10.03.2022

Wo Muslime kommunistisch wählen

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Wo Muslime kommunistisch wählen

Im indischen Bundesstaat Kerala haben die Hindunationalisten keine Chance

von Pierre Daum

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Was für ein Bild! Drei Frauen in Nikab sitzen plaudernd an einer Bushaltestelle vor einem riesigen Che-Guevara-Porträt. Das schwarze Tuch lässt nur ihre Augen frei, ihre Körper sind ebenfalls in schwarzen Stoff gehüllt, ihre Hände stecken in Handschuhen. Auf dem Dach des Bushäuschen flattern dreißig rote Fähnchen mit Hammer und Sichel. Wo sind wir hier? In Saudi-Arabien oder auf Kuba?

Wir sind in Kerala, im äußersten Süden In­diens. „Frauen mit Nikab oder mit Parda, die die obere Hälfte des Gesichts freilässt, sah man hier das erste Mal vor 15 oder 20 Jahren. Heute sieht man sie überall“, erklärt uns der Soziologe S. Visakh, der über die muslimische Identität in Kerala promoviert hat.

Der junge Mann mit rasiertem Schädel und freundlichem Gesicht trägt ein weites grünes Gewand und Ledersandalen. Wir treffen uns in einem angesagten Café in Thiruvananthapuram, der Hauptstadt des Bundesstaats Kerala. „Früher kleideten sich die muslimischen Frauen hier wie alle anderen: in bunten Saris oder Churidars, den halblangen Tuniken zu engen Hosen, und mit einem bunten Kopftuch, dem Thattam“, erklärt er uns. „Wenn sie einen Sari trugen, bedeckten sie ihr Haar leger mit einem Ende des Gewands.“

Kerala ist ein kleiner Bundesstaat mit 33 Millionen Einwohnern, der Anteil der muslimischen Bevölkerung liegt mit 27 Prozent deutlich über dem Landesdurchschnitt von 14 Prozent. In vielen Städten der Region Malabar (im Norden des Bundesstaats) sind die Muslime, mehrheitlich Sunniten, sogar in der Mehrheit. Auch Christen gibt es mit 18 Prozent vergleichsweise viele; in Indien insgesamt sind es nur 2 Prozent. Im Unterschied zu den Muslimen im Norden In­diens, die im 16. Jahrhundert von mogulischen Invasoren konvertiert wurden, geht der Islam in Kerala zurück auf die Zeit des Propheten, als die arabischen Händler vom Persischen Golf sich an der Küste von Malabar mit Gewürzen eindeckten.

Die schwarzgekleideten Frauen im Land der farbenprächtigen Gewänder überraschen um so mehr, als Kerala der einzige der 28 indischen Bundesstaaten ist, der von Kommunisten regiert wird. Ihr leuchtendes Rot ist überall sichtbar: Millionen Wimpel, Büsten ihrer einstigen Führer, riesige Wandporträts, auf denen die aktuelle Führungsriege sehr nach Bollywood-Stars aussieht; rote Metallskulpturen von Hammer und Sichel in der Mitte von Verkehrsinseln. Das Dreifachporträt Marx/Engels/Lenin ist hier fast ebenso anzutreffen wie einst in der Sowjetunion, ganz zu schweigen von Che mit seinem in die Ferne gerichteten Blick nach der ikonischen Fotografie von Alberto Korda.

Als die Kommunisten 1957 bei den ersten Parlamentswahlen gewannen, waren sie weltweit die ersten Marxisten, die demokratisch an die Macht kamen. Den großen Block ihrer Wählerschaft bildeten damals wie heute hinduistische Bauern. Die Kommunisten führten eine Agrarreform durch: Sie schafften das Feudalsystem ab, beschlagnahmten das Land der Großgrundbesitzer und verteilten es an die arme Landbevölkerung.

Seither wechselte die Regierung von Kerala mit der Regelmäßigkeit einer Uhr zwischen Koa­li­tionen, die abwechselnd von der kommunistischen Partei CPI(M) (Communist Party of India-Marxist) und der sozialliberalen Kongresspartei geführt werden. Nur bei den letzten Wahlen vom April 2021 konnte die Koalition der CPI(M) zum zweiten Mal in Folge einen Sieg verbuchen. In einem Indien, in dem die Dominanz der hindu­na­tio­na­listischen Bharatiya Janata Party (BJP) von Ministerpräsident Narendra Modi zunimmt, ist Kerala zu einer der letzten Bastionen des Widerstands gegen die antimuslimische „Safranwelle“ geworden.1

Die kommunistische Regierung Keralas verfolgt eine massive Investitionspolitik im Kampf gegen die Armut. Sie verteilt Lebensmittelkarten, die einen nahezu kostenlosen Zugang zu Grundnahrungsmitteln sichern, und hat einen Mindestlohn von 700 Rupien am Tag (8 Euro) eingeführt, das ist doppelt so viel wie im Landesdurchschnitt. Außerdem fördert sie das Bildungs- und Gesundheitswesen. Die Alphabetisierungsrate in Kerala ist mit 96,7 Prozent die höchste in In­dien; der Landesdurchschnitt liegt bei 77,7 Prozent. Auch die Lebenserwartung liegt mit 77,3 Jahren über dem Landesdurchschnitt von 70,8 Jahren.

„Wir sind eine Art asiatisches Skandinavien“, scherzt Praveena Kodoth, Soziologe am Center for Development Studies (CDS) in Thi­ru­va­nan­tha­pu­ram. Und der Geograf Srikumar Chattopadhya, den wir ebenfalls dort treffen, erzählt vom Panchayat-System, das die Kommunisten ausgebaut haben: „Das sind die Dorfräte, die eine echte Beteiligung des Einzelnen an der Entwicklung des Staats möglich machen.“

Als würden die Muslime mit den Kommunisten um den öffentlichen Raum konkurrieren, ist in den letzten 20 Jahren die Zahl der Moscheen geradezu explodiert, vor allem im Norden Keralas. Auch stiftungsgetragene islamische Schulen und Universitäten schießen wie Pilze aus dem Boden. An den islamischen Hochschulen, in denen weltliche wie religiöse Fächer unterrichtet werden, müssen die Studentinnen Nikab tragen und die Studenten Qamis, ein weißes, knöchellanges Gewand, dazu eine weiße Kappe.

Seit etwa 20 Jahren hat die Sichtbarkeit muslimischen Lebens in Kerala sehr zugenommen, sind sich unsere Gesprächspartner einig, seit 10 Jahren hat sich diese Entwicklung noch einmal beschleunigt. Viele führen das auf den „Einfluss des Golfs“ zurück: Muslime aus Kerala, die zum Arbeiten nach Saudi-Arabien, in die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Katar, Kuwait oder Oman gegangen sind, seien dort unter den Einfluss salafistischer oder wahhabitischer Prediger geraten. Nach ihrer Rückkehr hätten sie ihre Frauen gezwungen, sich komplett zu verschleiern. Auch hinter den vielen neuen Moscheen und den konfessionellen Schuleinrichtungen soll „Geld vom Golf“ stecken.

Arbeitsmigration in die Golfregion

Die massive Arbeitsmigration in Richtung Arabische Halbinsel hat in den letzten 50 Jahren für einen radikalen gesellschaftlichen Wandel gesorgt. „Nachdem auf der Arabischen Halbinsel Erdöl entdeckt wurde, gehörten die Muslime aus Kerala in den 1960er Jahren zu den Ersten, die dem Ruf der Golfstaaten nach Arbeitskräften gefolgt sind“, erklärt Akhil Changayil, der zu dem Thema promoviert hat. Heute hat das Phänomen solche Ausmaße angenommen, dass man kaum eine Familie trifft, aus der niemand in einem Golfstaat arbeitet oder gearbeitet hat.

In den Golfstaaten machen die fast ausschließlich männlichen Arbeiter aus Kerala 50 Prozent der indischen Arbeitsmigranten aus (obwohl in Kerala nur 3 Prozent der indischen Bevölkerung leben). Im Durchschnitt bleiben sie acht Jahre. Mit ihren Rücküberweisungen tragen sie 20 Prozent zum regionalen Bruttoinlandsprodukt bei. Durch die Arbeit am Golf konnte sich ein Teil der Bevölkerung aus der Armut be­freien, vor allem Muslime; aber auch Hindus und Christen zieht es ins Ausland, wenn auch in geringerem Ausmaß. Davon zeugen die vielen großzügigen Häuser, die überall im Bundesstaat gebaut werden. Changayil schätzt, dass „jeder vierte Haushalt von Geld aus den Golfstaaten lebt“.

Die BJP, die in jedem Muslim einen potenziellen Terroristen sieht, behauptet gern, die Arbeitsmigranten würden am Golf einer Gehirnwäsche unterzogen. Einer ernsthaften Überprüfung der Lebensbedingung dieser Arbeitskräfte hält diese Behauptung aber schwerlich stand. Tatsächlich haben sie dort kaum Kontakt mit der lokalen Bevölkerung. Sie leben abgeschottet in eigenen Stadtvierteln, in den Moscheen, die von Emiratis besucht werden, wird auf Arabisch gebetet, das sie nicht verstehen. Und in den sogenannten Labor Camps wie Sonapur (Hindi für „Stadt aus Gold“) in Dubai, wo tausende Migranten unterschiedlicher Nationalitäten (Inder, Pakistaner, Bangladescher) auf engstem Raum leben, sind es pakistanische Imame, die streng überwacht von den Sicherheitsdiensten das Freitagsgebet auf Urdu sprechen. Viele indische Muslime verstehen Urdu, nicht aber die aus Kerala, die nur ihre lokale Sprache, das Malayalam, sprechen.

„Als die Migranten sahen, wie der Islam in den Golfstaaten gelebt wird, hatten sie das Gefühl, den wahren Islam zu entdecken“, vermutet der Soziologe Visakh. „Sie mussten gar keine Predigten hören oder indoktriniert werden. Allein das, was sie sahen, ließ sie zu diesem strengen Islam konvertieren.“ Und seine Kollegin Kodoth korrigiert das andere Vorurteil: Beim „Geld vom Golf“, das in Moscheen und Schulen fließt, handele es sich „vor allem um Geld aus Kollekten der migrantischen Community aus Kerala“.

Dass immer mehr Moscheen und Privatschulen entstehen, sei dem wachsenden Reichtum dieser Migranten zu verdanken, von denen einige sogar ein ordentliches Vermögen aufgebaut haben. „Einem wohltätigen Verein Geld für Bauten zu spenden, ist typisch für die muslimischen Migranten, das unterscheidet sie von Hindus und Christen.“ Zwar kommt auch Geld von arabischen Förderern, aber das ist begrenzt. Zudem wurden die Gesetze gegen ausländische Finanzierung nach 2008 massiv verschärft, nachdem bei Terroranschlägen in Mumbai 188 Menschen ums Leben gekommen waren. Die Täter, islamistische Extremisten, waren in Pakistan ausgebildet worden.

Die Faszination für die Golfregion zeigt sich in Kerala auch an den neu eröffneten Restaurants und Geschäften, die Arabic Food, Dubai Bazar oder Kowait Optical heißen: Die Soft Power der Erdölstaaten wird hier deutlich. Und 2018, nach den schlimmsten Überschwemmungen seit 100 Jahren, spendeten die Vereinigten Arabischen Emirate 7 Milliarden Rupien (82 Millionen Euro) für den Wiederaufbau.2

Abgesehen von der größeren Sichtbarkeit gibt es aber kaum Anzeichen, die auf eine Radikalisierung der muslimischen Community hindeuten. Auch ein neuer Puritanismus, wie im Maghreb oder in Indonesien, ist nicht zu beobachten. Es gibt keine orthodoxen Regeln, was haram (verboten) und was halal (erlaubt) ist, zum Alkoholkonsum, zur Zahl der täglichen Gebete oder dem Sammeln von Hasanat, den guten Taten, die den Weg ins Paradies erleichtern. „Das Einzige, was auffällt, ist die starke Zunahme von Pilgerfahrten nach Mekka. Ihre Zahl hat sich in den letzten 30 Jahren verfünffacht“, schätzt Ashraf Kadakkal, Dozent für Geschichte am Institut für Westasienstudien der Universität Kerala. „Aber das erklärt sich vor allem dadurch, dass mehr Muslime die finanziellen Mittel dazu haben.“

Die konfessionellen Schulen der Muslime oder Christen – die Hindus haben in diesem Bereich wenig investiert – stellen, so Kadakkal, „60 Prozent der Grund- und Sekundarschulen und 70 Prozent der Hochschulen. Ihre Lehrpläne sind jedoch vom Bildungsrat der Regierung vorgegeben, und alle müssen sich daran halten. Die Abschlussprüfungen werden von den staatlichen Universitäten durchgeführt, und die Diplome stellt die Regierung aus.“ Und natürlich wird auch in den muslimischen Schulen gelehrt, dass der Mensch vom Affen abstammt, versichert N. P. Mohamad, der das Institut für Soziologie an der Universität Calikut in Kozhikode leitet. „Selbst wenn sie Darwins Evolutionstheorie ablehnen, sind die muslimischen Stiftungen verpflichtet, sie in ihren Schulen zu lehren.“ Und auch wenn die Schüler im Religionsunterricht derselben Schule die Schöpfungsgeschichte hören.

Tatsächlich schätzen manche Eltern, die ihre Kinder auf konfessionelle Schulen und Universitäten schicken, das religiöse Lernumfeld, aber das ist nicht das wichtigste Kriterium. In erste Linie wollen sie das in der Ferne verdiente Geld – nachdem das Haus gebaut ist – in die Bildung der nächsten Generation investieren. Den staatlichen Einrichtungen fehlen schlicht die Kapazitäten für den Ansturm der Schülerinnen und Schüler.

Deshalb ist ein privater Bildungsmarkt entstanden, in dem sich muslimische, aber auch christliche Investoren engagieren, die oft Profit und Prestige daraus ziehen wollen. „80 Prozent der Bildungseinrichtungen, die in den letzten 20 Jahren gegründet wurden, sind in religiöser Trägerschaft“, betont Kadakkal. Hinzu kommt laut Soziologe Mohamad, dass „die Privatschulen schon immer einen besseren Ruf hatten als die staatlichen“. Dieses positive Image beruht aber eher auf Mundpropaganda denn auf Realität.

Mohamad, in Kerala als muslimischer Intellektueller bekannt, fürchtet die langfristigen Folgen: „Die neue Generation wächst innerhalb ihrer religiösen Community auf. Sie verlieren die Fähigkeit, sich intellektuell mit anderen Glaubensrichtungen auseinanderzusetzen, das wird dem Pluralismus unserer Gesellschaft beträchtlichen Schaden zufügen.“ Ihn beunruhigt außerdem, dass immer weniger Muslime am Onam teilnehmen, dem großen Erntefest, das in Kerala jedes Jahr Menschen aller Konfessionen zusammenbringt. „Zum ersten Mal gab es einige Prediger, die ihre Gemeindemitglieder aufgefordert haben, nicht daran teilzunehmen, weil es ein Hindu-Fest sei“, beklagt Shashi Tharoor, früher stellvertretender UN-Generalsekretär, der für Kerala im indischen Nationalparlament sitzt. „Es ist allerdings sehr schwer, eine Verbindung zwischen diesem Rückzug ins Religiöse und jeder Art von terroristischer Aktion herzustellen, wie es die BJP tut.“

Zwar ist die Zahl der Einwohner von Kerala, die mit dem Islamischen Staat (IS) in Verbindung standen, höher als die in anderen Bundesstaaten, aber sie bleibt gering: etwa 50 von weniger als 200 im ganzen Land.3 „Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl ist Indien weltweit am wenigsten vom globalen Terrorismus betroffen“, behauptet Kabir Taneja, der für den Thinktank Observer Research Foundation in Neu-Delhi arbeitet. „Und in 95 Prozent der Fälle erfolgte die Radikalisierung über das Internet.“ Die Imame in Kerala gehören allesamt zu islamischen Organisationen, die die dschihadistischen Verbrechen verurteilen.

Ein weiterer Grund zur Sorge ist für manche der wachsende Einfluss der Sozialdemokratischen Partei Indiens (SDPI) auf die muslimische Bevölkerung Keralas. Die winzige Organisation ist der politische Arm der islamistischen Popular Front of India (PFI), die die antimuslimischen Angriffe der BJP mit Militanz beantwortet. SDPI und PFI waren in die Ermordung mehrerer lokaler Führer der Partei verwickelt, zuletzt im Dezember 2021. „Die SDPI hat zwar einen gewissen Erfolg bei den Wahlen der Panchayat, aber auf der Ebene des Regionalparlaments sind ihre Zustimmungswerte minimal“, beruhigt der Soziologe Dayal Paleri. Bei den letzten Wahlen 2021 betrugen sie lediglich 0,4 Prozent.

Die Kommunisten halten sich indes zurück, die neue Nikab- und Parda-Mode zu bewerten. „Wir sind eine Demokratie, jeder, egal welcher Religion, hat das Recht, sich zu kleiden, wie er will.“ Das ist der einzige Kommentar, den wir von M. V. Jayarajan, Generalsekretär des starken Regionalverbands der CPI(M) von Kannur im Norden Keralas, zu hören bekommen. Für ihn gehören auch der Neubau von Moscheen und konfessionellen Schulen zur Demokratie.

V. V. Preetha, die in der Frauenorganisation der Partei, Adwai, engagiert ist, sieht es so: „Für die Frauen in den armen Dörfern, denen wir helfen, geht es nicht darum, ob sie Parda tragen oder nicht, sondern darum, ob sie Zugang zu höherer Bildung und einem Beruf erhalten. Wenn sie einen Nikab tragen müssen, um zu lernen, sehe ich kein Problem darin.“ Manche Frauen sehen im Nikab auch einen Schutz für sich selbst. In­dien zählt weltweit zu den gefährlichsten Ländern für Frauen.4

Für die CPI(M) kommt es jedenfalls nicht infrage, die Muslime gegen sich aufzubringen, auch nicht die streng religiösen. Und natürlich auch nicht Anhänger anderer Glaubensrichtungen, schließlich identifizieren sich 99 Prozent der indischen Bevölkerung mit einer Religion. „Die Muslime sind zwar auch hier strukturell gegenüber Hindus und Christen benachteiligt, aber weniger als im restlichen Indien“, urteilt Ashraf Kadakkal. „Sie haben eine starke Mittelschicht, eigene Medien, man findet sie an der Spitze der größten Unternehmen; und sie beteiligen sich aktiv am politischen Leben.“

Landesweit die höchste Alphabetisierungsquote

Dafür haben sie eine eigene starke Partei, die Indian Union Muslim League (IUML), Koali­tions­partner der Kongresspartei. Die hindunationalistische BJP ist in Kerala praktisch nicht vorhanden. Sie kommt auf etwa 12 Prozent der Stimmen, doch weil ihre Wähler überall verstreut leben, hat sie 2021 den letzten Sitz im Parlament von Kerala verloren. Den Wahlsieg machten Kommunisten und Kongresspartei deshalb wie stets unter sich aus.

„Der Abstand zwischen den beiden Parteien ist sehr gering“, erklärt C. K. Visayan, politischer Journalist bei Mathrubhumi, einer der wichtigsten regionalen Tageszeitungen, „ein paar muslimische Stimmen können die Entscheidung herbeiführen.“ Thomas Isaac, früherer Wirtschaftsminister und Schwergewicht der PCI(M), erzählt, dass die Muslime traditionell zu etwa 30 Prozent die Kommunisten wählen. „Aber bei den letzten Wahlen im April 2021 wuchs der Anteil auf 39 Prozent, was die Muslim League ziemlich wütend gemacht hat.“ Tatsächlich ist der PCI(M) die erste direkt anschließende Wiederwahl vor allem dank dieser muslimischen Stimmen gelungen, aber auch wegen ihres exzellenten Managements der Coronakrise, mit einem frühen Lockdown, der Verteilung kostenloser Lebensmittel und einem effizienten Gesundheitssystem.

Der kommunistische Ministerpräsident von Kerala, Pinarayi Vijayan, nimmt deshalb jede Einladung der großen muslimischen Vereine an, neue Schulen einzuweihen oder bei religiösen Veranstaltungen Grußworte zu sprechen. In der indischen Verfassung bedeutet Säkularismus nicht die Abwesenheit von Religion in den staatlichen Strukturen, sondern die gleichberechtigte Behandlung aller religiösen Praktiken in der Verwaltung wie im öffentlichen Raum.

Aber hat nicht Karl Marx, auf den sich die CPI(M) beruft, geschrieben, dass die Religion das Opium des Volkes sei? „Ja, das hat Karl Marx geschrieben“, entgegnet Generalsekretär Jayarajan auf seinem Sessel im Parteibüro unter dem dreifachen Konterfei von Marx, Engels und Lenin auf unsere Frage. „Aber er verstand es nicht als Droge, sondern als Mittel, um den Schmerz des Proletariats zu lindern.“ Und dann zitiert er auf Malayalam den Satz, der vor dem berühmten Zitat steht: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt.“ In der CPI(M) wie auch sonst in der indischen Gesellschaft ist der Atheismus kein Thema und scheint lediglich einigen besonders hohen Funktionären vorbehalten zu sein.

Aber kann man praktizierender Muslim sein und kommunistisch wählen? „Natürlich!“, versichert A. P. Kunhamer und lacht, so unpassend erscheint ihm die Frage. Der Gewerkschaftsfunktionär im Ruhestand zeigt uns die prächtige Moschee von Kozhikode aus dem 14. Jahrhundert. „Hier“, fährt er fort, „passen Politik und Reli­gion bestens zusammen. Ich selbst bete fünfmal am Tag, ich faste während des Ramadans und beachte alle Vorschriften, aber ich war immer Kommunist!“

Ähnliches hören wir von dem jungen Gast eines Cafés in Ponnani, einem vorwiegend muslimischen Fischerdorf, wo alle Männer in die Moschee gehen und alle Frauen Parda tragen. „Wir sind nicht reich. An manchen Tagen verdienst du 500 Rupien (6 Euro), an anderen 1000. Manchmal nichts. Das hängt vom Fang ab. Hier wählen alle die Kommunisten. Wenn du ein Problem hast, wenn du Stühle für die Hochzeit deiner Schwester oder einen Kredit brauchst, um ein Haus zu bauen, kannst du auf ihre Hilfe zählen.“

Bei großen Parteiveranstaltungen ist es ganz normal, schwarzgekleidete Frauen unter den Teilnehmern zu sehen, die dem Redner applaudieren. Die Kommunisten haben eine breite Basis unter den Ärmsten in Kerala, egal ob Muslime oder Hindus. Der Soziologe Dayal Paleri vermutet, dass „die CPI(M) noch mehr Stimmen von den Muslimen bekommen würde, wenn nicht die Muslim League, die sich auf ein sehr einflussreiches Netz von Notabeln stützt, die Botschaft verbreiten würde, sie seien gegen die Religion“.

Keralas Ministerpräsident Vijayan positionierte sich klar gegen die hinduistische Modi-Regierung, als diese in Assam eine Volkszählung mit dem Ziel durchführte, Muslimen, die angeblich illegal aus Bangladesch eingewandert sein sollten, die indische Staatsbürgerschaft zu entziehen.5 Das hat den Kommunisten noch mehr muslimische Stimmen eingebracht. „Ich habe Vertrauen in die Kommunisten, sie sind wirklich säkular“, versichert eine junge Architektin aus Kozhikode.

Angesichts der Hasstiraden der BJP ist „säkular“ zum Synonym für Verteidiger der Muslime geworden. „Bei den indischen Parlamentswahlen wähle ich aber die Kongresspartei, denn auf na­tio­na­ler Ebene haben die Kommunisten gegen die BJP keine Chance“, ergänzt die Architektin. In der Lok Sabha, der ersten Kammer des indischen Parlaments, haben die CPI(M) und ihre Verbündeten nur 3 Sitze von 20, die Kerala zustehen, die Kongresspartei hat 15 und die Muslim League 2 Sitze.

Womöglich ist es gerade der kommunistischen Regierung zu verdanken, dass die Muslime in Kerala ihre Religion sichtbarer leben können als anderswo. „Seit die BJP in Indien regiert, leben wir mit dem Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, und mit der Drohung, man könnte uns eines Tages ausweisen“, schimpft der pensionierte Gewerkschafter aus Kozhikode.

Die Schriftstellerin Shahina Rafik führt diese Angst „weiter zurück, auf die Zerstörung von ­Babri Masjid“, jener historischen Moschee im Norden Indiens, die 1992 von hinduistischen BJP-Sympathisanten verwüstet wurde, ohne dass die Justiz die Schuldigen je ernsthaft bestraft hätte.6

„Anstatt sich noch kleiner zu machen, wie in anderen indischen Staaten, konnten die Muslime in Kerala sichtbarer werden, weil sie zwischen Kommunisten und Kongresspartei eine echte politische Kraft darstellen“, meint Ashraf Kadakkal. „Und dank des Geldes aus den Golfstaaten verfügen sie über die Mittel, stolz ihren Islam zu ­zeigen.“

Für Hilal Ahmed, Politikwissenschaftler am Centre for the Study of Developing Societies in Neu-Delhi, hat die größere Sichtbarkeit auch mit der hohen Alphabetisierungsrate zu tun, die zweifellos den Kommunisten zu verdanken ist: „Die jungen gebildeten Muslime haben durch das Internet und ihre guten Englischkenntnisse leichter Zugang zum globalen Islam.“ Im Netz wird dieser vor allem von Predigern aus der Golf­re­gion und dem Nahen Osten verbreitet.

Auch wenn diese größere Sichtbarkeit keinesfalls als Form der Radikalisierung interpretiert werden darf, bereitet sie den meisten Intellektuellen dennoch Sorge. Für sie bleibt die communal harmony eines der kostbarsten Güter Keralas. Dieser Begriff, den wir immer wieder hören und der den Frieden zwischen den verschiedenen reli­giö­sen Gruppen bezeichnet, macht für sie den Unterschied zu den anderen Bundesstaaten aus. „In Kerala gibt es keine Gewalt, es werden keine Muslime auf der Straße gelyncht“, stellt der Soziologe Mohamad fest. „Aber auf die antimuslimischen Angriffe der BJP mit noch weniger Säkularismus zu reagieren, ist keine gute Lösung.“

Für den Schriftsteller Anees Salim, dessen Roman „Fünfeinhalb Männer“ gerade ins Deutsche übersetzt wurde,7 ist das Kind schon in den Brunnen gefallen: „Seit 20 Jahren stelle ich mit Traurigkeit fest, dass alle immer religiöser werden. Die Hindus werden hinduistischer, die Muslime muslimischer, die Christen christlicher. Dadurch entstehen zwar noch keine Spannungen, aber jeder zieht sich mehr und mehr in seine Gemeinschaft zurück. Das wird unsere communal harmony am Ende zerstören.“

1 Siehe Naïké Desquesnes, „Die heilige Kuh ist ein politisches Tier“, LMd, März 2016.

2 C. Gouridasan Nair, „UAE offers 700 crore in aid to flood-ravaged Kerala“, The Hindu, Chennai, 21. August 2018.

3 Kabir Taneja und Mohammed Sinan Siyech, „The Islamic State in India’s Kerala: A Primer“, ORF Occasional Paper, Nr. 216, Observer Research Foundation, Delhi, 10/2019.

4 „Factbox: Which are the world‘s 10 most dangerous countries for women?“, Thomson Reuters Foundation, London, 26. Juni 2018.

5 Siehe Pierre Daum, „Wer darf Inder sein in Assam?“, LMd, März 2020.

6 Siehe Wendy Kristianasen, „Indien und seine Muslime“, LMd, Januar 2009.

7 „Fünfeinhalb Männer“, Deutsch von Gerhard Bierwirth, Zürich (Draupadi/Unionsverlag) 2021.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Pierre Daum ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 10.03.2022, von Pierre Daum