10.03.2022

Papa, was hast du in Algerien gemacht?

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Papa, was hast du in Algerien gemacht?

Vor 60 Jahren, am 18. März 1962, wurden die Verträge von Évian unterzeichnet. Damit erlangte Algerien nach acht Jahren Kampf seine Unabhängigkeit. In der französischen Gesellschaft wurde der Krieg jahrzehntelang tabuisiert.

von Adam Shatz

Souvenirfoto aus dem Algerienkrieg (1954–1962): französische Soldaten und einheimische Harkis FM-GACMT/akg images
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Als Jacques Carbonnel 1956 nach Algerien ging, um seinen Wehrdienst abzuleisten, bat ihn seine Frau Jeanne, ihr nichts zu verheimlichen. „Du willst, dass ich dir alles erzähle“, schrieb er kurz nach seiner Ankunft in Algerien. „Es ist hässlich hier, und du bist zu schön. Wir nehmen Verdächtige fest, einige lassen wir laufen, einige töten wir – das sind die toten Flüchtigen, die in der Zeitung stehen, aber sie waren nicht wirklich auf der Flucht. Manche stoßen wir aus dem Hubschrauber, über ihren Dörfern. Kriminell, unentschuldbar.“

Drei Tage später schildert Carbonnel nach einem zweitägigen Einsatz die Methode, mit der die Armee mutmaßliche Aufständische zum Reden bringt: „Wir lassen sie mit Wasser volllaufen. Wir stecken ihnen einen Schlauch in den Mund, in den Anus, und dann drehen wir den Hahn auf.“

Jacques Carbonnel war einer von 1,5 Millionen appelés, so hießen die Wehrpflichtigen, die in Algerien einen nationalen Aufstand niederwerfen sollten: eine ganze Generation junger Männer, alle Anfang zwanzig. Doch sie führte keinen Krieg, jedenfalls nicht offiziell. Algerien wurde 1830 von Frankreich erobert und seit 1848 als inte­gra­ler Teil Frankreichs verwaltet. Das Land wurde in drei Départements aufgeteilt, in denen mehr als eine Million europäischer Siedler als französische Bürgerinnen und Bürger lebten. Sie fühlten sich in Algerien chez eux (zu Hause). Im Volksmund hieß es, das Mittelmeer trenne Algerien und Frankreich genau so wie in Paris die Seine das rechte und das linke Ufer.

Als die Aufständischen der Front de Libération National (FLN) im November 1954 ihren Kampf für die Unabhängigkeit Algeriens begannen, nannte man sie in Frankreich hors-la-loi, also Banditen. Als das Land 1962 unabhängig wurde, waren hunderttausende Algerier und etwa 24 000 französische Soldaten tot. Nach 132 Jahren kolonialer Unterwerfung war Algerien befreit und Frankreich seine wertvollste imperiale Besitzung los.

Doch im „Mutterland“ weigerte man sich weiterhin, das Wort Krieg in den Mund zu nehmen, stattdessen sprach man von les événements („den Ereignissen“), die man als „Operation zur Aufrechterhaltung der Ordnung“ bezeichnete. Bis 1999 hat der französische Staat nicht offiziell anerkannt, dass er in Algerien einen Krieg geführt hat. Und es dauerte weitere 20 Jahre, bis er den systematischen Einsatz von Folter zugab.

Zwar bekannte sich Präsident Emmanuel Macron 2018 zur Verantwortung Frankreichs für den Mord an dem französischen Mathematiker Maurice Audin, der als Kommunist für die algerische Unabhängigkeit kämpfte und seit 1957 als „verschwunden“ galt. Und im März 2021 gab Macron zu, dass der FLN-Führer Ali Boumendjel von der französische Armee ermordet wurde. Zum Schicksal von Larbi Ben M’hidi, einem weiteren FLN-Führer, dessen Tod in französischem Gewahrsam als „Selbstmord“ deklariert wurde, schweigt Macron jedoch bis heute.

Wer Zugang zu den Kriegsarchiven in Frankreich bekommen will, muss auch heute noch eine Menge bürokratischer Hindernisse überwinden. Und während an die Deportation französischer Juden unter dem Vichy-Regime immer öfter erinnert wurde, war beim Thema Algerien lange Zeit Leugnung, Geheimhaltung und Verschleierung die Regel – als würden sich das Erinnern der Schoah und das Vergessen Algeriens gegenseitig bedingen.

Wenn inzwischen die Mauer des Leugnens bröckelt, so liegt das maßgeblich an der Arbeit von Wis­sen­schaft­le­r:in­nen wie Raphaëlle ­Branche. Ihre 2001 publizierte Dissertation „La Torture et l’armée pendant la guerre d’Algérie“ (Folter und die Armee während des Algerienkriegs) stützte sich zum Teil auf Interviews mit damaligen Wehrpflichtigen. Branche gehört zu einer Generation von Historiker:innen, die ans Licht gebracht hat, mit welcher Brutalität Frankreich den algerischen Aufstand für die Unabhängig bekämpfte. Viele dieser Forschungsarbeiten stammen von Frauen, die meisten von ihnen sind mindestens ein Jahrzehnt nach Kriegsende geboren. Sie haben die zeitgenössischen Berichte1 über Folter und Mordtaten, die bereits damals von Aktivisten der Antikriegsbewegung erstellt wurden, bestätigt und weiter ergänzt.

Das jüngste Buch von Raphaëlle Branche, das 2020 erschien, trägt den Titel „Papa, qu’as tu fait en Algérie?“ (Papa, was hast du in Algerien gemacht?). Darin geht es weniger um das offizielle Leugnen, sondern um das Schweigen, das während und nach dem Krieg zwischen den Soldaten und ihren Familien herrschte. Für ihr Buch hat Branche mit 39 Familien gesprochen, die sie teils schon für ihr erstes Buch interviewt hatte oder über Veteranenvereine ausfindig machte.

Die inzwischen alt gewordenen Appelés schilderten ihre Erlebnisse und füllten ausführliche Fragebögen aus. Sie ließen Branche die Briefe lesen, die sie aus Algerien an ihre Ehefrauen, Freundinnen, Eltern oder Geschwister geschrieben hatten, oder auch ihre Tagebuchaufzeichnungen, die meist viel expliziter waren. Die Historikerin wollte vor allem herausfinden, wie nach der Niederlage Frankreichs in den Familien der heimgekehrten Soldaten über den Krieg gesprochen wurde – oder besser: nicht gesprochen wurde. Algerien war immer gegenwärtig, erzählte ihr der Sohn eines Kriegsheimkehrers, aber als ein „Nichtereignis, das durch die Stille, die es umgab, nur zur erahnen war“.

Das Schweigen begleitet jeden Krieg, und die Appelés waren ans Schweigen längst gewöhnt, bevor man sie nach Algerien schickte. Sie waren in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren geboren und im Schatten der ökonomischen Krise, zweier Weltkriege und der deutschen Besatzung aufgewachsen. Ihre Väter und Großväter hatten in den Schützengräben oder in der Résistance gekämpft. Obwohl die häusliche Prügelstrafe seit 1928 verboten war, war sie in den meisten Familien noch üblich. Die große Mehrheit der Rekruten war früh von der Schule abgegangen, häufig um in der väterlichen Werkstatt zu arbeiten. Neun von zehn Kindern waren getauft, etwa ein Viertel der Bevölkerung waren praktizierende Katholiken.

Versteckte Andenken auf dem Dachboden

Viele Appelés mussten gar nicht in den Militärdienst „gepresst“ werden. Manchmal sagte man den Rekruten, „nach Algerien zu gehen ist nicht gefährlicher, als von Paris nach Nizza zu fahren“ (damals starben in Frankreich jedes Jahr etwa 10 000 Menschen bei Verkehrsunfällen). Bei dem Wort Krieg dachte man an die Schlacht um Verdun, in der 1916 mehr als 160 000 Franzosen gefallen waren; und Algerien war nicht Verdun. Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen gab es nicht. Selbst die Kommunisten verurteilten junge Männer, die sich weigerten, nach Algerien zu gehen. 1956 stimmte die PCF im Parlament für Sondervollmachten der Regierung zur Niederschlagung des Aufstands.

Die Schiffe nach Algier liefen in Marseille aus. Algerien war zwar offiziell ein Teil Frankreichs, doch für die meisten Appelés war es der erste Aufenthalt in Übersee. Verzaubert von der Landschaft, dem blaugrünen Himmel, der spektakulären Bucht von Algier, schickten sie Postkarten mit Abbildungen orientalistischer Motive aus dem 19. Jahrhundert nach Hause.

Als sie im Hinterland ankamen, wo die FLN-Partisanen ihre Basis hatten, staunten sie, wie französisch alles aussah. Ein Soldat schrieb nach Hause: „Wenn man von den vielen Störchen und den Muslimen absieht, könnte man meinen, man sei auf einem Bauernhof in der Normandie.“ Andere waren schockiert, weil die einheimische Bevölkerung bettelarm war und es in den Häusern, die sie durchsuchten, kein elektrisches Licht gab. Die gepriesene „zivilisatorische Mission“ Frankreichs, schrieb ein Appelé, „ist nur eine Fassade, eine Filmkulisse“.

Die Algerier, denen sie begegneten, errichteten ihre eigene Fassade, hinter die nur wenige französische Soldaten blicken konnten. Einer der von Branche Interviewten verliebte sich in die Witwe eines FLN-Kämpfers, von dem sie ein Kind hatte. Er bat sie in einem Brief, ihn zu heiraten, aber als sie ihm zurückschrieb, war er schon wieder in Frankreich.

Derart enge Beziehungen waren ungewöhnlich. Zwar kämpften auf französischer Seite häufig algerische Hilfstruppen, die sogenannten harkis, von denen nach dem Krieg viele von der FLN ermordet wurden.2 Aber die Kontakte der Appelés mit der normalen Bevölkerung waren vorwiegend geschäftsmäßig und pragmatisch, von Misstrauen und Angst belastet – oder durch physische Gewalt geprägt. Für die meisten Soldaten beschränkte sich der Kontakt mit dem algerischem Leben allenfalls auf ein Méchoui-Grillfest in einem besetzten Dorf oder auf das Fotografieren von „Eingeborenen“.

Bei ihren Razzien nahmen viele Soldaten „Souvenirs“ mit und redeten sich ein, dass es sich dabei keinesfalls um Diebesgut handelte. Ein ehemaliger Appelé berichtete der Historikerin Branche, sein wertvollstes Souvenir sei eine mit dem Emblem der FLN bestickte Haube. Laut Branche waren die meisten dieser Objekte in den Wohnungen der ehemaligen Appelés sorgsam versteckt und gehörten – wie die Fotos aus Algerien – zu jenem „geheimen Leben“, in das andere Familienmitglieder keinen oder nur selten Einblick hatten.

Die Korrespondenz der Soldaten unterlag der Militärzensur, doch die Selbstzensur verschleierte die Realitäten des Kriegs meist noch zuverlässiger. Die meisten Appelés wollten ihren Eltern oder ihren Geliebten vor allem mitteilen, dass sie nicht in Gefahr waren. Michel Berthelémy schrieb alle zwei Wochen einen Brief nach Hause, nie erwähnte er darin den Tag, an dem seine „Welt zusammenbrach“. An diesem Tag hatte er von seinem Balkon aus einen Schuss abgegeben – „aus Angst“ – und dabei einen Jugendlichen getötet. Und der 27-jährige Arzt Jacques Senesse verschwieg seiner Frau, dass auf der Straße, die er jeden Tag entlangging, einem französischen Siedler die Kehle durchgeschnitten worden war.

Der Anblick aufgeschlitzter Kehlen, von den französischen Soldaten als „kabylisches Lächeln“ bezeichnet, schürte bei vielen von ihnen die Angst, den Aufständischen in die Hände zu fallen. „Das ist nicht mal ein Krieg, es ist ein Albtraum“, schrieb einer in sein Tagebuch. Einige Appelés dokumentierten in ihren Briefen und Aufzeichnungen, welchen Anteil die französische Armee an diesem Albtraum hatte. Marcel Yanelli, ein junger Kommunist, schilderte seine Versuche, andere Soldaten dazu anzuhalten, das Kriegsvölkerrecht zu respektieren. Schon nach einem Monat in Algerien fragte er sich voller „Scham und Verzweiflung“, wie viele Folterungen, Plünderungen und Tote er wohl noch erleben müsse.

In einem Brief an seinen Vater schilderte Michel Louvet das systematische Abbrennen von Wäldern oder die gängige Praxis, einem Festgenommenen zu versichern, dass er gehen könne, um ihn dann von hinten, „auf der Flucht“, zu erschießen. Er schilderte auch die Foltermethode „le téléphone“: Stromstöße von 220 Volt, mit einem Pol an den Genitalien und dem anderen an der Innenseite der Wange. Das sei es, was der Begriff „Pazifizierung“ in Wahrheit bedeute, schrieb Louvet.

Wehrpflichtige wie Yanelli waren nicht nur darüber entsetzt, was ihre Kameraden in Alge­rien machten, sondern auch über das, was Algerien mit den Soldaten machte. „Sie sind keine Menschen mehr“, schrieb der Sozialist Jacques Inrep an seinen Bruder. „Sie sind Bestien, die nur Töten und Vergewaltigen im Kopf haben.“

Viele zogen den Vergleich mit dem Nazisystem und speziell mit dem Massaker von Oradour-sur-Glane. Dort hatten die Deutschen am 10. Juni 1944 nahezu alle Bewohner des Dorfs umgebracht, um die Tötung eines ihrer Offiziere zu „vergelten“. „Wie viele Oradours in Algerien?“, fragte ein Soldat. Die Methoden seien dieselben wie die der Gestapo, „nur dass die Polizei sich hier mit den zur Verfügung stehenden Mitteln behilft: ein Dynamo, der Strom erzeugt, Füße, Fäuste, Salz“.

In Algerien wurden mehr als 2 Millionen Menschen – fast die Hälfte der ländlichen Bevölkerung – zwangsevakuiert und in Umsiedlungslager (camps de regroupement) gesteckt. Ihre Dörfer wurden zu „verbotenen Zonen“ erklärt, wer zurückblieb, wurde den Aufständischen zugerechnet und konnte erschossen werden. Die französischen Soldaten vergewaltigen Frauen, vernichteten die Ernte, töteten das Vieh.

Raphaëlle Branche hat haarsträubende Berichte über die Zerstörung des ländlichen Algeriens durch die französische Armee zusammengetragen, die lange einer der wenig beachteten Aspekte dieses Kriegs war. Diese systematische „Entwurzelung“ stellt eine der grausamsten Vertreibungen der jüngeren Geschichte dar.3 Angeblich sollte dadurch die Dorfbevölkerung vor der FLN geschützt werden. In Wahrheit war das Ziel ein anderes: die Auflösung der sozialen Ordnung im ländlichen Algerien und die Vernichtung der Aufständischen, die den Bauernfamilien in den Lagern weiter versteckt Unterstützung zukommen ließen.

Die bäuerliche Bevölkerung in Lager zu stecken und ihre Dörfer zu zerstören, damit sie den Aufständischen nicht als Zuflucht dienen konnten – das war Teil der „zivilisatorischen Mission“ Frankreichs, die auch mit der Heimkehr der Soldaten nicht zu Ende war. Eine Regierungsbroschüre, die an die „Soldaten von gestern und Zivilisten von heute“ gerichtet war, erteilte diesen eine propagandistische Aufgabe gegenüber ihren Landsleuten: „… Ihr, die Wissenden, ihr werdet ihnen die Wahrheit sagen.“

Etliche frühere Soldaten kamen dem Pro­pa­gan­da­auftrag nach. Der französische Veteranenverband (Union nationale des combattants) verteidigte in revanchistischer Manier die Idee eines „Algérie française“ und rechtfertigte den Krieg als Kampf zwischen westlicher Zivilisation und islamischem Fanatismus. Andere wiederum nahmen es mit der „Wahrheit“ über den Krieg ernst und engagierten sich in der Antikriegsbewegung. So übergab Marcel Yanelli nach der Rückkehr aus Algerien seine Aufzeichnungen an Freunde in der PCF, die sie in Umlauf brachten. Und Jacques Inrep gründete ein geheimes Netzwerk, um gegen die Organisation Armée Secrète (OAS) zu kämpfen. Diese rechtsradikale Terrorgruppe hatte am 21. April 1961 in Algerien einen Putschversuch unternommen. Nachdem dieser gescheitert war, tötete sie etwa 2000 Zivilisten und verübte mehrere Bombenattentate in Frankreich (siehe den Beitrag auf Seite 14).

1962 zogen die Franzosen aus Algerien ab. Und die Appelés kehrten in ein Land zurück, das nicht mehr das war, das sie verlassen hatten. Die Nouvelle Vague hatte die Kinos erobert und für „die Ereignisse“ jenseits des Mittelmeers interessierte sich fast niemand mehr. Viele Rückkehrer hatten ebenfalls das Bedürfnis, Algerien hinter sich zu lassen; einige vermieden bewusst jeden Kontakt mit anderen Veteranen. Aber das Erlebte zu vergessen war nicht so leicht. Ein Mann beschrieb sich selbst als „Gefangenen“ seiner algerischen Erinnerungen, doch die meisten dieser „Gefangenen“ flüchteten sich ins Vergessen.

Vergessen war jedoch mehr als eine persönliche Entscheidung – es war Staatsräson. Das Waffenstillstandsabkommen zwischen der Regierung in Paris und der provisorischen Regierung Alge­riens enthielt eine Amnestiebestimmung, die alle Handlungen umfasste, „die im Zuge von Opera­tio­nen zur Aufrechterhaltung der Ordnung gegen den algerischen Aufstand stattgefunden hatten“. Das bedeutete nicht nur Straflosigkeit für alle diejenigen, die Kriegsverbrechen begangen – oder befohlen – hatten. Ganz bewusst wurde in diesem Dekret ein weiteres Mal das Wort „Krieg“ vermieden. Das hatte auch zur Folge, dass die Vereinigung der Appelés zwölf Jahre kämpfen musste, bis die in Algerien eingesetzten Soldaten als combattants anerkannt wurden und damit Anspruch auf materielle Unterstützung erwarben.

Da es in Algerien keinen „Krieg“ gegeben hatte, erfolgte die Demobilisierung der Soldaten ganz ohne Pomp und Paraden. Auch die Wahrnehmung der Rückkehrer durch den Rest der Bevölkerung stand im Zeichen des offiziellen Leugnens. Bernard Porrini bekam von einer Nachbarin zu hören, was immer in Algerien passiert sein mochte, sei nichts im Vergleich mit dem, was ihr Mann als Nazihäftling erlebt hatte. Auch Fami­lien­angehörige der Appelés, getäuscht durch deren „harmlose“ Briefe, nahmen an, dass in Algerien nichts Besonderes passiert war. Und diese Gewissheit sollte niemand infrage stellen.

Viele Rückkehrer machten die Erfahrung, dass jeder Versuch, über das Erlebte zu sprechen, abgeblockt wurde. Das Bild des Algerienrückkehrers, das in den 1960er Jahren vorherrschte, war das eines ungebärdigen, mehr oder weniger psychotischen Rabauken, den der Zeichner Jean Cabut in seinen Karikaturen für Charlie Hebdo als Beauf (Spießer, Dumpfbacke) darstellte.

Frantz Fanon, der ab 1953 als Psychiater in Algerien tätig war, beobachtete schon während des Kriegs die Auswirkung der allgegenwärtigen Gewalt auf die Psyche von Männern, Frauen und Kindern, Tätern wie Opfern, Gefolterten und Folterknechten. Ende der 1960er war es dann der Algerienrückkehrer Jacques Inrep, der die Langzeitwirkungen des Kriegs auf die französischen Veteranen erkannte.

Krieg – ein verbotenes Wort

Inrep hatte als Pfleger in einem psychiatrischen Krankenhaus die Beobachtung gemacht, dass viele seiner Patienten Appelés waren. Viele von ihnen neigten zu Gewalt, vor allem gegenüber ihren Ehefrauen. Ein Patient berichtete von Einsätzen im ostalgerischen Aurès-Gebirge, wo er Männer mit Elektroschocks gefoltert und Frauen mit pornografischen Darstellungen drangsaliert hatte.

Solche Erzählungen riefen bei Inrep eigene Erinnerungen wach. Auch er war im Aurès-Gebirge Zeuge von Vergewaltigungen und Folter geworden. Nachdem sein Patient Selbstmord begangen hatte, wandte sich Inrep der klinischen Psychologie zu, weil er die „mentale Destrukturierung“ durch die Erfahrung von „Grenzsituationen“ verstehen wollte. In den 1980er Jahren fand er in dem Psychiater Bernard Sigg einen Verbündeten. Dieser war 1960 desertiert, nachdem er Kriegsveteranen in einem Militärkrankenhaus in Casa­blan­ca behandelt hatte.

Sigg kam damals zu der Überzeugung, dass seine Patienten unter einem akuten Schamgefühl litten, weil sie gegen die Gesetze der Republik verstoßen hatten, in deren Namen sie gekämpft hatten. Dank der psychiatrischen Forschungen von Inrep, Sigg und anderen wurden die psychologischen Folgelasten des Kriegs allgemein und – wenngleich verspätet – vom Staat anerkannt. Erst seit 1992 – 30 Jahre nach dem Waffenstillstand – können ehemalige Soldaten mit kriegsbedingten psychologischen Problemen eine Entschädigung beanspruchen.

Im Jahr 2000 schätzte die Tageszeitung Le Monde, dass 350 000 Algerienveteranen an Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) litten. Die psychologischen Folgen des Kriegs verstärkten die politischen Pathologien des Kolonialismus und insbesondere den „speziellen Rassismus“ gegenüber algerienstämmigen Franzosen. In den 1970er und 1980er Jahren rekrutierte sich die extreme Rechte großenteils aus alten Alge­rien­kämpfern, zu denen auch der frühere Fallschirmjäger und Folterer Jean-Marie Le Pen gehörte. Diese Leute fühlten sich von der Politik betrogen, die den Krieg beendet und dann zugelassen hatte, dass algerische und andere muslimische Mi­gran­t:in­nen nach Frankreich kamen.

Nach 2000 begann die Mauer des Schweigens zu bröckeln. Der pensionierte General Paul Aussaresses berichtete ungeniert über die Ermordung führender FLN-Kader während der Schlacht um Algier, und wie er und andere es angestellt hatten, die Morde wie Selbstmorde aussehen zu lassen.4 Die ehemalige FLN-Kämpferin Loui­sette Ighilariz berichtete in einem Interview mit Le Monde, wie sie gefoltert und vergewaltigt wurde, aber auch von ihrer Suche nach dem französischen Arzt, der sie vor ihren Peinigern gerettet hatte.

Diese Zeitzeugenberichte und Veröffentlichungen wie die von Raphaëlle Branche haben viele ehemalige Soldaten dazu gebracht, ihr Schweigen zu brechen. Es war eine Art von „Coming-out“, meint der Sohn eines Veteranen. Aber es war auch ein Versuch, die eigenen Erlebnisse selbst zu verstehen. Der Appelé Renaud Beaufils hatte sich anfangs geweigert, mit Branche zu sprechen. Dann willigte er ein, weil er Genaueres über ein Feuergefecht wissen wollte, bei dem dutzende seiner Kameraden getötet worden waren. Beaufils selbst wusste nicht mehr, ob er „das wirklich erlebt“ hatte.

Michel Berthélemy gestand Branche, dass er nach den gescheiterten Versuchen, über seine Tat – die Tötung des algerischen Jungen – zu sprechen, die Erinnerung daran weitgehend verdrängt hatte. Sie kam erst wieder zurück, als er einen Traum hatte, in dem er für das Verbrechen vor Gericht gestellt und verurteilt wurde. Berthélemy wurde dann in einer Antikriegsgruppe aktiv und brachte viele ehemalige Soldaten dazu, mit Raphaëlle Branche zu sprechen.

Doch die Geschichte dieses Kriegs endete nicht mit der Soldatengeneration, die verdrängten Traumata übertrugen sich auf ihre Kinder. Selbst in Familien, in denen das Thema Algerien tabu war, gab es verräterische „kleine Hinweise“: alte Fotos, „Andenken“, der Gebrauch arabischer Wörter wie kleb (Hund, Köter), kawa (Kaffee) oder bled (Dorf).

Olivier Feiertag, einer der Interviewten und Sohn eines Appelé, stellte fest, dass sein Vorname von den Olivenbäumen kam, die sein Vater in der Kabylei gesehen hatte. Als er 20 Jahre war, entdeckte er auf dem Dachboden ein Handbuch über Foltermethoden – und damit, wie er selbst sagt, „einen unbekannten Vater“. Erst als sein Vater im Sterben lag, erfuhr er, woher sein zweiter Vorname Bernard kam. So hieß der beste Freund seines Vaters, der als Soldat gefallen war.

Im heutigen Frankreich ist der Algerienkrieg kein Geheimnis mehr. Und die vielen Fami­lien algerischer Herkunft sorgen dafür, dass der Krieg nicht als eine rein französische Geschichte erzählt oder gar unterdrückt werden kann. Diese Familien haben ihre eigenen komplexen Erinnerungen. Viele von ihnen unterstützten die FLN. Aber in Frankreich sind auch Menschen zu Hause, deren Vorfahren aufseiten der Algerischen ­Nationalbewegung (MNA) standen, die von der FLN zerschlagen wurde. Wieder andere kämpften auf französischer Seite und hatten Glück, wenn sie nach dem Krieg in Frankreich Zuflucht ­fanden.

Wie die Familien der Appelés richteten viele algerienstämmige Familien ihre eigenen Strukturen des Schweigens ein. Und teilweise halten sich diese sogar noch hartnäckiger, denn ein aufrichtiges Sprechen über die Kriegsereignisse würde für sie bedeuten, über das Töten von Algeriern durch Algerier zu reden. Das aber würde den von der FLN gepflegten Mythos einer im Widerstand geeinten Nation untergraben. Ähnlich wie beim gaullistischen Mythos, wonach die französische Nation gegen die deutsche Besatzung geeint war.

1 Die bekanntesten dieser Berichte stammen von dem Historiker ­Pierre Vidal-Naquet und dem Journalisten Henri Alleg, der wegen seines anti­kolonialen Engagements selbst gefoltert wurde; siehe Henri Alleg „La Question“ (1958). Pierre Vidal-Naquet publizierte seine Untersuchung über die Folter 1963 zunächst auf Englisch und erst 1972 auf Französisch: „La Torture dans la République“ Paris (Éditions minuit).

2 Siehe Pierre Daum, „Einmal Harkis, immer Harkis“, LMd, Mai 2015.

3 Siehe Pierre Bourdieu und Abdelmalek Sayad, „Le Déracinement. La crise de l’agriculture traditionnelle en Algérie“, Paris (Les Éditions de minuit) 1964.

4 Siehe das Interview mit Le Monde, 2. Mai 2001.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Adam Shatz ist Redakteur bei der London Review of Books in New York.

© 2021 London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.03.2022, von Adam Shatz