10.03.2022

Die Bischöfe der Banlieue

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Die Bischöfe der Banlieue

Orientalische Christen in Frankreich

von Emmanuel Haddad

Monseigneur Vahan Hovhanessian VALÉRIE VREL/picture alliance/dpa
Die Bischöfe der Banlieue
Kirchen in der Diaspora

Bruno Yakan nimmt uns mit auf einen Rundgang durch Sarcelles. Er zeigt uns die vielen Bars-Tabacs, die von Christen mit Wurzeln im Nahen Osten betrieben werden. Dann führt er uns in einen großen Plattenbau. Hier befindet sich der Sitz des Vereins der Chaldo-Assyrer in Frankreich (AACF), dessen Vorsitzender Yakan ist. Noch stehen die Räume leer, da sie erst kurz vor Ausbruch der Coronapandemie angemietet wurden. Yakan hofft auf die baldige Rückkehr zur Normalität, damit die Mitglieder seiner Gemeinde hier zusammenkommen können.

Die Stadt Sarcelles liegt im Dé­parte­ment Val-d’Oise nördlich von Paris und hat fast 60 000 Einwohner, 8000 davon assyrische Christinnen und Christen. Viele Familien stammen von der Hakkari-Hochebene im äußersten Osten der Türkei, andere aus dem Irak oder Syrien. Die ersten kamen 1969, um hier zu arbeiten. Bis zur Eröffnung des Gemeindezentrums in der Altstadt sind fünf Jahrzehnte vergangen; mittlerweile sind es drei Generationen, für die Sarcelles zum Mittelpunkt ihrer Gemeinde geworden ist.

Die ersten Christen, die in die Stadt kamen, waren auf der Flucht vor kurdischen Übergriffen und vor der Unterdrückung durch den türkischen Staat. In Frankreich arbeiteten sie auf dem Bau. „Als Erste kamen drei Männer als Vertragsarbeiter hierher“, erzählt Yakan. „Dann sind die Familien nachgezogen, denn in den acht chaldo-assyrischen Dörfern in der Provinz Hakkari kennt jeder jeden. Statt wie viele andere nach Deutschland oder Schweden auszuwandern, ließen sie sich in Frankreich nieder.“

Dieser Fluss ist nie versiegt. Die Neuankömmlinge der 1970er Jahre verschuldeten sich, um die Schleuser für den Nachzug ihrer Familie zu bezahlen. Dann lebten sie gemeinsam in viel zu engen Wohnungen und mussten hart arbeiten, um ihre Schulden abzubezahlen. Nach den Golfkriegen von 1991 und 2003 kamen irakische Geflüchtete christlichen Glaubens hinzu.

Als die nordirakischen Christen 2014 vor der Invasion des Islamischen Staats aus Mossul und der Ninive-Ebene flohen, gab es in Sarcelles eine starke Solidarität, berichtet Antoni Yalap, der für das Vereinsleben zuständige Stadtrat: „Nachdem der IS Mossul angegriffen hatte, gründeten junge Menschen aus unserer Stadt sofort ein Unterstützungskomitee für Christen aus dem Irak, das CSCI. Wir hielten Sit-ins vor dem Parlament ab und fanden Gehör.“ Bei der Aufnahme der irakischen Christen wurde Sarcelles zum Vorreiter, eine soziale Wohnungsbaugesellschaft stellte hier 50 Wohnungen zur Verfügung.

Die Doktorandin Claire Lefort unterstreicht „die Bedeutung der Diaspora und der internationalen Netzwerke“ für die Migrationsbewegungen und bei der Integration der Geflüchteten in den Aufnahmeländern.1 Ob Chaldo-Assyrer:innen in Sarcelles, Ar­me­nie­r:in­nen in Alfortville und Meudon oder libanesische Ma­ro­nit:in­nen in Issy-les-Moulineaux – die „orientalischen Christen“ (siehe Kasten) beweisen immer wieder Erfindungsreichtum und Improvisationstalent, wenn es darum geht, ihren Glaubensgenossen zu helfen, die gerade im Exil angekommen sind oder noch im Heimatland harren.

Dabei können sie auch auf ein gewisses Wohlwollen der französischen Behörden rechnen – eine Tradition, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht: Während der Phase der guten Beziehungen zwischen dem französischen König Franz I. und dem Osmanischen Reich wurde Frankreich 1535 zur „Schützerin der Christen des Orients“ erklärt. Bis heute würden die Christen aus dem Nahen Osten vor allem als „schützenswerte Minderheit“ wahrgenommen, sagt der Journalist und Autor Tigrane Yégavian.2

Der Experte beobachtet jedoch auch, dass der geopolitische Zickzackkurs Frankreichs und der anderen westlichen Mächte im Nahen Osten „die Leiden derjenigen, die sie eigentlich schützen wollten, vergrößert hat“. Viele Chris­t:in­nen gerieten ins Visier radikaler Islamisten und litten zugleich unter dem Misstrauen ihrer Landsleute. Denn die betrachteten sie gelegentlich als „Fünfte Kolonne“ eines Westens, der seine imperialistischen Ambitionen im Nahen Osten keineswegs aufgegeben hat.

Die Chaldo-Assyrer, die in den 1980er und 1990er Jahren nach Frankreich kamen, erhielten rasch Asyl durch die Französische Behörde zum Schutz von Geflüchteten und Staatenlosen (Ofpra). Nach dem Attentat auf eine Kirche in Bagdad mit über 50 Todesopfern verkündete Einwanderungsminister Éric Besson im November 2010, Frankreich sei bereit, 150 Menschen christlichen Glaubens aus dem Irak aufzunehmen. Diese Geste wurde allgemein gelobt, aber von manchen auch kritisiert. Der Anthropologe Hosham Dawod vom Nationalen Forschungszentrum CNRS forderte die Regierung auf, nicht einzelne „Opfer auszuwählen“, die gesamte Bevölkerung leide unter den Attentaten der Terrorgruppen.3

Isa Yalap wird wütend, wenn man erwähnt, dass die Chaldo-Assyrer von den französischen Behörden bevorzugt würden. Er versichert, dass der Weg für seine Gemeinde alles andere als leicht gewesen sei, bis sie sich integrieren konnte. In seiner Schneiderei am Boulevard Sébastopol in Paris erinnert sich der selbstbewusste Mitfünfziger an all die Jahre, in denen er Tag und Nacht an seiner Nähmaschine saß. Heute besitzt er eine eigene Konfektionsfirma und berichtet stolz, er sei der Erste aus der Gemeinde gewesen, der eine aramäische Sängerin – Juliana Jendo – auf seiner Hochzeit singen ließ, zu der 2500 Gäste eingeladen waren.

Wurst aus der Metzgerei Ararat

„Ich habe eine junge Verwandte nach Frankreich geholt, deren Vater und Bruder einen Monat nach dem Fall Mossuls ums Leben gekommen waren“, erzählt Yalap. „Wir haben ihr eine kleine Wohnung besorgt, und meine Brüder und ich unterstützen sie finanziell.“ Er streicht seine weißen Haare nach hinten und versichert, er selbst habe sich immer allein durchschlagen müssen. Wenn man ihm von den französischen Hilfsorganisationen für orien­ta­lische Christen erzählt, zuckt er nur mit den Schultern: „Ach was. Die machen nichts für uns.“

Das vormalige Vereinslokal der AACF in Sarcelles beherbergt inzwischen die Redaktionsräume der Zeitschrift Ninway, die sich der chaldo-assyrischen Kultur widmet. Dort treffen wir Stadtrat Antoni Yalap von der So­zia­lis­ti­schen Partei (PS), der auch als Koordinator des Unterstützungskomitees CSCI tätig ist. „Wir standen in Kontakt mit dem französischen Hilfswerk ­Œuvre d’Orient, aber letztlich arbeiten sie für sich und wir für uns, mit unseren eigenen Kontakten.“ Mit dem politisch rechts orientierten Verein SOS Chré­tiens d’Orient, gegen den die französische Justiz mittlerweile wegen Beteiligung an Kriegsverbrechen ermittelt, habe man hingegen nichts zu tun, erzählt Antoni Yalap. „Von denen haben wir uns von Anfang an distanziert, als sie versucht haben, den Erfolg unseres Unterstützungskomitees für sich zu verbuchen.“

Die chaldo-assyrische Gemeinde in Sarcelles verfügt über gute Kontakte ins Rathaus. Es handle sich um eine „Win-win-Beziehung“, sagt Antoni Yalap. François Pupponi von der PS, der von 1997 bis 2017 als Bürgermeister amtierte, ließ 2006 die weltweit erste Stele zur Erinnerung an den Völkermord an den Chaldo-Assyrern aufstellen, den sogenannten Sayfo, der zwischen 1914 und 1920 von den Truppen des Osmanischen Reichs begangen wurde.

Die Gemeinde Alfortville im Süden von Paris erzählt eine weitere Exilgeschichte – die der armenischen Christen. In dieser Arbeiterstadt waren es nicht drei, sondern vier Männer, die nach ihrer Flucht vor dem Genozid 1915 Arbeit in der Papierfabrik Papeteries de France und in der Stahlindustrie fanden. „In der armenischen Kirche in der Rue Goujon in Paris haben sie erfahren, dass man in Alfortville Personal suchte, da sind sie dann hingegangen“, erzählt Sévan Ananian, der ein Buch zum Thema geschrieben hat.4

Die armenisch-apostolische Kathedrale in der Rue Jean Goujon liegt im schicken 8. Arrondissement. Dort residiert Erzbischof Vahan Hovhanessian. Für ihn stehen die Ar­me­nie­r:in­nen „synonym für Diaspora“. Er empört sich über NGOs wie SOS Chrétiens d’Orient, die sich vor allem zum Ziel gesetzt hätten, „den orientalischen Christen zu helfen, zu Hause im Nahen Osten zu bleiben“. Es sei einfach, im Namen anderer Leute zu sprechen, sagt Hovhanessian. „Aber wenn Islamisten oder andere dich direkt ins Visier nehmen, was machst du dann?“

In der armenischen Community sei man stolz auf die Vergangenheit, sagt der Bischof, „aber das heißt nicht, dass wir unsere Zukunft vernachlässigen sollten“. Und wie geht das? „Wo auch immer sie hingehen, bauen die Armenier zuerst eine Kirche und dann eine Schule.“

Zur armenischen Gemeinde in Alfortville gehört neben einer apostolischen und zwei evangelischen Kirchen seit 1978 auch eine Schule. Für Ananian ist diese Vorstadt der Inbegriff von „zu Hause“. Die einzelnen Viertel haben seine Landsleute nach armenischen Dörfern benannt, und in der Metzgerei Ararat kann man Sucuk kaufen. „In allen armenischen Gemeinden gibt es eine starke emotionale Bindung an die Stadt, in der sich die Vorfahren wieder verwurzelt haben“, erklärt er.

Arax Der Kévorkian, Leiterin des armenischen Kulturhauses (MCA) in Alfortville, betont: „Wir sind uns unserer Pflichten und Rechte als Französinnen und Franzosen bewusst. Aber wir haben auch die Pflicht, unsere armenische Kultur zu bewahren, im Gedenken unserer Vorfahren, die den Genozid überlebt haben.“

Pascal Gollnisch, Vorsitzender des Hilfswerks Œuvre d’Orient und seit 2014 Generalvikar des Ordinariats für die orientalischen Katholiken in Frankreich, teilt diese Ansicht nur bedingt: „Eine Diaspora ohne Heimatland ist geschwächt, und umgekehrt. Sie müssen sich gegenseitig ergänzen.“ Und der Historiker Bernard Heyberger meint: „Von einer Diaspora zu sprechen, ist falsch. Es gibt mehrere, mit unterschiedlichen Geschichten und ideologischen Bezügen.“ Manchen falle es leichter, anderen schwerer, die Ursprungskultur am Leben zu erhalten.

Obwohl in der Schule von Alfortville Armenisch gelehrt wird und im MCA Veranstaltungen auf Armenisch stattfinden, gibt auch Der Kévorkian zu: „Es ist eine sehr schwierige Aufgabe, wenn die Kultur nicht im Alltag verankert ist.“

Stéphane Yalap wurde in dem über tausend Jahre alten Dorf Ischy in Anatolien geboren und kam mit elf Jahren nach Frankreich. Er ist Koordinator der Vereinigung der Chaldo-Assyrer in Frankreich (UACF), die wie die AACF ebenfalls in Sarcelles beheimatet ist. Er kennt das Problem: „Ich versuche, meinen Kindern Aramäisch beizubringen, aber das ist kompliziert. Unser Verein bietet zwar Sprachkurse an, aber junge Leute mit einem vollen Terminplan haben nicht immer Zeit, daran teilzunehmen.“

Könnten da nicht regelmäßige Aufenthalte im Heimatland helfen? Bei dieser Frage sind viele kategorisch: Für sie kommt eine Rückkehr in die Türkei, wo ihre Glaubensgenossen weiterhin verfolgt werden, nicht infrage. Zudem betonen alle die Integrationsbereitschaft ihrer Gemeindemitglieder, vor allem der Frauen, die zu Hause deshalb häufig lieber Französisch als Aramäisch sprechen.

Diese Integration verhindert jedoch nicht, dass die Menschen unter sich bleiben und Hochzeiten vor allem innerhalb der Gemeinde stattfinden. Gollnisch warnt vor einer solchen Endogamie: „Das ist eine Form des Selbstschutzes, aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu einer Art Reservat werden.“

Isa Yalap in seiner Schneiderei am Boulevard Sébastopol wiegelt ab. In der Tat würden 90 Prozent der Ehen unter Gemeindemitgliedern geschlossen, aber immerhin sei die Praxis der Zwangsheiraten abgeschafft, ein bedeutender Fortschritt. Es sei schon ein bisschen verzwickt, meint Yalap: Gerade die für die Gemeinde so wichtige Kirche sei auch für die Abschottung verantwortlich. Denn meist würden sich die künftigen Brautleute genau dort kennenlernen.

1 Siehe Claire Lefort, „Derrière le paravent des ‚minorités religieuses‘ au Moyen-Orient: exemples irakiens“, in: Jérôme Bocquet (Hg.), „La France et les ‚chrétiens d’Orient‘. Écrire une histoire dépassionnée“, Les Cahiers d’EMAM, Nr. 32, Études sur le monde arabe et la Méditerranée, Université de Tours, 2020.

2 Vgl. Tigrane Yégavian, „Minorités d’Orient. Les oubliés de l’Histoire“, Monaco (Éditions du Rocher) 2019.

3 „Chrétiens d’Irak: ne choisissons pas nos vic­times!“, Le Monde, 9. November 2010.

4 Sévan Ananian, „Alfortville et les Arméniens. L’inté­gration réciproque, 1920–1947“, Bois-Colombes (Éditions A. Val-Arno) 1999.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Emmanuel Haddad ist Journalist.

Kirchen in der Diaspora

Der Ausdruck „Christen des Orients“ umfasst verschiedene katholische Kirchen des Ostens: die koptisch-katholische, chaldäisch-katholische, syro-malabarische, die melkitische und die rumänische griechisch-katholische sowie die griechisch-katholische Kirche, die Katholiken des byzantinischen Ritus in Russland, die katholischen Kirchen in Äthiopien und Eritrea und nicht zu vergessen die syrisch-maronitischen und ukrainischen Gläubigen. Unter die „Christen des Orients“ fallen aber auch orthodoxe Kirchen, wie die armenische apostolische, die griechisch-orthodoxe und die koptisch-orthodoxe Kirche.

Nach Angaben der Zeitschrift Cahiers d‘Orient lebten 2008 – also vor Ausbruch des Arabischen Frühlings 2011 – laut Schätzungen zwischen 6 und 7 Millionen Christen im Nahen Osten (davon 4 bis 6 Millionen Kopten in Ägypten). Das entspricht etwa 4 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Viele Ostkirchen sind im Ausland zudem weitaus stärker vertreten als in ihrer Heimatregion. Nach Angaben von Cahiers d’Orient leben fast 60 Prozent der Mitglieder der maronitischen Kirche in der Diaspora. Bei der syrisch-orthodoxen und der griechisch-katholischen Kirche sind es jeweils 50 Prozent, und 35 Prozent bei der griechisch-orthodoxen und syrisch-katholischen Kirche. Die assyrische Kirche, die vor 2012 im Irak und in Syrien etwa 100 000 Gläubige zählte, hat heute über 150 000 Mitglieder in Europa, Australien und den USA. Ähnlich verhält es sich mit der armenischen Kirche, die 485 000 Gläubige im Mittleren Osten (außerhalb von Armenien) und über 1,2 Millionen im Westen zählt.

Le Monde diplomatique vom 10.03.2022, von Emmanuel Haddad