10.03.2022

Rechter Terror der Geheimen Armee

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Rechter Terror der Geheimen Armee

Wie die OAS versuchte, Algeriens Unabhängigkeit zu verhindern

von Nedjib Sidi Moussa

Oran, Mai 1962 ap/akg-images
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Am 20. Januar 1961, in der Endphase des Konflikts um die Entkolonialisierung Algeriens, gründeten fanatische Kämpfer für das „Französische Alge­rien“1 in Madrid eine terroristische Vereinigung: die „Organisation de l’armée secrète“ (OAS). Sie verübte zahlreiche Morde und Anschläge, wie am 2. Mai 1962, als im Hafen von Algier mehr als 100 Menschen bei einem Bombenattentat umkamen.

Die Universitätsbibliothek von Algier wurde am 7. Juni durch ein OAS-Kommando niedergebrannt, verlor dabei zwei Drittel ihrer Bestände und konnte erst 1968 wieder eröffnet werden. Insgesamt fielen den Terrorakten des OAS – je nach Quelle – 1600 bis 2400 Menschen zum Opfer.

„In der Stadt herrscht der Terror“, notiert am 14. März 1962 in Ben Aknoun, einem Vorort von Algier, der Lehrer und Schriftsteller Mouloud Feraoun in seinem Tagebuch. „Die Menschen sind trotzdem unterwegs, weil sie ihren Lebensunterhalt verdienen oder Besorgungen machen müssen. Sie gehen hinaus und wissen nicht, ob sie zurückkommen werden.“2 Einen Tag später wurden Feraoun und seine Kollegen umgebracht. Am 20. November 1961 war der Sozialist William Lévy im Arbeiterviertel Bab el-Oued ermordet worden, der Kommunist Lucien Rieth am 12. Februar 1962 in der westalgerischen Küstenstadt Oran.

Während die Terroristen anfangs vor allem in der Kolonie wüteten, verübten sie ab Juni 1961 auch in Frankreich zahlreiche Attentate: 71 Menschen starben, 394 wurden verletzt.3 Unter den Opfern waren Alfred Locussol, ein Kommunist und Pied-noir4 aus Carnot (heute El Abadia), der am 5. Januar 1962 in Alençon einem Attentat zum Opfer fiel; die vierjährige Delphine Renard, die beim Anschlag auf die Pariser Wohnung des Kulturministers An­dré Malraux am 7. Februar 1962 schwer an den Augen verletzt wurde; die 3 Toten und 47 Verletzten einer Autobombe, die vor dem Saal explodierte, in dem am 9. März in Issy-les-Moulineaux ein Kongress der Friedensbewegung stattfinden sollte.

In dieser Atmosphäre extremer Angst, die durch ständige Gerüchte über geplante Anschläge noch geschürt wurde, überwanden Frankreichs Intellektuelle und linke Aktivisten vorübergehend ihre Meinungsverschiedenheiten und erklärten den Kampf gegen die OAS – und im weiteren Sinne gegen den Faschismus – zur obersten Priorität. Im Januar 1962 war in der Nouvelle Critique, einer Zeitung der Kommunistischen Partei Frankreichs, zu lesen: „Das Ziel der Demokraten muss es sein, die Faschisten von einem neuen Putschversuch abzuhalten, ihnen jede Möglichkeit zu nehmen, einen Bürgerkrieg zu entfesseln.“ Dazu müsse man Druck auf die gaullistische Regierung ausüben und den Frieden in Algerien unterstützen.

Die trotzkistische Zeitung La Vérité des travailleurs rief die Arbeiterorganisationen zur Solidarität mit den algerischen Unabhängigkeitskämpfern der FLN (Front de libération nationale) auf: „Im Kampf gegen die OAS muss sich das französische Proletariat mit den brüderlichen Kräften der FLN vereinen, die diese faschistische Organisation entschlossen bekämpft.“

Sechzig Jahre später scheinen die Schrecken der damaligen rechten Gewalt und die folgende Mobilisierung der Linken für die Debatten im Frankreich der Gegenwart keine Rolle mehr zu spielen. Dabei kann eine Betrachtung jener Epoche hilfreich sein, wenn man verstehen will, was Gegner und Anhänger imperialer Nostalgie bei den Polemiken der extremen Rechten im „postalgerischen Frankreich“5 zu ihren Wutausbrüchen treibt.

„Weil Algerien Frankreich ist, muss der Kampf in Paris stattfinden!“6 Mit diesem Motto, aber ohne konkreten Plan, machte sich der 35-jährige Offizier der Fremdenlegion Pierre Sergent am 1. Juni 1961 von Algier nach Marseille auf, um die OAS in Frankreich aufzubauen. Zuvor hatte Präsident de Gaulle auf einer Pressekonferenz am 11. April Algeriens Unabhängigkeit anerkannt. Der „Putsch der Generäle“7 (Maurice Challe, André Zeller, Edmond Jouhaud und Raoul Salan) zehn Tage danach war gescheitert. Jouhaud und Salan tauchten in Algier unter und stellten sich an die Spitze der OAS.

Amnestie für die Verschwörer

Direkt nach seiner Ankunft in Paris kontaktierte Sergent die Anführer der royalistischen Bewegung „Restaura­tion Nationale“ Pierre Juhel und Louis-­Olivier Roux, die ihn logistisch unterstützten. Sergent strukturierte die „OAS Métropole“ in drei Abteilungen: Organisation der Massen (OM), Psychologische Aktion und Propaganda (APP) und Organisation Geheimdienst Operation (ORO).

Im Oktober 1961 unterzeichneten um die hundert OAS-Sympathisanten das „Manifest französischer Intellektueller für den Widerstand gegen den Rückzug“. Zu den Unterzeichnern gehörte auch der militante rechte Verleger Roland Laudenbach, den Sergent im Sommer 1961 zum Chef der APP ernannte.

Die OAS-Métropole versuchte ihre Basis zu erweitern, indem sie Verbindungen zu den Poujadisten im Südwesten Frankreichs aufbaute. Die Poujadisten waren eine von dem Ladenbesitzer und Steuerverweigerer Pierre Poujade (1920–2003) gegründete Bewegung, die zwischen 1953 und 1962 unter dem Parteinamen Union de défense des commerçants et arti­sans (UDCA) antrat. Auf ihrer Kandidatenliste stand auch Jean-Marie Le Pen, der spätere Führer des Front National (FN) und Vater von Marine Le Pen, der 1956 als jüngster Abgeordneter in die französische Nationalversammlung einzog.

Im Departement Hérault gelang es der OAS sogar, ehemalige Résistance-Kämpfer und Studierende zu rekrutieren. Doch letztlich scheiterte die Organisation mit ihrem Vorhaben, alle Netzwerke der Anhänger des „Französischen Algerien“ in der Provinz zu kontrollieren. Dazu kamen auch persönliche Differenzen. So vergab General Salan verschiedene Posten und fuhr damit Sergent in die Parade: Als der OAS-Stabschef Regard am 16. November 1961 in Paris ein Treffen organisierte, versammelten sich tausende Menschen vor dem Gebäude in der Rue Saint-Victor 24 und skandierten Salans Namen.

Und André Canal, genannt „Le Monocle“, den Salan im Dezember 1961 nach Frankreich schickte, stritt sich mit Sergent über die Methoden. Während dieser für gezielte Aktionen war, wollte Canal, der von den Überbleibseln der 1958 verbotenen rechtsextremen Bewegung Jeune Nation (Junge Nation) unterstützt wurde, nachts und an vielen Orten gleichzeitig zuschlagen, wie am 17. Januar 1962, als in Paris an 18 verschiedenen Orten Plastiksprengstoff explodierte.

Offensichtlich hatte die OAS-Führung weder eine konsistente Strategie noch wirkliche Kenntnis der französischen Gesellschaft, die sich nichts sehnlicher als Frieden wünschte. Während sie gewaltsame und radikale Mittel einsetzte, auch einen Generalstreik plante, begriff sie nicht, wie unbeliebt ihre „Sache“ in Frankreich eigentlich war.

Sie ignorierte die antifaschistischen Demonstrationen in Paris, wie die vom 19. Dezember 1961, die von der Polizei unterdrückt wurde, oder die vom 8. Februar 1962, an der 20 000 Menschen teilnahmen und in deren Verlauf 9 Demonstranten in der Metrostation Charonne durch Polizeigewalt starben – allesamt Mitglieder der Gewerkschaft CGT und (mit einer Ausnahme) Kommunisten.9

Einen Tag nach der Unterzeichnung der Verträge von Evian am 18. März 1962, die den Algerienkrieg beendeten, und dem Inkrafttreten des Waffenstillstands gab der OAS-Hauptmann Curutchet die Losung aus, „alles und jeden anzugreifen, der die Autorität des Staates repräsentiert“. Doch die OAS war stark unter Druck geraten, ihr Netzwerk wurde von den Sicherheitsbehörden verfolgt – in Algerien unterstützt durch die „Barbouze“, militante Gaullisten, die inoffiziell agierten. Schließlich wurden ihre Anführer verhaftet: Edmond Jouhaud am 25. März, Roger Degueldre am 7. April und Raoul Salan am 20. April 1962.

Die Gründung eines Nationalen Widerstandsrats (CNR) durch einige noch nicht verhaftete Kader, darunter Oberst Antoine Argoud, Chef der OAS-Métropole, konnte die Entwicklung nicht aufhalten. Ein geplantes Attentat auf de Gaulle wurde von den Behörden vereitelt.10 Der Exodus der Pieds-noirs aus Algerien beschleunigte sich.

Rechtsextremisten wie der Publizist Dominique Venner plädierten dafür, Lehren aus diesen Niederlagen zu ziehen und eine neue Strategie zu entwickeln. In seiner 1962 verfassten Broschüre „Pour une critique positive“ konstatierte er, dass die OAS unfähig sei, alle Anhänger des Französischen Algerien um sich zu scharen, und dass sie mit „ineffizienten“ Methoden arbeite: „Die Knallfrösche unter den Fenstern der Hausmeister haben nicht einen einzigen Unterstützer für das Französische Algerien gewonnen.“

In der Folge war bei einigen die Versuchung groß, den „algerischen Klotz am Bein“ einfach abzuschütteln. Aber dieses Kapitel der französischen Geschichte konnte nicht einfach beendet werden. Schaut man sich die verschiedenen rechtsextremen Publikationen der frühen 1960er Jahre an, ist die zentrale Bedeutung der Algerienfrage offensichtlich. Sie zeigte sich in der Präsidentschaftskandidatur des Salan-Anwalts Jean-Louis Tixier-Vignancour 1965 (er erhielt 5,2 Prozent der Stimmen) und in den Initiativen für eine Amnestie der OAS-Mitglieder.

Mehrere Gesetze für eine solche Amnestie wurden verabschiedet, zum Beispiel im Juli 1968, nach dem Erdrutschsieg der Rechten infolge der Studentenunruhen vom Mai 68. Argoud und Salan wurden wieder auf freien Fuß gesetzt und Exilanten – wie Sergent – konnten zurückkehren. 1981 wandten sich ehemalige OAS-Mitglieder dem sozialistischen Kandidaten François Mitterrand zu, der zu Beginn des Algerienkriegs Innen- und später Justizminister gewesen war. Salan rief dazu auf, für Mitterand zu stimmen. Bereits 1965 hatten Tixier-Vignancourt und Sergent ihren Anhängern empfohlen, in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen für Mitterrand und gegen de Gaulle zu stimmen.

Im Herbst 1982 setzte Präsident Mitterrand mit seiner Mehrheit in der Nationalversammlung eine Formulierung durch, die darauf abzielte, „die Nachwirkungen des Algerienkriegs zu beseitigen“. Dadurch wurden einige Amnestierte, darunter auch ehemalige Putschisten, komplett rehabilitiert, sodass sie sogar in ihre alten Berufe zurückkehren konnten. Diese umfassende Nachsichtigkeit hat vielleicht ebenfalls dazu beigetragen, dass die rechtsextremen Gewalttaten der OAS heute so wenig bekannt sind.

1 „Algérie française“ ist die Bezeichnung unter der Kolonialherrschaft von 1830 bis 1962.

2 Mouloud Feraoun, „Journal. 1955–1962“, Paris (Éditions du Seuil) 1962

3 Siehe Arnaud Déroulède, „L’OAS. Etude d’une organisation clandestine“, Hélette (Éditions Jean Curutchet)1997.

4 Pied-noirs wurden die Franzosen genannt, die während der Kolonialzeit in Algerien lebten. Die meisten von ihnen verließen nach der Unabhängigkeit 1962 das Land.

5 Siehe Todd Shepard, „The Invention of Decolonization: The Algerian War and the Remaking of France“, Ithaca/London (Cornell University Press) 2006.

6 Olivier Dard, „Voyage au cœur de l’OAS“, Paris (Perrin) 2005.

7 Am 21. April 1961 übernahmen Fallschirmjägereinheiten der französischen Armee die Kontrolle in Algier. Doch die Armee in Frankreich blieb loyal gegenüber de ­Gaulle, der Putschversuch scheiterte nach nur vier Tagen.

8 Besser bekannt unter dem Namen „Manifest der 121“, zu dessen Unterzeichnern auch Jean-Paul Sartre und François Truffaut gehörten. Siehe Jean-Pierre Rioux und Jean-François Sirinelli (Hg.), „La guerre d’Algérie des intellectuels français“, Brüssel (Éditions Complexe) 1991.

9 Siehe Alain Dewerpe, „Charonne 8 février 1962. Anthropologie historique d’un massacre d’État“, Paris (Gallimard) 2006.

10 Das Attentat von Petit-Clamart am 22. August 1962, das de Gaulle unverletzt überlebte, stand nur indirekt in Zusammenhang mit der OAS.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Nedjib Sidi Moussa ist Politikwissenschaftler und Autor von „Algérie, une autre histoire de l’indépendance. Trajectoires révolutionnaires des partisans de Messali Hadj“, Paris (PUF) 2019.

Le Monde diplomatique vom 10.03.2022, von Nedjib Sidi Moussa