Von Thiruvananthapuram nach Mannheim
von Samrat Choudhury
Seit August letzten Jahres hat Litty Thankachan hart gearbeitet. Sie ist ausgebildete Krankenpflegerin und lebt in Thiruvananthapuram, der Hauptstadt des indischen Bundesstaats Kerala. Während das Auf und Ab der Covid-Wellen die ganze Welt in Atem hielt, büffelte sie an fünf Tagen die Woche vier Stunden Deutsch am örtlichen Goethe-Institut. Es ist eine Berufung, die sie völlig in Anspruch nimmt.
Ihr Ziel ist der Erwerb des Sprachzertifikats B2, mit dem sie sich um einen Job in Deutschland bewerben kann. B1 hat sie bereits geschafft – obwohl der Unterricht pandemiebedingt größtenteils online stattfand+ und sie lieber vor Ort gelernt hätte. Jetzt hofft sie, in den nächsten Wochen ihre B2-Prüfungen zu bestehen.
Der Zeitpunkt ist ein Geschenk des Zufalls. Ende 2021 unterzeichnete die deutsche Bundesagentur für Arbeit nach einjährigen Verhandlungen mit dem Bundesstaat Kerala eine Vereinbarung über die Vermittlung von Pflegepersonal. Die erste Rekrutierungskampagne soll noch 2022 anlaufen; Anfang 2023 sollen die angeworbenen Kräfte dann ihre Stellen an Krankenhäusern in Deutschland antreten.
Unterzeichnet wurde diese „zweite Vermittlungsabsprache mit einem Nicht-EU-Staat“ am 2. Dezember 2021 von Markus Biercher, Geschäftsführer Internationales der Bundesagentur für Arbeit (BA), und Harikrishnan Namboothiri, CEO der staatlichen Partneragentur Norka. Bei der Onlinezeremonie, die das Abkommen beschloss, war auch der Ministerpräsident Keralas, Pinarayi Vijayan, zugeschaltet – was „die hohe politische Bedeutung der Absprache für den Bundesstaat unterstreicht“, wie die BA in ihrer Pressemitteilung betonte.1
Darin ist auch von einer „Triple Win“-Politik die Rede. Die deutsche Seite will herausstreichen, dass gerade Kerala profitiere: Für die Bundesagentur sei es ein „besonderes Anliegen, gerade im sensiblen Gesundheitsbereich keine Pflegekräfte aus Ländern zu rekrutieren, in denen selbst ein Mangel besteht“.
Auch die Zeitungen in Kerala feierten die Vereinbarung in überschwänglichen Tönen. Eine typische Schlagzeile lautete „Krankenschwestern können jetzt nach Deutschland fliegen“. Sie erschien in der Tageszeitung Deshabhimani, was wörtlich „Stolz der Nation“ heißt. In einem Telefoninterview erklärte mir Harikrishnan Namboothiri, es handle sich um „ein hochkarätiges Programm, das erste seiner Art“. Und auch er verwies auf den „dreifachen Gewinn“ bei diesem Deal: die Arbeitssuchenden selbst, Deutschland und Indien.
Das ist eine kühne Aussage angesichts der Tatsache, dass Indien nach den Standards der WHO unter einem gravierenden Mangel an Gesundheitspersonal leidet. Die Richtzahl der WHO für ein funktionierendes Gesundheitswesen sieht drei Pflegekräfte und Hebammen pro 1000 Einwohner vor. In Indien sind es jedoch nur 1,75 pro 1000.2 Das heißt bei einer Bevölkerungszahl von 1,35 Milliarden, dass gemessen an der WHO-Empfehlung rund 1,7 Millionen Pflegekräfte fehlen. Angesichts dessen sollte man annehmen, dass die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt hoch ist und entsprechend hoch auch die Gehälter.
Die Realität auf dem indischen Arbeitsmarkt sieht jedoch ganz anders aus. Das Anfangsgehalt einer Pflegekraft variiert je nach Stadt und Staat. Am höchsten liegt es in Mumbai, bei monatlich 15 000 Rupien (178 Euro), berichtet Jibin T. C. Der Krankenpfleger stammt aus Kerala und ist Generalsekretär der United Nurses Association (UNA) des Bundesstaats Maharashtra.3 In anderen Städten beträgt das Anfangsgehalt nur etwa 10 000 Rupien pro Monat, bei einer Arbeitszeit von 52 Wochenstunden. Die Zahl der Kranken, die eine Pflegekraft zu versorgen hat, liegt nach Jibin zwischen dreißig in Privatkliniken und bis zu sechzig in öffentlichen Krankenhäusern. Selbst die Intensivpflegekräfte auf den Spezialstationen sind für sieben oder acht Patienten gleichzeitig verantwortlich.
Die Entlohnung für diese ungeheuer arbeitsintensiven Jobs ist erbärmlich und wird im Lauf des Berufslebens nur geringfügig besser, sagt der UNA-Vorsitzende: „Wenn es eine jährliche Gehaltserhöhung gibt, sind das jedes Mal zwischen 200 und 300 Rupien.“ Damit kommt man nach fünf Jahren Berufsausübung von 15 000 auf 16 000 Rupien (von 178 auf 189 Euro).
Zudem haben sich die Arbeitsbedingungen, die ohnehin fürchterlich sind, im Lauf der Coronapandemie noch erheblich verschlechtert. Viele Pflegekräfte haben sich infiziert. Die meisten von ihnen waren nicht einmal krankenversichert. Und selbst die Krankenhäuser, in denen sie arbeiten, hielten sich nicht für zuständig. „Wenn sich eine Pflegerin am Arbeitsplatz infiziert, sagt ihr das Krankenhaus, sie muss für die Behandlungskosten selber aufkommen“, berichtet Jibin. „Viele Kliniken haben ihre Pflegekräfte sogar für die PCR-Tests und die Impfung zur Kasse gebeten.“ Zu Beginn der Pandemie kostete ein Test rund 2500 Rupien (knapp 30 Euro). „Wie soll eine Pflegekraft, die monatlich 10 000 verdient, einen PCR-Nachweis bezahlen, der ein Viertel ihres Gehalts kostet?“
Jibin verweist auch auf die Empfehlung einer Expertenkommission, die aufgrund einer Entscheidung des Supreme Court of India eingesetzt wurde. Danach sollte das Mindestgehalt für jede Pflegekraft bei mindestens 20 000 Rupien (237 Euro) liegen, und zwar im staatlichen wie im privaten Gesundheitssektor. Aber obwohl der Spruch des höchsten indischen Gerichts bereits sechs Jahre zurückliegt, hat noch kein einziger Bundesstaat die Empfehlung umgesetzt.
Der Supreme Court war von einem anderen Berufsverband, der Trained Nurses Association of India (TNAI), angerufen werden. Dessen Vorsitzender Professor Roy George erläutert, warum diese Initiative notwendig war: „Zwischen 2008 bis 2012 sind weniger Pflegekräfte in die westliche Welt abgewandert als davor; das Ausland hat nicht mehr so viele angeworben. Das führte zu Unruhen bei Angehörigen der Pflegeberufe, und zwar in vielen Teilen des Landes, einschließlich der Megacitys und auch in Kerala.“ George benennt damit einen subtilen Zusammenhang: In Indien hatte die Ausbeutung der Pflegekräfte damals in dem Maße zugenommen, in dem es für sie weniger Chancen gab, anderswo Beschäftigung zu finden – in Ländern mit besseren Arbeitsbedingungen zu finden.
Krankenpflegerinnen und -pfleger wandern schon seit Jahrzehnten aus Indien und insbesondere aus Kerala ab. Zudem gibt es eine lange Geschichte der Binnenmigration: Pflegekräfte aus Kerala stellen die überwältigende Mehrheit der einschlägig Beschäftigten in der ganzen Indischen Union, die aus 28 Bundesstaaten und 8 direkt von Neu-Delhi regierten „Unionsterritorien“ besteht.
Jeder dieser Bundesstaaten hat seine eigene Sprache, Geschichte und Kultur. In ganz Indien gibt es 22 offizielle Sprachen, die nur einen Bruchteil der 122 gesprochenen Idiome ausmachen. Eine der 22 Amtssprachen ist das in Kerala dominierende Malayalam. Die Malayalis sind eine eigenständige Community, die in ganz Indien in bestimmten Berufsgruppen vorherrscht. Vor 30 bis 40 Jahren zum Beispiel waren die meisten Stenotypistinnen in Neu-Delhi aus Kerala, weshalb Witzbolde die Malayali-Community der Hauptstadt als „Remington-Kaste“ bezeichnete.
Der TNAI-Vorsitzende Roy George erinnert daran, dass die Emigration von Pflegekräften aus Kerala schon in den 1960er Jahren begonnen hat, auch damals schon nach Deutschland; die Rekrutierung lief meist über kirchliche Verbindungen. Fast ein Fünftel der Bevölkerung von Kerala gehören einer christlichen Glaubensrichtung an, die ihre Ursprünge auf den Apostel Thomas zurückführt, der im Jahr 52 an der Malabarküste gewirkt haben soll.
Im 19. Jahrhundert, unter der britischen Kolonialherrschaft, trug diese christliche Verbundenheit zur raschen Entstehung moderner Missionsschulen in der Gegend bei, die wiederum das wichtigste Vehikel für die Verbreitung der englischen Sprache waren.4 Kerala ist seit jeher der indische Bundesstaat mit dem höchsten Alphabetisierungsgrad, auch bei den Frauen. Das erklärt auch die hohe, ständig wachsende Zahl der – überwiegend weiblichen – diplomierten Krankenpflegekräfte. Als weiteren Faktor nennt George, dass in Kerala „die außerhäusliche Erwerbstätigkeit von Frauen schon sehr früh gesellschaftlich akzeptiert war“.
Deutschland gehörte anfangs zu den bevorzugten Zielen der Krankenschwestern, die ins Ausland gingen. Als die westlichen Länder ihre Einwanderungspolitik änderten und die Golfstaaten in den 1970er Jahren vom Ölboom profitierten, verschob sich der Trend in Richtung Arabische Halbinsel. Mit Beginn der 1990er Jahre wurden andere Regionen attraktiver: Bevorzugtes Ziel waren zunächst die USA, bis diese ihre Visapolitik änderten. Anfang der 2000er Jahre öffnete sich stattdessen Großbritannien, später folgten Australien, Neuseeland und Irland. Neuerdings kommt Japan mit seiner alternden Bevölkerung hinzu – und seit Kurzem auch wieder Deutschland.
Die deutsche Regierung wollte lange Zeit keine Krankenschwestern aus Indien anwerben, weil das Land nach den WHO-Standards über zu wenig Pflegepersonal verfügt. „Wir vom TNAI haben dieses Thema vor fünf, sechs Jahren mit dem deutschen Konsulat diskutiert“, erzählt Roy George, „wir haben ihnen gesagt, dass wir zwar gemessen an der Bevölkerungszahl zu wenige Pflegekräfte haben, aber dass diese hier trotzdem keine anständig bezahlten Stellen finden. Also werde niemandem geschadet, wenn Krankenschwestern von hier nach Deutschland gehen; und die Regierung von Kerala werde nichts dagegen haben.“
Die letzte Aussage ist untertrieben. Die Regierung in Thiruvananthapuram fördert die Migration sogar. Norka, der Name der staatlichen Agentur, die mit den Deutschen bei der Rekrutierung von Pflegekräften zusammenarbeitet, steht für Non-Resident Kerala Affairs. Sie ist für jene 4 Millionen Bürgerinnen und Bürger Keralas zuständig, die über die ganze Erde verstreut leben und arbeiten.
Der Bundesstaat Kerala, der sich in der Tourismuswerbung als „God’s Own Country“ anpreist, hat die letzte kommunistische Regierung, die es im heutigen Indien noch gibt (siehe den Beitrag von Pierre Daum auf Seite 20). An ihrer Spitze steht Ministerpräsident Pinarayi Vijayan, der bis 2012 auch Generalsekretär der Communist Party of India (Marxist) war. In Gottes eigenem kommunistischen Land gibt es für die Auswanderung von Arbeitskräften, einschließlich Krankenpflegerinnen, eine breite gesellschaftliche Zustimmung. Norka-Chefmanager Namboothiri behauptet selbstbewusst, seine Agentur sei „die weltweit einzige mit so viel Erfahrung in Sachen Migration, das heißt sicherer, ethischer und legaler Migration“.
Die Aspekte Sicherheit und Legalität sind immens wichtig. Im Juni 2014 gerieten 46 indische Krankenschwestern, fast alle aus Kerala, im irakischen Tikrit in Gefangenschaft des IS, aus der sie nach vier Wochen durch diplomatische Verhandlungen befreit wurden. Die Frauen waren von einer privaten Agentur rekrutiert worden, die pro Person 150 000 Rupien (damals 2000 Euro) für die Jobvermittlung kassiert hatte. Im gleichen Jahr mussten weitere 43 Pflegerinnen aus Kerala aus dem libyschen Bürgerkrieg in Sicherheit gebracht werden.
Noch häufiger kommt es vor, dass Krankenschwestern Opfer von Betrügern werden. Letztes Jahr, inmitten der Pandemie, strandete eine Gruppe aus Kerala in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). Jede der Frauen hatte mehrere hunderttausend Rupien an Agenten bezahlt – in vielen Fällen die gesamten Familienersparnisse –, die angeblich Jobs in den VAE vermittelten. Die Jobs gab es nicht.
Zwei Jahre zuvor hatte es einen ähnlichen Fall in Singapur gegeben. Einer der größten Betrugsfälle kam 2015 ans Licht: Eine Vermittlungsagentur in Kerala hatte 900 Krankenschwestern mit angeblichen Jobs in Kuwait hereingelegt. Die kassierte Geldsumme wird auf mehr als 2 Milliarden Rupien (24 Millionen Euro) geschätzt. Die Agentur hatte jeder der Bewerberinnen über 2 Millionen Rupien abgenommen, weil für einen Job in Kuwait eine obligatorische „Kaution“ hinterlegt werden muss. Der Fall ist in Indiens notorisch langsamen Justizsystem bis heute anhängig.
Trotz der hohen Kosten ist Kuwait für Krankenschwestern wieder zu einer interessanten Jobadresse geworden, denn der Golfstaat ist inzwischen Ausgangspunkt einer „sekundären“ Migrationsbewegung: Die dort arbeitenden Pflegekräfte aus Indien – die meisten natürlich aus Kerala – wandern irgendwann weiter Richtung Westen. Eine Krankenschwester, die seit 27 Jahren in Kuwait lebt und arbeitet, erzählte uns, dass eine „Gastarbeiterin“ in den Golfstaaten selbst dann nicht eingebürgert wird, wenn sie das ganze Leben dort verbracht hat.
Die aus Kerala stammende Frau arbeitet heute im kuwaitischen Gesundheitsministerium, will aber anonym bleiben, um keine Probleme zu bekommen. Zu Beginn der Pandemie hatte man sie wie alle Beschäftigten im Gesundheitswesen in Zeltunterkünften isoliert. In normalen Zeiten sind sie verpflichtet, zur Miete zu wohnen; der Erwerb einer Immobilie ist ausgeschlossen, denn irgendwann müssen alle das Land wieder verlassen: „Wenn ich mir ausrechne, was ich in den ganzen Jahren an Miete gezahlt habe, falle ich ins Koma.“
Dennoch hat sie an der Migration von Pflegekräften aus Kerala nach Kuwait nichts auszusetzen: „Das ist doch ganz normal, dass Leute von einem Ort an einen anderen ziehen.“ Ähnlich nüchtern beurteilt sie die Folgen der Abwanderung von Krankenschwestern für Indien: „Wo immer sie hingehen, sie schicken Geld zurück; das ist doch für die Wirtschaft nur gut.“
Geld nach Hause schicken zu können, war in Indien schon immer ein klassisches Motiv für die Arbeitssuche im Ausland. Jincy John ist von Kerala zunächst in Richtung Golf aufgebrochen, von wo sie dann in die USA weiterzog. „Ursprünglich wollte ich nach Großbritannien gehen, aber nach meiner Heirat habe ich umgeplant, weil mein Mann in der Golfregion war“, erzählt sie auf Englisch mit amerikanischem Akzent. Sie fand einen Job in einer Poliklinik in Maskat. Während sie in Oman arbeitete, absolvierte sie Prüfungen für die USA und wanderte weiter. Über ihre Motive sagt sie: „In Indien arbeitest du womöglich zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, und du verdienst viel zu wenig. Wenn das Gehalt anständig wäre, würden sich nicht so viele Krankenschwestern ins Ausland locken lassen.“
Jincy John glaubt aber nicht, dass die Abwanderung nach Westen zu viele gute Pflegekräfte aus Indien abgezogen hat: „Von denen gibt es zu Hause noch immer sehr viele.“ Der Beruf müsse mehr Anerkennung erfahren, auch wenn Anerkennung allein natürlich nicht reiche. „Um eine Familie zu gründen, brauchst du einiges mehr. Mit auskömmlichen Gehältern und einem guten Management könnte man mehr Pflegepersonal in Indien halten.“
Allerdings sieht es nicht so aus, als tue die indische Regierung alles, um ihre Fachkräfte im Land zu behalten. Wie Jibin von der UNA berichtet, bieten die staatlichen Krankenhäuser inzwischen zwar bessere Gehälter und Arbeitsbedingungen, aber die meisten Gesundheitsverwaltungen – in Neu-Delhi wie in den Bundesstaaten – „unterstützen indirekt die Privatisierung“. Das öffentliche Gesundheitssystem werde ausgeblutet, die Zahl der Pflegejobs im öffentlichen Sektor stagniert seit Jahren. So sieht es auch Santosh Mahindrakar, ein Krankenpfleger mit zusätzlichem Masterabschluss in Öffentlicher Gesundheitsvorsorge, der seit einiger Zeit in Deutschland arbeitet.
Auch zwei Jahre Pandemie haben daran nichts geändert. Die einzige Maßnahme, die in den letzten Jahren von der indischen Zentralregierung in dieser Sache ergriffen wurde, ist, dass Pflegekräfte auf die Liste der Berufe gesetzt wurde, die für bestimmte Länder eine Auswanderungsgenehmigung beantragen müssen. Das geschah 2015 in Reaktion auf die Geiselnahmen im Irak und in Libyen und auf den Betrugsfall in Kuwait.
Keine Bemühungen, Fachkräfte im Land zu halten
Dass diplomierte Pflegerinnen und Pfleger, die nach einer langen und kostspieligen Ausbildung – für die sie häufig mehr als 500 000 Rupien (knapp 6000 Euro) ausgegeben haben – anständige Arbeitsmöglichkeit suchen, ist nur zu verständlich. Für sie ist die Unterzeichnung der Vereinbarung zwischen der deutschen Bundesagentur für Arbeit und der Regierung von Kerala ein seltener Hoffnungsschimmer – neben der derzeitigen Welle von Stellenangeboten im britischen Gesundheitssektor.
Auch Norka-Chef Namboothiri sieht in dem Abkommen mit Deutschland einen „neuen Korridor“ für ausgebildete Pflegekräfte, die gute Jobs außerhalb Indiens finden wollen. Das Projekt ist inzwischen so weit gediehen, dass sich Kandidatinnen mit den erforderlichen Deutschkenntnissen bereits registrieren lassen können.
Bei den indischen Pflegekräften, die bereits in Deutschland arbeiten, fällt die Bilanz unterschiedlich aus. Santosh Mahindrakar freut sich nicht nur über ein besseres Gehalt und bessere Arbeitsbedingungen, er ist auch angetan von der anderen Arbeitskultur in Deutschland. „Hier wird jede Arbeit auf ihre Weise geschätzt“, schildert der diplomierte Krankenpfleger seine Erfahrung.
Er illustriert den Unterschied der Systeme am Beispiel von Entbindungsstationen. Im ländlichen Indien kommen die meisten Babys in staatlichen Krankenhäusern zur Welt: „Etwa jede zweite Geburt erfolgt in der Nacht, und da ist in der Regel kein Arzt anwesend. Die Geburtshilfe wird von der Pflegekraft geleistet, aber wenn du ins Protokoll schaust, steht da, dass die Entbindung durch den Doktor erfolgt ist.“
In Deutschland hat er die Geburt seiner Tochter erlebt. „Da hat die Hebamme die Geburtshilfe geleistet und protokolliert, dass das Baby gesund ist. Dann kam der Arzt und hat sich das Baby angesehen und gesagt, von meiner Seite aus ist alles in Ordnung. Aber es war die Hebamme, die das offizielle Geburtenprotokoll abgezeichnet hat.“ Das wäre in Indien undenkbar, sagt Mahindrakar. „Auch wenn eine Entbindung mitten in der Nacht stattfindet, wird der Arzt das Protokoll unterschreiben – am nächsten Morgen. In Indien haben wir ein klassisch hierarchisches, von den Ärzten beherrschtes System.“
Diesem glänzenden Zeugnis für das deutsche System steht die Erfahrung von Jinsa N. A. entgegen, die in einem Krankenhaus in Mannheim arbeitet. Vor einem Jahr verließ die diplomierte Pflegerin ihre Heimatstadt Kottayam in Kerala in Richtung Deutschland, nachdem sie ihre Sprachprüfung bestanden hatte. Aber sie musste bald feststellen, dass „der Fremdsprachenunterricht und das Kommunizieren in dieser Sprache ganz unterschiedliche Dinge sind“.
Noch stärker betont Jinsa die so anderen medizinischen Gegebenheiten in Deutschland, mit denen sie große Schwierigkeiten hatte. Nachdem sie einige Monate in einem Berliner Seniorenheim gearbeitet hatte, wurde ihr nach Erwerb des B2-Zertifikats eine Stelle in einem Mannheimer Krankenhaus zugewiesen. Doch die Sprachbarriere blieb bestehen: „Im Krankenhaus können die meisten, die da arbeiten, nur Deutsch – und sie ignorieren uns. Sie trauen uns nichts zu, sie sagen, ‚die versteht das eh nicht‘. Andere Kolleginnen aus Indien haben ähnliche Probleme.“
Auch an das triste Wetter kann Jinsa sich nur schwer gewöhnen. Dennoch hat sie nicht vor, nach Kerala zurückzukehren. Die beiden entscheidenden Faktoren dieses Arbeitsmarkts – der deutsche Bedarf an Pflegekräften und das Streben der indischen Krankenschwestern nach anständigen Gehältern und Arbeitsbedingungen – werden wahrscheinlich dafür sorgen, dass auch die neu angeworbenen Pflegekräfte aus Kerala wie geplant im nächsten Jahr in Deutschland eintreffen werden.
Was letztlich aus ihnen wird, lässt das Beispiel ihrer Vorgängerinnen ahnen, die in den 1960er Jahren dort hingegangen sind: Sie werden irgendwann Deutsche werden.
2 Nach den Zahlen der WHO für Indien 2020. In Deutschland waren es 2019 14,2.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Samrat Choudhury ist Journalist und Autor in Indien.
© LMd, Berlin