche Vorfälle dokumentiert, bei denen insgesamt Dutzende Familien ausgelöscht wurden, weil sie zwischen den Bombardements der Koalition und dem Beschuss durch die IS-Kämpfer in der Falle saßen.
Laut einem Amnesty-Bericht wurden im Sommer 2017 innerhalb eines Monats durch vier Operationen der Koalition 39 Mitglieder einer einzigen Familie und 10 ihrer Nachbarn getötet. Als am 18. Juli 2017 „die Familie Badran in einen anderen Stadtteil flüchtete, um sich vor den Kämpfen in Sicherheit zu bringen, wurden 9 Männer der Familie bei zwei Luftschlägen der Koalition getötet. Sie hatten es eben noch geschafft, die Frauen und Kinder an einen anderen Ort zu bringen, und wollten gerade dorthin nachkommen.“8
Einen Monat später versuchten die überlebenden Familienmitglieder zu fliehen, wurden aber von IS-Kämpfern unter Beschuss genommen. Dabei kam auch der Arzt ums Leben, der sich um die verletzten Familienangehörigen gekümmert hatte. „Notgedrungen musste die Familie dorthin zurück, wo sie hergekommen war; sie hatten keine andere Wahl“, heißt es in dem Amnesty-Bericht. „Am 20. August 2017 bombardierten die Koalitionskräfte gleichzeitig die beiden Häuser, in denen die Familie wohnte. Bei diesen Luftschlägen wurden 30 Mitglieder der Familie Badran getötet, die meisten davon Frauen und Kinder.“
Auch bei der Befreiung der irakischen IS-Hochburg Mossul gab es zahlreiche zivile Opfer. Laut einer Untersuchung von Associated Press sind die irakischen Truppen und die Koalitionskräfte für den Tod von mindestens 9000 Zivilisten verantwortlich, die zwischen Oktober 2016 und Juli 2017 beim Kampf um Mossul durch Raketen- und Artilleriebeschuss und Luftangriffe ums Leben kamen.9 Später räumte die internationale Koalition lediglich den Tod von 326 Zivilisten ein. Airwars ist überzeugt, dass die Schlacht um Mossul „mehr Todesopfer unter der Zivilbevölkerung als unter den Terroristen gefordert hat“.
Nach den USA und Großbritannien belegt Frankreich den dritten Platz in der Reihe der Länder mit den meisten Luftschlägen; zählt man die Artillerieangriffe hinzu, erreicht Frankreich sogar Rang zwei mit 1500 Operationen während der intensivsten Phase der Kampfhandlungen zwischen August 2014 und Juni 2017. „Die Franzosen wollen sich ebenso wie die Belgier, Dänen und Briten nicht zu zivilen Opfern bekennen, weil es beschämend ist“, erklärt Woods. „Französische Offiziere geben zu, dass sie den Tod von Zivilisten verursacht haben, sagen aber nicht, wann und wo. Denn die Koalition ist so organisiert, dass nur diejenigen, die Luftangriffe durchgeführt haben, Entschädigungszahlungen [an die Angehörigen der Opfer] leisten können.“
Dies setzt allerdings voraus, dass die Überlebenden sich überhaupt Gehör verschaffen können, denn in Wahrheit weigert sich die Allianz, mit ihnen selbst oder Angehörigen in Verbindung zu treten. Wie die Allianz auf Nachfrage bestätigte, fordert sie die Opfer auf, „Ansprüche bei ihren jeweiligen Regierungen geltend zu machen“. Im Klartext heißt das: Den Hinterbliebenen irakischer oder syrischer Zivilisten, die bei Bombenangriffen der internationalen Koalition getötet wurden, wird nahegelegt, sich mit ihren Entschädigungsanträgen an Bagdad oder Damaskus zu wenden.
Anders als die internationale Koalition übernimmt Russland nach über sechs Jahren in Syrien für kein einziges ziviles Opfer offiziell die Verantwortung. Dabei wurden laut SNHR zwischen September 2015 und Juni 2021 bei russischen Luftangriffen 6867 Zivilisten getötet. Die Sohr kommt in ihrer Bestandsaufnahme vom 30. Juli 2021 auf eine noch höhere Summe: „In 70 Monaten wurden bei Militäroperationen russischer Soldaten auf syrischem Staatsgebiet 20 825 Menschen getötet, darunter 8667 Zivilisten und 2099 Kinder“. Airwars kann nach eigener Aussage belegen, dass die russische Armee bis heute bei rund 45 000 Luftschlägen in Syrien zwischen 4309 und 6398 Zivilisten getötet hat (Stand: 22. März 2022) Darüber hinaus spricht die Organisation von bis zu 24 738 weiteren zivilen Opfern, über die Berichte vorliegen, die bisher nicht bestätigt werden konnten.10
Da westliche Medien sich in Syrien nicht frei bewegen können, müssen sie auf die Opferzahlen zurückgreifen, die Sohr und SNHR jeden Tag veröffentlichen. Beiden Organisationen wird von Damaskus und Moskau unterstellt, sie seien parteiisch. Gelegentlich werden auch die Berichte westlicher NGOs wie Amnesty International, Human Rights Watch und Airwars zitiert. Es gibt noch weitere Quellen, aber deren Informationen sind oft schwer zu überprüfen: Facebook- und Twitter-Accounts, lokale Medien oder Blogs syrischer Oppositioneller, die im Internet fortlaufend Fotos und Videos von getöteten Zivilisten posten.
Seit 2011 tobt der Kommunikationskrieg: Die amtliche syrische Presseagentur Sana bilanziert regelmäßig die Operationen der zahlreichen Feinde des Regimes, wirft der SDF Raketenangriffe auf Zivilisten und den diversen dschihadistischen Gruppen sowie der Freien Syrischen Armee (FSA) Massaker vor. Das Assad-Regime brüstet sich mit den Fortschritten im Kampf gegen die „Terroristen“, der angeblichen wirtschaftlichen Erholung des Landes und verweist auf die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen vor allem mit arabischen Ländern.11 Aber die Zivilisten, die durch Artillerieangriffe, von Hubschaubern abgeworfene Fassbomben und Raketenangriffe mit russischen Suchoj Su-17, MIG-21 oder L-39 Albatros ums Leben kamen, werden mit keinem Wort erwähnt.
In einem Interview mit französischen Medien erklärte Syriens Präsident Assad dazu: „In jedem Krieg gibt es Zerstörung und Tote. Die Frage ist, wie man in diesen Stadtvierteln die Zivilisten von den Terroristen befreien kann. Sie müssen befreit werden, und das hat manchmal seinen Preis, aber am Ende sind die Menschen von den Terroristen befreit.“12 Auf russischer Seite reagierte General Wiktor Bondarew im russischen Fernsehsender Rossija24 auf den von Amnesty International erhobenen Vorwurf der Menschenrechtsverletzung und gab kaum drei Monate nach Beginn der Militäroperation den Ton vor: Die russischen Streitkräfte hätten „zu keinem Zeitpunkt zivile Ziele getroffen“ und die russischen Piloten hätten „nie ihr Ziel verfehlt oder als sensibel eingestufte Ziele wie Schulen, Krankenhäuser oder Moscheen getroffen“.13
Im Juni 2019 wiesen die Vereinten Nationen darauf hin, dass in Idlib innerhalb von zwei Monaten mindestens 37 Schulen und 27 Gesundheitseinrichtungen durch syrische und russische Luftangriffe beschädigt oder zerstört worden seien. Panos Moumtzis, UN-Regionalkoordinator für die Krise in Syrien, verurteilte Moskaus Vorgehen: „Die Angriffe auf Zivilisten und zivile Infrastruktur müssen sofort aufhören!“14 Im gleichen Jahr gab ein syrischer Journalist aus Idlib zu Protokoll: „Die Russen bombardieren systematisch stark frequentierte Orte. Sie setzen Waffen aller Art ein wie Phosphor- und Splitterbomben und sie erproben neue Waffen. Das Assad-Regime praktiziert eine Politik der verbrannten Erde.“
Der unabhängige Militärexperte Anton Lawrow bezweifelt die Behauptung, es habe im Zusammenhang mit der russischen Intervention keine zivilen Opfer gegeben: „Das ist natürlich hochgradig unwahrscheinlich: Der Hauptunterschied zwischen Russland und den Nato-Ländern besteht darin, dass Russland überwiegend ungelenkte Waffen einsetzt, die erheblich größere Kollateralschäden verursachen als ‚intelligente Waffen‘.“ Allerdings habe man festgestellt, dass die russische Luftwaffe ihre Taktik schrittweise ändere, um die Präzision seiner Luftschläge zu erhöhen und die zivilen Schäden zu verringern.
Der Verteidigungsexperte Juri Ljamin aus Irkutsk meint dagegen, Russland und die syrische Regierung seien Opfer einer Medienkampagne: „Fehler oder voneinander abweichende Schätzungen sind zumal beim Einsatz ungelenkter Munition immer möglich, aber bei gezielten Luftangriffen auf solche Einrichtungen wären die Opferzahlen unter den Zivilisten sehr viel höher gewesen – sogar noch höher als die von der syrischen Opposition genannten Zahlen.“ Das russische Verteidigungsministerium ließ unsere Anfragen zu diesem Thema unbeantwortet.
Vor zwei Jahren bot die russische Botschaft in Paris ein Treffen mit Maxim Grigorjew an, dem Direktor der „Stiftung für das Studium der Demokratie“ mit Sitz in Moskau, die als gemeinnützige NGO auftritt und bei der UNO akkreditiert ist. Diese Institution hat ein Buch herausgegeben, in dem den Weißhelmen – einer Zivilschutzorganisation, die sich vor allem um die Bergung der Opfer nach Luftangriffen kümmert – Organhandel vorgeworfen wird.15
Grigorjew behauptet, er sei seit 2013 mehrfach im Rebellengebiet gewesen und habe sich in den Zonen aufgehalten, die vom syrischen Regime kontrolliert werden. Als er auf die Zahlen der im Bürgerkrieg getöteten Menschen angesprochen wurde, erklärte er die meisten syrischen Beobachter für befangen und verdächtigte sie der Tatsachenfälschung: „Das sind politische Aktivisten: Sie werden vom Westen dafür bezahlt, dass sie Informationen liefern. Die Sohr bezieht ihre Informationen von irgendwoher und legt ihre Quellen grundsätzlich nicht offen. Sie besteht aus zwei Personen, die im Speckgürtel von London leben und die Agence France Presse beliefern.“
Auf den oft gehörten Vorwurf der Zahlenmanipulation reagiert SNHR-Präsident Fadel Abdul Ghany mit Ironie: „Wenn wir etwas veröffentlichen, das den Russen zupasskommt, greifen sie es gern auf. Werfen wir Russland Kriegsverbrechen vor, tun sie das als vom Westen und von den Islamisten lancierte Propaganda ab.“ Die SNHR-Zahlen beruhten nicht auf Schätzungen, betont Ghany: „Wir folgen seit 2011 einer sehr strikten Methodik. Wir sammeln jeden Tag Informationen und Daten und wir können die Namen der Personen nennen, die von den russischen Streitkräften getöteten wurden.“
Auch die Sohr, die auf unsere Interviewanfrage nicht reagiert hat, wird von Damaskus und den russischen Behörden kritisiert, weil ihre Daten auf nicht identifizierbaren Quellen beruhten. „Dass die Quellen anonym bleiben, ist frustrierend“, räumt Airwars-Chef Woods ein. „Das liegt daran, dass an den Mitgliedern dieser Organisationen regelmäßig Mordversuche verübt werden. Auf syrischem Boden zu arbeiten, ist ausgesprochen gefährlich. Wären sie parteiisch, hätten sie nicht versucht, die zivilen Opfer der Militäroperationen aller Konfliktparteien zu dokumentieren.“
Von den mutmaßlich über 600 000 Menschen, die seit Beginn der Aufstände gegen das Assad-Regime am 15. März 2011 bis zum 14. März 2021 auf syrischem Staatsgebiet ums Leben kamen, hat die Sohr neben den Fällen der von der russischen Armee getöteten Zivilisten folgende Zahlen dokumentiert und jeweils den Verursachern zugeordnet: 130 254 zivile Opfer gehen auf das Konto des Assad-Regimes und verbündeter Truppen, 9062 starben durch syrische Rebellengruppen, 6441 wurden von IS-Terroristen getötet, 1474 von Kurden und für 13 Opfer ist die israelische Armee verantwortlich.16
Das SNHR erhebt den gleichen Neutralitätsanspruch und ordnete im März 2022 den Konfliktparteien die folgenden Opferzahlen zu: 228 647 Zivilisten dem syrischen Regime und regierungstreuen Gruppen einschließlich iranischer Milizen, 5043 dem IS, 4189 den Oppositionsgruppen und 1348 den kurdischen Truppen.17 Dass die Schätzungen voneinander abweichen, ist dadurch zu erklären, dass zur Bestätigung eines oder mehrerer Todesfälle erst Beweise, Indizien und Augenzeugenberichte gesammelt werden müssen und sich im Laufe der Zeit dadurch jede Bilanz verändert.
Bei Konflikten wie in Syrien, an denen zahlreiche Parteien beteiligt und die von extremer Gewalt geprägt sind, verschwinden immer wieder Beweise für zivile Opfer oder sie werden verschleiert. Solange es kein umfassendes, unparteiisches und wirksames Erfassungssystem gibt, wird die Schlacht der Zahlen zwischen Beobachtern, Propagandisten und Konfliktparteien weitergehen.
6 „War in Raqqa: Rhetoric versus reality“, Amnesty International.
7 Siehe auch Patrick Cockburn, „Tödliche Belagerungen“, LMd, September 2018.
10 „Russian military in Syria“, Airwars.
11 Siehe Adlene Mohammedi, „Anruf in Damaskus“, LMd, Juni 2020.
13 Le Figaro, Paris, 27. Dezember 2015.
17 „Civilian death toll“, SNHR, regelmäßig aktualisierte Opferbilanz.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Damien Lefauconnier ist Journalist.