Rückkehr nach Réunion
Mobilität und Migration im französischen Übersee-Département
von Margot Hemmerich und Clémentine Méténier
Am Ortseingang der Hauptstadt empfängt uns ein zweisprachiges Schild: oben „Saint-Denis“, darunter in Kreol „Sin Dni“. Seit 2010 steht das hier so, nachdem der Magistrat eine Charta zur Förderung der Zweisprachigkeit verabschiedet hat. „Seitdem kann man auf Kreol heiraten oder im Stadtrat Kreol sprechen“, freut sich Axel Gauvin, Schriftsteller und Vorsitzender des Vereins Lofis la lang kréol la rényon. In den letzten zehn Jahren haben 11 der 80 der Gemeinden auf La Réunion die Charta übernommen. „Es ist ein Beitrag zur Redefreiheit, ein kleiner Schritt hin zu mehr Demokratie“, erklärt Gauvin, der vor über vierzig Jahren das Referenzwerk dazu verfasst hat.1
Die Sonne scheint auf die große Wandtafel im sparsam möblierten Vereinslokal. Unter zweisprachig beschrifteten Fotos wird die traditionelle Bauweise auf der Insel erklärt. Am Eingang wechselt ein Gärtner ein paar Worte auf Kreol mit einer Mitarbeiterin von der Touristeninformation. Gegenüber diskutiert eine Gruppe Arbeiter an einem Imbisstisch. Selbst Neuankömmlinge wie wir können ein wenig von ihrem Gespräch verstehen: Hier im Norden ähnelt das Kreol dem Französischen mehr als der im Süden gesprochene Dialekt.
Nur 10 Prozent der Bevölkerung von La Réunion sprechen ausschließlich Französisch, alle anderen benutzen im Alltag beide Sprachen oder nur Kreol. Über 80 Prozent bezeichnen heute Kreol als ihre Muttersprache, es ist damit die größte Regionalsprache Frankreichs. Dabei war sie lange gesellschaftlich verpönt. Als die Kolonie 1946 französisches Übersee-Département wurde, „ging das mit einer Assimilierungspolitik einher, Kreol war als Sprache nicht anerkannt“, erklärt der Grundschullehrer Guillaume Aribaud, während er den Stuhlkreis für das Morgenritual aufstellt, mit dem er seine Fünfjährigen auf Kreol begrüßt. „Heute hört man es immer öfter auch in der Öffentlichkeit. Aber die Stigmatisierung wirkt noch stark nach.“
Wie vielen seiner Landsleute wurde sich der junge Regisseur Sébastien Clain erst im Ausland seiner Herkunft bewusst und hat darüber den Dokumentarfilm „Kisa nou lé“ (Wer wir sind) gedreht: „Erst als ich zum Studium wegging, fing ich an, mich für die Geschichte meiner Insel zu interessieren“, erzählt Clain. „Ich glaube, ich habe mich erst in dem Moment neu entdeckt, als ich 10 000 Kilometer von zu Hause entfernt lebte. Das Buch von Axel Gauvin half mir, mich mit meiner Kultur zu versöhnen, denn es zeigte mir, woher die Scham kommt, die ich empfand, wenn ich meine Sprache sprach.“
Jedes Jahr verlassen etwas mehr als 2000 Studierende, also 20 Prozent eines Abi-Jahrgangs, die Insel – mit finanzieller Unterstützung des Départements und der Region (auf La Réunion fallen beide Körperschaften in eins). Das Büro für Überseemobilität (L’agence de l’outre-mer pour la mobilité, Ladom) zahlt das Flugticket für junge Menschen unter 26, die in der französischen Métropole (Mutterland) oder einem anderen Département d’outre-mer (Dom) studieren wollen, weil sie entweder keinen Platz in ihrem Wunschfach bekommen haben – Soziale Arbeit und Alternativmedizin sind besonders begehrt – oder weil es nicht angeboten wird, wie Politologie, Psychologie oder Agrarwissenschaften. Ladom vergibt auch Studienstipendien, mit einer maximalen Laufzeit von fünf Jahren und bis zu 4600 Euro jährlich. Zahlreiche weitere Programme unterstützen junge Leute, die in Frankreich eine Ausbildung machen oder eine Stelle antreten wollen.
Demografie und Arbeitslosigkeit sind die beherrschenden Themen auf La Réunion. Auch wenn in den letzten zwanzig Jahren mehr Arbeitsplätze geschaffen wurden, ist die Arbeitslosenquote auf der Insel doppelt so hoch wie im Mutterland (siehe Infografik). 2019 betrug die Jugendarbeitslosigkeit 40 Prozent. Von allen französischen Regionen hat La Réunion den höchsten Anteil an unter 25-Jährigen. Deshalb setzt der Staat ihnen schon seit Langem Anreize, die Insel zu verlassen.
Zwangsverschickte Kinder
1963 wurde das Migrationsbüro für die Übersee-Départements (Bumidom) gegründet, mit dem das „Gebot der Auswanderung“ nach Frankreich in Zeiten des Arbeitskräftebedarfs offiziell verankert wurde. Michel Debré hatte sich das damals ausgedacht. Nach seinem Rücktritt als Ministerpräsident Frankreichs wurde er 1963 Abgeordneter von La Réunion. In einer von Manipulationsvorwürfen überschatteten Wahl hatte der Gaullist Debré, der keinerlei familiäre Beziehungen zu der Insel hatte, Paul Vergès ausgestochen, den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei von La Réunion, der für die Unabhängigkeit der Insel eintrat.
Zwischen 1963 und 1981 unterstützte der französische Staat über das Bumidom 160 300 Auswanderer von Réunion und den französischen Antillen bei ihrer Umsiedlung nach Europa. In dieser Zeit wurden auch über 2000 Kinder, die sich in der Obhut der Jugendhilfe (ASE) befanden, zwangsweise nach Frankreich verschickt. Mehrere Opfer klagten später wegen „Entführung“ gegen den französischen Staat. Die Gerichtsverfahren wurden jedoch in den nuller Jahren eingestellt, weil man Präzedenzfälle fürchtete. Bis heute haben Opfer und Selbsthilfevereine weder individuelle noch kollektive Entschädigung erhalten.
„Diese Politik war damals die Antwort auf drei soziale Probleme“, schreibt die Soziologin Lucette Labache2 : im Übersee-Département das rasante Bevölkerungswachstum sowie Massenarbeitslosigkeit und die damit einhergehende Furcht vor politischen Forderungen, und in Frankreich der Arbeitskräftemangel in Krankenhäusern, bei der Post, in der Telekommunikation und im öffentlichen Verkehr. In einer Zeit, in der manche die Unabhängigkeit forderten, die Algerien kurz zuvor erlangte hatte, fungierte die Auswanderung als „Sicherheitsventil“, schrieb der Geograf und Gründer der Sozialistischen Partei von La Réunion, Wilfrid Bertile, 1972.
Nach dem Aufstand im Chaudron-Viertel von Saint-Denis 1991 begannen die Behörden, mehr auf Mobilität statt auf Auswanderung zu setzen. „Mobilität“ klang viel positiver und war mit weniger negativen Assoziationen behaftet. Das Bumidom wurde in Nationale Agentur zur Eingliederung und Förderung von Arbeitnehmenden aus Übersee (ANT) umbenannt, bis es 2010 seinen heutigen Namen Ladom bekam.
Auf riesigen Plakatwänden stand damals der Slogan: „Eine Ausbildung dort, eine Zukunft hier“. Verantwortlich dafür war eine andere Dienststelle, die es nur auf La Réunion gibt und die Debré ebenfalls 1963 erfand: das Nationale Aufnahme- und Aktionskomitee für mobile Réunioner (Cnarm). Es wird zum Teil vom Département finanziert und bietet Aus- und Weiterbildungen für gering oder nicht qualifizierte Arbeitskräfte in Gastronomie, Baugewerbe und Verkehrswesen in Frankreich. Zwischen 2015 und 2019 nahmen 11 084 Arbeitssuchende am Cnarm-Programm teil, das sich rühmt, „bei den Eingliederungsmaßnahmen die Arbeitnehmermobilität zur obersten Priorität erhoben“ zu haben.
Doch haben die Betroffenen überhaupt eine Wahl? „Meine Mutter hat in Pariser Krankenhäusern gearbeitet, mein Vater ging zur Bahn, meine Tanten gingen zur Polizei. Sie sind über das Bumidom fortgegangen, wir nehmen das Cnarm“, erzählt Olivya Aliks mit verbittertem Unterton. „Ich habe vier Jahre in Paris studiert und hatte das Gefühl, mein Land zu verraten“, sagt sie.
Annecie Boyer ging mit 17 Jahren nach Rennes, um Germanistik zu studieren, ein Fach, das auf der Insel nicht angeboten wird: „Ich bin die Einzige aus meiner Familie, die studiert hat. Meine beiden großen Brüder wollten immer da bleiben, einer wurde Fischer und Feuerwehrmann, der andere Koch. Schon auf der weiterführenden Schule habe ich begriffen, dass ich nach Frankreich gehen muss, wenn ich Karriere machen will.“ Diese Erfahrung teilen viele junge Menschen, sagt die Soziologin Florence Ihaddadene, die an der Université de Picardie Jules Verne in Amiens unterrichtet: „Von den Schulen über die Vereine bis zum Jobcenter erklären alle Institutionen den jungen Menschen aus Réunion, wie sie sich auf internationale Mobilität vorbereiten können.“3
Nicolas Brun, mit einem Vater aus der Métropole und einer Mutter von La Réunion, ging nach dem Abitur 2020 ein Jahr auf die Ingenieurschule nach Angers: „Im Lycée kamen ständig Leute von außerhalb, die uns Ausbildungsgänge in Frankreich oder Québec vorgestellt haben“, berichtet er. „Man hat uns den Traum von einer anderen Welt verkauft.“ Inzwischen lebt der junge Mann wieder in seiner Heimatgemeinde Tampon und erzählt, dass heutzutage viele junge Leute zurückkommen, „um sich mit ihrer Kultur zu versöhnen“.
Kreol endlich ganz normales Unterrichtsfach
In der Gemeinde Port, 20 Kilometer von Saint-Denis entfernt, steht Stéphane Marcy mit seiner Grundschulklasse vor einem blühenden Flammenbaum. „Als ich jung war, hat man mir Geschichten von Weihnachten im Schnee und Schneemännern erzählt“, erinnert er sich. „Das Problem dabei war: Diese Dinge wurden als allgemeingültig hingestellt, dabei hatte das überhaupt nichts mit unserer Lebensrealität zu tun. Wie kann man ein Bild von sich selbst entwerfen, wenn einem nur das westliche Modell zur Verfügung steht?“
Seit 2014 gehört der 38-Jährige zu den 5 Prozent ausgebildeter Lehrkräfte, die Kreol unterrichten dürfen. Als Sekretär des Vereins Lantant LKR (La Lang la kiltir kréol dann lékol) setzt sich Marcy dafür ein, dass seine Kreol sprechenden Schüler:innen nicht benachteiligt werden: „Heute schlägt man ein Kind zwar nicht mehr, wenn es in der Schule Kreol spricht, aber eine Lehrkraft ohne Fachqualifikation wird es auffordern, ‚richtig zu sprechen‘. Ich habe das selbst erlebt. Französisch war nicht meine Muttersprache, deshalb hatte ich Angst, etwas zu sagen. Auch wenn ich mich als guter Schüler am Ende angepasst habe, ist die Unsicherheit immer geblieben.“
Seit der Revolution habe Frankreich die sprachliche Einheit zum Grundpfeiler der nationalen Einheit erhoben, erklärt Véronique Bertile, Wilfrid Bertiles Tochter, die an der Universität Bordeaux Öffentliches Recht lehrt und über Regionalsprachen in Frankreich, Spanien und Italien promoviert hat: „Dieses engstirnige Jakobinertum betrachtete regionale Sprachen und Identitäten lediglich als separatistische Bedrohungen.“
Guillaume Aribaud kennt das Problem. Sein Vater kam aus Okzitanien, seine Mutter war eine Pied-noir aus Tunesien, er selbst wurde in Saint-André an der Ostküste von Réunion geboren, in einer der ärmsten Kommunen Frankreichs. Heute ist der 30-Jährige selbst Grundschullehrer – eine Art Revanche: „Auf dem Collège erklärten uns die Lehrer, Kreol sei ein nicht ausgereiftes Französisch. Das ist doch absurd. Unsere Sprache existiert, und sie lebt weiter, und in dem Viertel, in dem ich unterrichte, können wir mithilfe des Kreol die vielen Kinder integrieren, die von den Komoren oder Mayotte hierherkommen“, erzählt er.
Das Kreol, eine lange geächtete Sprache, die im 18. Jahrhundert ihre Wurzeln hat (siehe Kasten), erfährt immer mehr Akzeptanz als Unterrichtsfach, von den Eltern wird es teilweise sogar eingefordert: In einer aktuellen Umfrage sprachen sich 81 Prozent „für Kreol in der Schule“ aus, 2009 waren es noch 61 Prozent. 85 Prozent meinten, Kreol sei eine Sprache, genauso wie Französisch; das glaubten 2009 erst 74 Prozent.4 Im Jahr 2000 wurde Kreol als „offizielle Regionalsprache“ anerkannt und seit Einführung der Lehramtsprüfung für die Sekundarstufe (Capes) 2001 an den Collèges immer häufiger als Zusatzfach angeboten. In der Primarstufe sind derzeit jedoch nur 450 der 8000 Lehrkräfte als Kreol-Lehrer:innen ausgebildet.
Francky Lauret begann als Dichter, wurde dann Journalist und mit 42 Jahren erster staatlich geprüfter Lehrer für Kreol: „Die Klischees gibt es immer noch, aber die sogenannte Diglossie, also die Ausdifferenzierung in Hoch- und Volkssprache, entwickelt sich weiter. Wenn die Bürgermeisterin von Saint-Denis ihre Reden auf Kreol hält, ich meine Dissertation auf Kreol verteidigen durfte und an der Rathaustür ein Schild hängt: ‚Mi koz creol‘ [‚Hier wird Kreol gesprochen‘], dann merkt man, dass wir heute wirklich frei sprechen können.“
In den Bildungseinrichtungen sieht man das genauso. Die neue Schulsenatorin Chantal Manès-Bonisseau hat seit August 2020 das Lehrangebot für Landesgeschichte an den Collèges und Lycées erheblich erweitert und unterstützt die Auffassung, dass die Sprachen sich gegenseitig befruchten. Wer gut Kreol kann, lernt auch leichter Französisch. Paradoxerweise profitiert die Anerkennung der Sprache von der Entpolitisierung des Themas.
In den 1950er Jahren gehörte bei den Kommunisten der Kampf um Kultur und Sprache und der Kampf für Autonomie beziehungsweise Unabhängigkeit untrennbar zusammen, berichtet Aribaud, der auch beim Verein Lantant LKR mitmacht. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Die seit 2021 amtierende Regionalpräsidentin, Ex-Kommunistin Huguette Bello, arbeitet einvernehmlich mit der eher konservativen Département-Verwaltung zusammen. Auf dem Forum der Mehrsprachigkeit (États généraux du multilinguisme), das im Oktober 2021 auf der Insel stattfand, einigten sich beide Körperschaften auf ein Abkommen, das auch die gesellschaftliche Bedeutung des Kreol anerkennt.
Als es Ende 2021 in den Übersee-Départements Guadeloupe und Martinique zu wochenlangen Protesten gegen die französische Zentralregierung kam, schlug der junge Minister für die Überseegebiete Sébastien Lecornu (La République en Marche) eine öffentliche Debatte über die Autonomie der Gebiete vor. In Réunion steht dieses Thema gar nicht mehr auf der Tagesordnung – dazu fühlt man sich trotz der erheblichen sozialen Probleme immer noch zu sehr mit Frankreich verbunden.
Für Erstaunen sorgten jedoch die Gelbwesten-Proteste auf der Insel. „Es gibt diesen tief verankerten Glaubenssatz, dass unsere Insel dem Vorbild einer Republik folgt, in der die Konflikte befriedet sind und das Volk sich nicht erhebt, weil es gelernt hat, zusammenzuleben“, erklärt die von Réunion stammende Historikerin Françoise Vergès. „Diese Vorstellung beruht zu gleichen Teilen auf Mythos und Wirklichkeit“, fährt sie fort und verweist auf die Besiedlungsgeschichte der Insel, die bis 1646 unbewohnt war. Über die Jahrhunderte haben sich hier Menschen aus verschiedenen europäischen und afrikanischen Ländern sowie Indien und China niedergelassen und Familien gegründet.
Der für die Karibik so typische Gegensatz zwischen Schwarzen und Weißen sei auf La Réunion nicht anwendbar, erklärt der Soziologe Philippe Vitale. Auf den Antillen hat die Spaltung zwischen den Békés, den reichen Großgrundbesitzern mit weißen Vorfahren, und der schwarzen Mehrheitsbevölkerung zu heftigen Auseinandersetzungen geführt. Und während der karibische Autor Aimé Césaire (1913–2008) weltberühmt ist,5 kennen nur Eingeweihte den Dichter, Sprachwissenschaftler und réunionischen Aktivisten Boris Gamaleya (siehe Kasten). „Die einheimische Mittelklasse, die nicht nur aus Kontinentalfranzosen, sondern auch aus Réunionern bestand, hat dazu beigetragen, das Kreol zu unterdrücken und die Forderungen nach gesellschaftlicher und kultureller Unabhängigkeit auszulöschen“, erklärt Françoise Vergès.
„Willkommen in Zoreyland“, witzeln die Leute in Anspielung auf die „Zoreilles“ genannten Französinnen und Franzosen aus Europa, die in den Hotels von Saint-Gilles absteigen. In den Ferien tummeln sich in dem Hauptbadeort der Insel, 35 Kilometer südwestlich von Saint-Denis, doppelt so viele Kontinentalfranzosen wie in Saint-André im Osten und fünfmal mehr als in Salazie im Landesinneren. Die Insel ist attraktiv. Während zwischen 2012 und 2016 durchschnittlich 11 400 Menschen pro Jahr La Réunion Richtung Frankreich verlassen haben, nahmen in demselben Zeitraum 10 300 Menschen, darunter 3000 Rückkehrer, den umgekehrten Weg: Beamtinnen, Unternehmer, Freiberuflerinnen und leitende Angestellte großer französischer Firmen.
Gegen den Zuzug aus der Métropole gibt es regelmäßig Proteste, weil die meisten Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge nach wie vor von Kontinentalfranzosen geleitet werden. Das verändert sich langsam: Ende 2020 kamen von insgesamt 31 000 leitenden Angestellten 47 Prozent von der Insel, 1990 waren es noch 33 Prozent. Bei den Selbstständigen stellen Kreol:innen allerdings nur ein Drittel (19 Prozent der Mediziner und Zahnärztinnen stammen von der Insel) und besetzen lediglich 34 Prozent der Führungspositionen. „Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt geht immer noch mit einem Prozess des ‚Weißwaschens‘ einher, das heißt, man muss seine Herkunft verleugnen“, berichtet der Vereinssekretär von Lantant LKR.
Nicolas Brun erzählt, er fürchtet sich schon heute vor dem Moment, in dem er beim Vorstellungsgespräch einem „Métro“ gegenüber sitzt: „Ich kenne so viele Beispiele aus meinem Umfeld, wo bei gleicher Qualifikation nie der Réunioner die Stelle bekommen hat“. Der 19-Jährige wusste schon immer, dass er nach dem Studium zurückkehren wollte. Auch wenn nach wie vor viele die Insel verlassen, berufen sich immer mehr auf ihr Recht, „im Land zu leben und zu arbeiten“. Die Rückkehroption wurde in der Mobilitätspolitik lange nicht berücksichtigt, doch auch das ändert sich gerade. „Mobilität ist ein Lebensmodell, aber auch das beste Mittel sich zu bilden, Erfahrungen zu sammeln und seine Kompetenzen zu erweitern, um selbstbewusst und stark zurückzukehren“, verkündete der Département-Präsident Cyrille Melchior an der Seite des Cnarm-Chefs im September 2018 in einer Rede.
Mit der Rückkehroption stelle sich aber auch die schwierige Frage nach der regionalen Bevorzugung, der préférence régionale, meint Véronique Bertile. „Dieser Begriff ist allerdings heikel, deshalb spreche ich lieber von einer Priorisierung des lokalen Arbeitsmarkts“, erklärt die Juristin und meint damit natürlich trotzdem, dass Einheimische bevorzugt werden, wenn auf der Insel eine Stelle neu geschaffen oder besetzt wird. „Das ist ein konkretes Werkzeug zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“, sagt Bertile. Nach EU-Recht erlaube die isolierte Lage und das relativ kleine Territorium solche Sondermaßnahmen, die in Neukaledonien oder Französisch-Polynesien bereits umgesetzt werden.
Da es lange nur eingeschränkt akademische Ausbildungsangebote auf der Insel gab, mussten entweder Französ:innen eingestellt oder die Leute nach Frankreich geschickt werden. „Man setzt immer noch mehr Gelder dafür ein, die Réunioner aufs Festland zu holen, als hier vor Ort ein echtes Angebot zu schaffen“, klagt die Abgeordnete Karine Lebon. Seit einem Jahr kämpft die ehemalige Grundschullehrerin für die Einrichtung von Studiengängen, deren Absolvent:innen auf der Insel besonders gefragt sind: Nachhaltige Landwirtschaft, Agrarwissenschaften, Biodiversität und Tropische Ökologie. Seit 2015 liegt auch das Projekt eines „Lycée de la mer“ in der Schublade, doch die Genehmigung der Region fehlt weiterhin. Wer sich für maritime Fächer interessiert, hat im Augenblick nur zwei Möglichkeiten: sich an der Seemannsschule in Port zur Matrosin oder zum Matrosen ausbilden lassen oder nach Le Havre, Marseille oder Südafrika gehen, um sich für andere Berufe in der Fischerei oder im Tourismus ausbilden zu lassen.
„Das Problem ist nicht die Mobilität an sich“, meint Aribaud. „Unsere gesamte Entwicklung war immer vollständig auf den europäischen Kontinent ausgerichtet. Warum schauen wir nie auf die Länder, die auch am Indischen Ozean liegen?“ Ein Parlamentsbericht empfahl 2020 eine größere wirtschaftliche Integration der Überseegebiete in die umliegenden Märkte und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Häfen.6
Von der Straße, die durch den Park Tampon-Bel Air am Fluss Abord entlangführt, hat man ein atemberaubendes Rundum-Panorama bis hinauf zur Hochebene von Cafres: auf der einen Seite Berggipfel über üppiger Vegetation, auf der anderen Seite nichts als der Ozean. La Réunion war nie eine nur auf sich selbst bezogene, abgeschirmte Insel. Das haben die Aktivistinnen und Literaten der Kreolität in den 1970er Jahren immer wieder erklärt, und es schwingt auch in den Worten von Boris Gamaleya mit: „Ein wunderbarer Gesang, der die schwarze Nacht vergessen lässt. Es ist dein Volk, das spricht. Halt dir nicht länger die Ohren zu.“
2 Lucette Labache, „La mobilité des jeunes réunionnais“, Agora Débat/Jeunesses, Nr. 50, Paris 2008.
4 Umfrage des Instituts Sagis (im Auftrag von Lofis) vom 25. März bis 13. April 2021.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Margot Hemmerich und Clémentine Méténier sind Journalistinnen.
Maloya und Kreol
Das Kreol, das auf La Réunion gesprochen wird, ist eine von weltweit 127 Kreolsprachen, die in der Kolonialzeit entstanden sind. Das vollzog sich in drei Etappen: In der ersten Phase, als sich Herrscher und Beherrschte das erste Mal begegneten, wurden vor allem Befehle erteilt, und man versuchte, sich verständlich zu machen. In der zweiten Phase, nach der Industrialisierung der Plantagen, bildete sich eine Verkehrssprache heraus zwischen den Neuankömmlingen, die keinen direkten Kontakt zum Französischen der Kolonialisten hatten, und den Versklavten der ersten Generation, die bereits die Sprache der Befehlshaber angenommen hatten. In der dritten Etappe wurde die Verkehrssprache schließlich zur Muttersprache der Kinder, die auf der Insel zur Welt kamen und aufwuchsen.
Das réunionische Kreol stammt vor allem von den französischen Dialekten im Nordwesten Frankreichs ab, den sogenannten Langues d’oïl. Es hat mit dem réunionischen Französisch viele Archaismen, Neologismen und Lehnwörter gemeinsam. Weitere wichtige Einflüsse kamen aus dem Madegassischen, Indo-Portugiesischen und dem Tamil. Kreol ist ein Schmelztiegel, eine gemeinsame Sprache für Menschen jeder Herkunft auf einer zuvor unbewohnten Insel ohne autochthone Bevölkerung.
Auch in der Inselmusik Maloya, die in der Kolonialzeit die versklavten Plantagenarbeiter erfanden, wird auf Kreol gesungen. Bis in die 1980er Jahre wurde Maloya weder im Radio noch im Fernsehen gespielt. Das erste vollständig kreolsprachige TV-Magazin ging erst 2001 auf Télé Réunion (RFO) auf Sendung. In der Literatur reichen die frühesten Spuren kreolischer Schriftsprache bis ins 18. Jahrhundert zurück, sie finden sich in juristischen Texten, Revolutionsaufrufen oder Aufzeichnungen von Missionaren. In den 1970er Jahren unternahm der Dichter Boris Gamaleya (1930–2019), dessen Mutter von der Insel kam und dessen Vater Ukrainer war, die mühsame Kleinarbeit, die mündlichen Überlieferungen seiner Heimat aufzuschreiben. Von den Büchern, die in den letzten 50 Jahren auf La Réunion herausgegeben wurden, darunter vor allem Gedichtbände sowie Theaterstücke, sind zwar nur ein Bruchteil auf Kreol verfasst, aber es sind trotzdem mehr, als in der gesamten Zeit vor 1946 veröffentlicht wurde.