Der zynische Sieg des Macronismus
Um die rechtsextreme Marine Le Pen zu verhindern, sahen sich auch viele Linke genötigt, für Amtsinhaber Macron zu stimmen. Die Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni bieten eine neue Chance. Ein linkes Bündnis mit Jean-Luc Mélenchon an der Spitze strebt die Mehrheit in der Nationalversammlung an.
von Serge Halimi
Mit der Wiederwahl von Emmanuel Macron endet ein Duell, das die überwältigende Mehrheit der französischen Wählerschaft gern vermieden hätte. Damit beginnt eine weitere fünfjährige Präsidentschaft, die keinerlei Aufbruchstimmung oder Hoffnung weckt.
Macron wurde ohne Alternative im Amt bestätigt, obwohl 69 Prozent der Französ:innen der Meinung sind, dass die Lage im Land sich in den vergangenen fünf Jahren verschlechtert hat, 51 Prozent Macrons Programm für gefährlich halten und 72 Prozent glauben, dass er vor allem die Interessen der Privilegierten bedient.1
Die Zahlen zeigen: Die Ablehnung der extremen Rechten war der einzige Grund, warum Millionen Linkswähler:innen zähneknirschend für den Präsidenten stimmten, obwohl ihnen eher danach ist, gegen ihn auf die Straße zu gehen. Gelegenheit zum Protest wird es reichlich geben: sinkende Kaufkraft, höheres Renteneintrittsalter, klimapolitische Untätigkeit, harte Maßnahmen gegen Arbeitslose.
Vor fünf Jahren präsentierte das britische Wochenmagazin The Economist in seiner Begeisterung über die Wahl Macrons ein Cover, auf dem der neue Präsident übers Wasser schreitet, mit triumphierendem Grinsen im Gesicht. Damals empfand die globale Bourgeoisie, die der Brexit und der Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus in Panik versetzt hatten, Macrons Sprung auf die internationale Bühne als Gegenschlag: als Zurückweichen des rechtsgerichteten „Populismus“ in Europa vor dem „progressiven“ Liberalismus und der Globalisierung.
Von dieser Illusion ist heute nicht mehr viel übrig. Die öffentliche Debatte dreht sich – jenseits der Gesundheitskrise, der Probleme bei der Energieversorgung und des Ukrainekriegs – zunehmend um Themen wie Souveränität, Kaufkraftverlust, Abwanderung der Industrie und die „ökologische Planung“. Dank dieser Themen konnte die systemkritische Linke – die „gauche de rupture“ – im ersten Wahlgang vom 10. April deutlich zulegen.
Frankreichs extreme Mitte
Aber auch die rechtsextremen Nationalisten, die Macron mit seiner Politik angeblich stoppen wollte, erzielten starke Zugewinne. Im ersten Wahlgang holten die drei rechtsextremen Kandidat:innen zusammen 32,3 Prozent der abgegebenen Stimmen2 und damit mehr als Macron (27,8 Prozent). Bei der Stichwahl zwei Wochen später bekam Marine Le Pen 2,6 Millionen Stimmen mehr, der Titelverteidiger dagegen 2 Millionen Stimmen weniger als vor fünf Jahren.
Dass François Hollandes ehemaliger Wirtschaftsminister die Wiederwahl dennoch geschafft hat, verdankt er dem Wählerpotenzial der Sozialisten – obwohl seine Politik alles andere als sozialistisch war. Komplettiert wurde sein Erfolg durch die Stimmen der gemäßigten Rechten, deren Erwartungen er mit seinen finanz- und sozialpolitischen Entscheidungen präzise bediente. Vor so viel Virtuosität könnte man beinahe den Hut ziehen.
Seit in der Fünften Republik der Präsident direkt vom Volk gewählt wird, kam es in den meisten Stichwahlen zum Duell zwischen einem rechten und einem linken Bewerber. Dieses Szenario wurde am 10. April zunichte gemacht, als die beiden alten Protagonisten in die Bedeutungslosigkeit abstürzten: Les Républicaines (LR) und die Parti Socialiste (PS) kamen zusammen auf nur 6,5 Prozent der Stimmen. 2012 waren es noch 55,81 Prozent gewesen.
So wurde Macron sowohl von der Rechten als auch von der bürgerlichen Linken gekürt, die sich seit François Mitterrands wirtschaftspolitischer Kehrtwende von 1983, dem Maastricht-Vertrag von 1992 und dem europäischen Verfassungsvertrag von 2005 mit einer neoliberalen Politik angefreundet (und begnügt) hatten. Statt das Offensichtliche zuzugeben, präsentiert sich der alte und neue Präsident als Demiurg einer bunt zusammengewürfelten „Ideologie“, die einem einzigen Zweck dient: Sie erlaubt ihm, nach Belieben zu agieren. „Das Projekt der extremen Mitte“, dozierte er kurz vor seiner Wiederwahl vor handverlesenen Journalisten, sei der „Zusammenschluss mehrerer
politischer Familien, von der Sozialdemokratie über die Grünen und die Mitte bis zu einer Rechten, die teils bonapartistisch, teils orléanistisch und teils proeuropäisch ist.“3
Gruppen eines derart weiten politischen Spektrums auf diese Weise zusammenzuspannen, ist weder theoretisch noch historisch haltbar. Aus soziologischer Sicht jedoch bilden diese Kräfte den heutigen „bürgerlichen Block“, die „Partei der Ordnung“, das „Frankreich von oben“. Also die Koalition all jener Leute, die durch die Gelbwestenbewegung in Panik gerieten und entsprechend erleichtert waren, als diese mit harter Hand unterdrückt wurde.
Dieses Publikum feierte Emmanuel Macron bei seiner Pariser Großkundgebung am 2. April mit Ovationen, als er lautstark erklärte: „Allen Krisen zum Trotz haben wir unsere Versprechen gehalten. Um das Übel der Massenarbeitslosigkeit zu beenden, mussten wir beim Steuersystem, beim Arbeitsrecht und in der Arbeitslosenversicherung alte Tabus angreifen.“ Als weitere „Tabus“ vergaß er, das Wohngeld und die Vermögensteuer zu erwähnen.
Angesichts dessen überrascht nicht, dass der Präsident in gutbürgerlichen und konservativen Wahlbezirken wie Neuilly, dem Pariser 16. Arrondissement oder Versailles seine Stimmenzahl von 2017 verdoppeln und die LR-Kandidatin Valérie Pécresse vernichtend besiegen konnte.4 Hier drängt sich eine historische Parallele zum Schicksal der französischen Monarchisten auf: Die hatten nach der Niederschlagung der Arbeiterbewegung im Juni 1830 und der Pariser Kommune 1871 politisch ausgedient, nachdem die Republikaner der Bourgeoisie demonstriert hatten, dass sie mit dem Plebs genauso gnadenlos verfahren konnten.
Kurzum: Mit Macron an der Macht ist die bürgerliche Rechte ebenso überflüssig geworden wie eine sozialistische Partei, die sich schon längst zum Sozialliberalismus und zur kapitalistischen Globalisierung bekennt. Dass jetzt beide zusammen hinweggefegt wurden, kommt einer politischen Flurbereinigung gleich.
Das „Projekt der extremen Mitte“ spricht insbesondere konservative Wählerschichten an, wobei wohlhabende Rentner:innen und leitende Angestellte umso stärker vertreten sind, je mehr Geld sie in der Tasche und je mehr Jahre sie auf dem Buckel haben.5 Das Gewicht dieser Gruppe wird durch ihre außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung verstärkt, die bei den 60- bis 69-Jährigen 88 Prozent betrug.
Umgekehrt geht die Wahlbeteiligung bei der jungen Generation und bei den unteren Schichten, die deutlich größere Sympathien für Jean-Luc Mélenchon oder Marine Le Pen hegen, immer weiter zurück: Am ersten Wahlgang beteiligten sich nur noch 54 Prozent der 25- bis 34-Jährigen; 2017 waren es noch 72 Prozent. Deshalb bemüht sich der Anführer der radikalen Linken, der bei Studierenden in den Metropolen und jungen Proletariern in den Vorstädten sehr populär ist, diese Gruppen für den „dritten Wahlgang“ zu mobilisieren, also für die Wahlen zur Nationalversammlung am 12. und 19. Juni. Das ist ein ehrgeiziges Vorhaben, denn zur Parlamentswahl geht normalerweise nur die Hälfte der Wahlberechtigten – und vor allem die Wohlhabenden und Älteren.
Mélenchon hat allerdings schon etliche Herausforderungen gemeistert. Zum einen holte die radikale, systemkritische Linke am 10. April 21,95 Prozent der abgegebenen Stimmen, während sie im übrigen Europa durch die linke Mitte an den Rand gedrängt wurde (Deutschland, Spanien, Portugal), sich dem Liberalismus gebeugt hat (Griechenland), gar nicht erst existiert (baltische Staaten, Osteuropa) oder vernichtend geschlagen wurde (Italien). Zum anderen brachte Mélenchon den Grünen (4,63 Prozent) und vor allem den auf der Linken lange dominanten Sozialisten (1,74 Prozent) eine demütigende Niederlage bei.
Marginalisierung der etablierten Parteien
Angesichts dessen wurde Jean-Luc Mélenchon von Pablo Iglesias, der seit der Wahlniederlage seiner Podemos-Bewegung als politischer Kommentator auftritt, zur „Referenzgröße der europäischen Linken“ ernannt. Diese Rolle ist dem französischen Parteiführer kaum streitig zu machen. Er selbst erklärt seinen Erfolg so: „Wir sind nie von unseren Grundprinzipien abgewichen. Wir haben uns nicht damit begnügt, gegen die Welt zu sein, in der wir leben. Wir haben eine andere Welt entworfen.“6
Ein gutes Ergebnis im ersten Wahlgang ist jedoch keine Garantie für einen Sieg. Mélenchon erklärte, dass es ihm nicht mehr ums Zuschauen, sondern ums Regieren gehe. Allerdings ist das politische Kräfteverhältnis für die französische Linke nach wie vor extrem ungünstig. Schließlich belegte Mélenchon nur Platz 3 hinter einem rechten Kandidaten und einer rechtsextremen Kandidatin (Emmanuel Macron und Marine Le Pen), gefolgt von einem weiteren Rechtsextremen und einer weiteren rechten Bewerberin (Éric Zemmour und Valérie Pécresse).
Und doch siegt manchmal die Dynamik über die Arithmetik. Mélenchons gutes Ergebnis in der ersten Runde machte seine Wählerinnen und Wähler zum Zünglein an der Waage im zweiten Wahlgang. Deshalb lief seine Kampagne in der Endphase erfolgreicher als am Anfang. „Keines der Themen, die den rechten Wählern am Herzen liegen, stand im Wahlkampf für die zweite Runde im Fokus“, bedauerte das ultrakonservative Le Figaro Magazin.7 Tatsächlich wurden Themen wie Sicherheit, Identität und Islam durch eine Debatte über Kaufkraft, öffentliche Daseinsvorsorge und Renten in den Hintergrund gedrängt. Womit Macron in die Defensive geriet, weil seine Vorhaben in diesen Bereichen unpopulär sind.
Da die Linke ihre eigene Politik umsetzen will – statt Schönheitskorrekturen an der Politik ihrer Gegner vorzunehmen –, führt ihr das Resultat des ersten Wahlgang aber auch vor Augen, wie viel noch zu tun bleibt.
Jean-Luc Mélenchon erzielte ein glänzendes Wahlergebnis in den Überseegebieten: insgesamt doppelt so viele Stimmen wie 2017 und die absolute Mehrheit in Guadeloupe, Martinique und Guyana, was freilich zum Teil an der Abneigung gegen Macron liegt. Ebenso beeindruckend ist das Abschneiden in den armen Vorstadtquartieren, wo viele Französ:innen mit Migrationsgeschichte leben, darunter viele Muslime. Und schließlich schaffte der Kandidat der Linken den Durchbruch bei der vorwiegend jungen und gut ausgebildeten Mittelschicht in Städten, die sozialistisch oder grün regiert werden, darunter Paris, Grenoble, Montpellier und Rennes.
Bei diesen sehr heterogenen Wählergruppen zeigt die engagierte politische Arbeit ihre Wirkung. Mélenchon reiste häufig in die Überseedépartements, wo er bei seinen Kundgebungen auf die sozialen und ökologischen Probleme vor Ort einging. In den Banlieues profitierte La France insoumise (LFI) unfreiwillig von der antimuslimischen Hass- und Drohkampagne Éric Zemmours, die von den Medien, der bürgerlichen Rechten und mehreren von Macrons Ministern aufgegriffen wurde. Sie alle empören sich nun über ein „muslimisches“ oder „kommunitäres Wahlverhalten“. So als wollten sie einer ganzen Bevölkerungsgruppe, die sie zu einer Bedrohung stilisiert haben, auch noch verbieten, für den Kandidaten zu stimmen, der sie gegen solche Attacken verteidigt.
Während die Linke die ehemals roten Vorstädte augenscheinlich zurückerobert hat, sind ähnliche Erfolge in den Kleinstädten, auf dem Land oder in den ehemaligen (und heute deindustrialisierten) Bergbau-, Automobilbau- und Stahlhochburgen im Norden und Osten des Landes nicht zu erkennen. In diesen Regionen hat die extreme Rechte bei den Arbeitern und Angestellten, aber auch bei der Jugend schon vor 20 Jahren den Durchbruch erzielt und sich fest verankert (während ihr Rückhalt bei den leitenden Angestellten, Städter:innen und Rentner:innen stagniert oder abnimmt).
Diese Situation ist kein französisches Spezifikum. Globalisierung und Arbeitsplatzverlagerung (nach China, Nordafrika, Mexiko oder Osteuropa) – häufig gefördert von politischen Kräften, die sich als links ausgeben (US-Demokraten, britische Labour Party, europäische Sozialisten) – haben die Kluft zwischen diesen politischen Kräften und den breiten Wählerschichten stetig vergrößert.8 Lothringen und Pas-de-Calais findet eine Parallele im Bundesland Sachsen, im „Rust Belt“ der USA oder in der „Red Wall“ von Nordengland und Wales.
Doch eine grenzüberschreitende Diskussion über diese Themen findet nicht statt. Linke Aktivist:innen und Führungsfiguren blicken selten über den Tellerrand des eigenen Landes, als hätte man in Frankreich, Deutschland und Italien aus dem Erfolg und anschließenden Scheitern von Jeremy Corbyn und Bernie Sanders nichts lernen können. Dabei beobachten wir überall dieselben gesellschaftlichen Tendenzen, die sich bei Wahlen in Erfolgen der Rechten oder extremen Rechten bei früher stramm linken Bevölkerungsgruppen niederschlagen.
Vorschläge für eine bessere Gesellschaft zu formulieren, ist unverzichtbar, aber das allein reicht nicht aus, um so unterschiedliche Gruppen wie das Bildungsbürgertum, das städtische Proletariat und die Bevölkerung in den städtischen Randzonen oder auf dem flachen Land zu binden oder zurückzugewinnen. Mit der Zeit haben sich bei Themen wie Einwanderung, Religion oder auch Mobilität gegensätzliche politische Identitäten herausgebildet (siehe nebenstehenden Artikel). Das Ergebnis: Nicht nur in Frankreich spaltet eine „Mauer der Werte“ die Gesellschaft.
79 Prozent rechnen mit sozialen Unruhen
Da es an regelmäßigen Kontakten und leistungsfähigen Organisationen fehlt, die eine Verbindung zwischen den auseinanderdriftenden Gruppen herstellen könnten, verfestigen sich die Vorurteile. Die Menschen fühlen sich wegen ihrer Überzeugungen oder ihrer Lebensweise vernachlässigt, verachtet, gedemütigt.
Ein Wahlkampf alle fünf Jahre kann solche Scheinkonflikte, die von den Medien und sozialen Netzwerken pausenlos geschürt werden, nicht dauerhaft auflösen. So forderte der meistgeschaute Fernsehsender TF1 vor dem ersten Wahlgang alle Kandidatinnen und Kandidaten auf, zu drei Themen Stellung zu beziehen: Leihmutterschaft, Kopftuchtragen an Hochschulen, Beschränkung des Jagdrechts. Ein linker Politiker riskiert mit einer Antwort auf diese Fragen, einen Teil seiner potenziellen Anhängerschaft zu brüskieren. Der bürgerliche Block, der homogener ist und stärker durch gemeinsame Klasseninteressen zusammengehalten wird, hat dieses Problem nicht.
Vor 20 Jahren wurde Präsident Jacques Chirac im Duell gegen Jean-Marie Le Pen von 61,1 Prozent der Wahlberechtigten wiedergewählt. Gegen dessen Tochter holte Emmanuel Macron jetzt nur noch 38,5 Prozent. Dieser Absturz betrifft nicht nur die Person Macron; er zeugt vielmehr vom desolaten Zustand des gesamten politischen Systems – und von einem unerträglichen Repräsentationsdefizit.
Die Rechtsextremen stellen in der Nationalversammlung 1 Prozent der Abgeordneten, La France insoumise 3 Prozent; aber fünf der dreizehn Regionen Kontinentalfrankreichs werden von Sozialisten regiert, acht von der bürgerlichen Rechten. Beide Parteien sind im Aussterben begriffenen, dennoch bekamen ihre Bewerber mühelos die 500 Unterschriften von Mandatsträgern zusammen, die Voraussetzung für eine Kandidatur sind. Dagegen wären Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon um ein Haar nicht zur Wahl zugelassen worden. Die Sozialistin Anne Hidalgo holte in Paris gerade 2,3 Prozent der Stimmen, obwohl sie dort Bürgermeisterin ist.
Der Zynismus, den Emmanuel Macron zwischen den beiden Wahlgängen an den Tag legte, hat die Verachtung für die Institutionen und ihre Repräsentanten noch verstärkt. So hat er, um Valérie Pécresse auszustechen, deren radikales Rentenprogramm abgekupfert. In der Stichwahl wollte er dann mit der Ankündigung, die Änderung des Renteneintrittsalters sei durchaus verhandelbar, linke Wähler einfangen.
Nachdem Macron sich in seiner ersten Amtszeit gegen die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns gesperrt hatte, ist er jetzt auf einmal dafür. Dasselbe bei den Lehrergehältern, deren Anhebung er zwei Tage vor der Stichwahl in Aussicht stellte. Als Präsident hatte er sich um Umweltbelange nicht geschert, jetzt kündigte er plötzlich eine Fête de la nature an und versprach: „Die großen Unternehmen werden ökologisch und umweltbewusst handeln.“ Und obwohl er nie ein Referendum veranlasst hat, erklärt er sich neuerdings zum Anhänger von Volksabstimmungen.
Derselbe Macron, dem das Mehrheitswahlrecht seine autoritäre Machtausübung gesichert hat, kann sich auf einmal vorstellen, das Verhältniswahlrecht einzuführen. Allerdings wird er nur schwer erklären können, warum am 24. April 28 Prozent der Wähler:innen – so viele wie nie seit 50 Jahren – den Urnen fernblieben, statt für einen demokratischen Präsidenten zu stimmen, der dem Wählervolk so viel Respekt entgegenbringt. Und noch schwerer wird er die Information verdauen, dass 79 Prozent der Französinnen und Franzosen damit rechnen, dass es in den fünf Jahren seiner zweiten Präsidentschaft zu sozialen Unruhen kommen wird.9
1 Umfrage von Cevipof, veröffentlicht in Le Monde, 15./16. April 2022.
2 Im Einzelnen: Marine Le Pen 23,1, Éric Zemmour 7,1 und Nicolas Dupont-Aignan 2,1 Prozent.
6 Rede in der Maison de la Chimie, Paris, am 21. April 2022.
7 Carl Meeus, „La drôle de campagne“, Le Figaro Magazine, Paris, 22./23. April 2022.
8 Siehe Benoît Breville und Serge Halimi „Trauerspiel in Rot“, LMd,Januar 2022.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld