07.04.2022

Von der Kubakrise lernen

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Von der Kubakrise lernen

Kurz nach Beginn des Angriffs gegen die Ukraine versetzte Wladimir Putin die russischen Abschreckungswaffen in Alarmbereitschaft – dazu gehört auch das nukleare Arsenal. Nur ein Bluff? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie Moskau im Ernstfall seine Atomdoktrin interpretiert.

von Olivier Zajec

Julius Weiland, Im Atelier, Öl auf Leinwand, 80 × 120cm, 2020
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Der schroffe, ja sogar abweisende Ton der Antwort war unüberhörbar: „Die Vorstellung, dass wir ihnen Offensivwaffen, Flugzeuge und Panzer mit US-Besatzungen schicken – machen Sie sich nichts vor! Egal was alle sagen, das hieße Dritter Weltkrieg.“1 Mit diesen Worten wies Joe Biden am 11. März 2022 die Forderungen von Abgeordneten und Experten zurück, die USA solle direkter in den Ukrainekrieg eingreifen. Damit schloss er eine direkte Konfrontation zwischen Washington und Moskau mit konventionellen Waffen aus. Sollte sich die russische Offensive allerdings auf das Territorium eines Nato-Partners ausweiten, würde er diesen äußersten Schritt gehen.

Biden unterscheidet also zwischen dem unantastbaren Territorium des Nordatlantikpakts und dem der Ukraine, das unter eine spezielle geostrategische Kategorie fällt. Das gebietet aus der Sicht Washingtons, das Kräfteverhältnis zwischen den Kriegsparteien genau abzuwägen, sich eine operative Beteiligung durch die offene Unterstützung der Ukraine (in erster Linie mit Waffenlieferungen) genau zu überlegen und vor allem die Grenzen der russischen Entschlossenheit ständig neu zu bewerten. Biden möchte die Tür zu einer für Russen wie Ukrainer akzeptablen Verhandlungslösung offenlassen. Das zeigt auch die Klarstellung des Weißen Hauses, seine spontane Warschauer Äußerung, Putin sei ein „Schlächter“ und dürfe „um Gottes willen nicht an der Macht bleiben“, nicht im Sinne eines „regime change“ zu interpretieren.

Beobachter erklären diese Vorsicht unter anderem mit Putins Drohung vom 24. Februar 2022: „Wer immer sich uns in den Weg stellt oder gar unser Land, unser Volk bedroht, muss wissen, dass Russlands Antwort augenblicklich erfolgen wird, und sie wird Folgen haben, wie Sie sie in Ihrer Geschichte noch nicht erlebt haben.“

Dritte Phase der atomaren Abschreckung

Diese Worte und die gleichzeitige „Versetzung der strategischen Abschreckungswaffen in besondere Alarmbereitschaft“ sind eine Erpressung. Und die Reaktion Bidens lässt sich als Nachgeben interpretieren.

Schon einen Monat vor dem Krieg hatte der neokonservative Journalist Bret Stephens in der New York Times an die Adresse der „freien Welt“ gemahnt: „Der Erfolg des Schlägers hängt letztlich von der psychologischen Kapitulation seines Opfers ab.“2 Natürlich kann man geltend machen, dass der Angreifer nicht entscheiden darf, welche Reaktion des angegriffenen Landes angemessen ist, das seine Grenzen und seine nationale Existenz mit Hilfe von Verbündeten verteidigt. Das gilt etwa auch für die „Befreiung“ von Kuwait nach dem irakischen Überfall von 1990. Allerdings ist heute das Territorium der angegriffenen Ukraine viel größer. Und der russische Aggressor macht andere strategische Argumente geltend als damals Saddam Hussein.

Um zu begreifen, was in den aktuellen Beziehungen zwischen Washington und Moskau auf dem Spiel steht, aber auch um Joe Bidens Verdruss über die maximalistischen Forderungen nachzuvollziehen, die einige seiner Landsleute und auch Verbündeten erheben, empfiehlt sich der Blick in ein älteres Statement des russischen Außenministers Sergei Lawrow. Der hatte 2018 erklärt, die russische Atomdoktrin sehe die Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen nur bei zwei Verteidigungsszenarien vor: „als Antwort auf einen Angriff gegen Russland und (oder) unsere Verbündeten mit Atomwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen; oder als Antwort auf einen nicht-atomaren Angriff, allerdings nur, wenn das Überleben Russlands bedroht ist“.3

Das wurde am 28. März von Kremlsprecher Dmitri Peskow bestätigt, der in einem Interview mit dem US-Sender Public Broadcasting Service (PBS) erklärte, „die militärische Spe­zial­operation in der Ukraine“ habe nichts mit der „staatlichen Existenz“ Russlands zu tun. Auf präzise Nachfrage fügte er hinzu, niemand denke „an den Einsatz oder auch nur an die Idee eines Einsatzes von Atomwaffen“.4

Eine Atomdoktrin ist meist unscharf formuliert. Die Frage ist also, was man in Moskau als existenzielle Bedrohung ansieht. Am 11. März 2022

urteilte Olga Oliker, Direktorin für das Europa- und Zentralasienprogramm der NGO International Crisis Group (ICG): Von einer „besonderen Stufe der Kampfbereitschaft“ habe Putin zwar nie zuvor gesprochen, aber die Formulierung signalisiere offenbar keine „grundlegende Veränderung in der Haltung Russlands zum Atomwaffeneinsatz“.5

Was allerdings die russische Wahrnehmung betrifft, so kann der zweite von Lawrow genannte Fall – „wenn das Überleben Russlands bedroht ist“ – in der aktuellen Krise nicht ausgeschlossen werden. Es wäre wichtig zu wissen, ob die russische Staatsführung die strategische Rolle des Staates Ukraine und dessen mögliche Zugehörigkeit zur Nato tatsächlich als existenzielle Frage ansieht.

Wenn das der Fall wäre, würde das erklären, warum es Moskau entgegen jeder Logik und jeder politischen Vernunft für eine rationale Entscheidung hielt, seinen Nachbarn zu überfallen – und damit den internationalen Status Russlands irreparabel zu schädigen und der Nato einen Grund zu liefern, ihre Reihen zu schließen. Es würde darüber hinaus erklären, warum die russische Führung ganz offen eine „Nuklearisierung“ ihrer Krisendiplomatie betreibt, die jede Einmischung einer anderen staatlichen Macht in den Angriffskrieg gegen die Ukraine verhindern soll.

Handelt es sich um ein zynisches Manöver, das auf die Schwächen und das Zögern des Westens setzt, um Russland maximale Handlungsfreiheit zu verschaffen? Der frühere britische Premier­minister Tony Blair fragt auf seiner Website, ob es vernünftig sei, Putin vorab zu sagen, „dass wir jede Form von militärischer Antwort ausschließen, egal was er militärisch unternimmt?“ Selbst wenn das die richtige Position sein sollte, hält es Blair für eine „seltsame Taktik“, ständig darauf hinzuweisen.6

Auch wenn Putins Manöver offensichtlich ist, stellt sich dennoch eine wichtige Frage: Wer von den politischen Entscheidungsträgern vermag heute präzise einzuschätzen, inwieweit sich der taktische russische Zynismus, der seine Ziele mit aggressiven Mitteln erreichen will, mit strategischen Überzeugungen mischt, die von lang aufgestauten Frustrationen herrühren? Darf man im Westen die Explosivität dieser Mischung unterschätzen, wenn man womöglich darangeht, die Russen in der Ukraine frontal „auszutesten“?

Diese Fragen haben sich lange vor Biden schon andere gestellt. John F. Kennedy begriff im Oktober 1962 angesichts der „harten Linie“ seines Generalstabs in den ersten Tagen der Kuba­krise, dass in diesem kritischen Moment nicht nur die militärische Ebene entscheidend war, sondern die gegenseitige Wahrnehmung der beiden Lager. Am vierten Tag der Krise stellte er bei der Sitzung des „ExComm“ (des Exekutivkomitees des Nationalen Sicherheitsrats) zunächst „das Problem“ aus seiner Sicht dar, um dann vorzuschlagen: „Wir sollten auch darüber nachdenken, warum die Russen so gehandelt haben.“

Aus den freigegebenen Dokumente über diesen Schlüsselmoment in der Geschichte der internationalen Beziehungen erfahren wir, dass Kennedy dann die Idee einer Blockade vortrug. Die Begründung: Es sei vordringlich, seinem russischen Gegenspieler Chruschtschow einen Ausweg zu lassen: Nur so könne man eine Eskalation bis zum Einsatz von Atomwaffen verhindern, zugleich aber die internationale Glaubwürdigkeit der USA bewahren.

General Curtis LeMay, Oberbefehlshaber des Strategic Air Command, hielt dagegen, dass „diese Blockade und die politische Reaktion zum Krieg führen“. Um lapidar festzustellen: „Das ist fast so schlecht wie die Appeasementpolitik vor dem Münchner Abkommen.“ Nach dem heftigen Wortwechsel dankte Kennedy kurz angebunden seinen Generälen, die ihm einhellig eine sofortige Militäraktion empfahlen.

In den folgenden Tagen tat Kennedy genau das Gegenteil. „Die Generäle hatten unrecht“, urteilt der Historiker Martin J. Sherwin: „Wenn der Präsident nicht auf der Blockade bestanden hätte, wenn er den Empfehlungen des Generalstabs gefolgt wäre, dessen Ansicht auch die Mehrheit seiner Berater des ExComm teilte, hätte er ungewollt einen Atomkrieg ausgelöst.“7

Heute lautet die zentrale Frage, wie ernst die Nukleardrohungen zu nehmen sind, die Putin aussendet, während Russland zur selben Zeit einen konventionellen Angriffskrieg führt. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski zweifelt an Putins Entschlossenheit: „Ich denke, die Drohung mit einem Atomkrieg ist ein Bluff. Es ist eine Sache, ein Mörder zu sein. Ein Selbstmörder ist eine andere Sache. Jeder Einsatz von Atomwaffen bedeutet das Ende für alle Beteiligten.“8

Auf die Gefahr hin, überängstlich zu wirken, scheint der US-Präsident sein Urteil in dieser Frage hinauszuzögern. Vorläufig hält er offensivfreudigere Verbündete wie Polen zurück. Biden setzt eher auf die Wirkung der verheerenden Wirtschaftssanktionen, die zahlreiche Länder gegen Russland verhängt haben, als auf eine Aktion, die Putin Gelegenheit geben würde, die Flucht nach vorn anzutreten – womöglich mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen, von denen Russland etwa 2000 besitzen soll.

Unterliegt der Präsident einer Fehleinschätzung? Am 14. März forderte General Rick J. Hillier, vormals Generalstabschef der kanadischen Armee, gegenüber CBS die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine durch die Nato. Auch er betrachtet die Atomdrohungen Putins als Bluff. Derselben Meinung ist John Feehery, ehemals Sprecher von Tom DeLay, dem früheren Vorsitzenden der republikanischen Mehrheitsfraktion im Repräsentantenhaus: „Biden hat seine Karten schlecht gespielt“, zetert er. „Als Putin zu erkennen gab, dass er bereit ist, Atomwaffen einzusetzen, erklärte Biden, dass wir unsere nicht einsetzen werden, was mir dem Ziel zu widersprechen scheint, das wir mit dem Besitz dieser Waffen verfolgen. Wenn wir es ablehnen, sie einzusetzen, warum haben wir sie dann?“9

Kippt das nukleare Tabu?

Der Historiker Niall Ferguson von der Stanford University schließt sich dieser Kritik an: „Putin blufft mit den Atomdrohungen. Wir hätten nicht zurückweichen dürfen.“10 Ferguson bedauert, dass „die Berichterstattung in den Medien so rührselig geworden ist und die militärische Realität ignoriert“.

Aber von welcher militärischen ­„Realität“ ist hier die Rede? Was ist, wie es Kennedy formuliert hätte, eigentlich „das Problem“? Die Möglichkeit des Ersteinsatzes von Atomwaffen durch Russland in einem bereits laufenden Krieg. Nina Tannenwald hat ein Buch über das „nukleare Tabu“ geschrieben, das in der Forschung über die internationalen Beziehungen schon lange zum zentralen Begriff geworden ist. Sie hält das Risiko für groß und unterstützt das strategische Abwarten, für das sich Biden vorerst entschieden hat. „Den zahlreichen Rufen in den USA nach der Schaffung einer Flugverbotszone über der ganzen Ukraine oder Teilen des Landes hat die Biden-Regierung vernünftigerweise widerstanden. Praktisch würde das bedeuten, russische Flugzeuge abzuschießen.“ Tannenwald kommt zu demselben Schluss wie der US-Präsident: „Das könnte zum Dritten Weltkrieg führen.“11

Das Merkmal des Krieges in der Ukraine, das uns am meisten beunruhigt, ist der atomare Hintergrund. Plötzlich greift man wieder auf das Vokabular und die Grundprinzipien der Nuklearstrategie zurück, die lange Zeit im weggeräumten Werkzeugkasten des Kalten Kriegs verstaut waren. Das gilt jedenfalls für die westlichen Medien und Machtzentren, wo man sich allmählich bewusst wird, welch potenziell zerstörerische Reaktionsketten aus dem Zusammenwirken von taktisch-operativen und politisch-strategischen Entscheidungen erwachsen können.

Das erklärt vielleicht, warum die martialischen Verlautbarungen mancher Experten in der Anfangsphase des Krieges allmählich von nüchterneren Analysen abgelöst wurden. Das ist auch höchste Zeit, zumal wenn man bedenkt, wie beängstigend sich die aktuelle Debatte um den Einsatz von Atomwaffen entwickelt hat.

Seit dem Ende des Kalten Kriegs hatte sich parallel zur vereinbarten Reduzierung der strategischen Arsenale der Supermächte USA und Sowjetunion eine Art orthodoxe Anschauung durchgesetzt, die bis vor relativ kurzer Zeit Gültigkeit hatte. Mit der Folge, dass ein Teil der nuklearen Waffen, und zwar die wegen ihrer begrenzten Stärke und Reichweite so genannten taktischen Kernwaffen, gleichsam an die Peripherie der Verteidigungsdoktrin verschoben wurden.

Diese taktischen Waffen standen bis in die 1960er Jahre im Zentrum der Kriegsszenarien des Pentagons, insbesondere für Europa. Damals wollten die USA der Überlegenheit der UdSSR bei den konventionellen Waffen mit der Überkompensation durch Atomwaffen begegnen, was einen Kriegsausbruch verhindern sollte. Die 1954 von dem damaligen US-Außenminister John Foster Dulles formulierte Doktrin der „massiven Vergeltung“ implizierte den „Einsatz von Atomwaffen zu taktischen Zwecken, als wären sie konventionelle Waffen“.12 Ein Jahr später verkündete Präsident Eisenhower, er sehe keinen Grund, taktische Atomwaffen „nicht ebenso einzusetzen wie eine Kugel oder irgendetwas sonst“, wenn auch „nur gegen militärische Ziele“.13

Ab Beginn der 1960er Jahre reduzierte das Gleichgewicht des Schreckens aufgrund der damit verbundenen extremen Risiken die Wahrscheinlichkeit, dass eine Seite taktische Kernwaffen einsetzen würde. Der Ausdruck „begrenzter Atomschlag“ wurde zunehmend als gefährlicher Sophismus wahrgenommen. Einige Experten wie Herman Kahn vom Hudson Institute erklärten es zwar für möglich, einen Atomkrieg durch eine „abgestufte“ atomare Antwort zu gewinnen, also indem man die Eskalationsstufen kontrolliere. Dennoch bleibt eine Atomwaffe, auch wenn sie das – willkürlich verpasste – Etikett „taktisch“ trägt, stets mit der potenziellen Perspektive absoluter Zerstörung verbunden. Zu dieser Einsicht hat insbesondere Thomas Schelling mit seinen Büchern „The Strategy of Conflict“ (1960) und „Strategy and Arms Control“ (1961) beigetragen.

Dem trug die französische Atomdoktrin Rechnung, bei der sich die Ablehnung des „abgestuften“ Einsatzes zu einem zentralen Merkmal entwickelte. Präsident Emmanuel Macron behält sich zwar die Möglichkeit eines „einzigen und nicht wiederholbaren“ Warnschlags vor, erklärte aber im Februar 2020, Frankreich habe es „immer abgelehnt, dass man Atomwaffen als Gefechtsfeldwaffen ansehen könnte“. Im Übrigen erklärte Macron, Frankreich werde sich „nie auf eine atomare Schlacht oder irgendeinen abgestuften Gegenschlag einlassen“.14

Vor den 2010er Jahren konnte man sich vorstellen, dass auch andere Atommächte diese Position übernehmen würden, die auf dem Prinzip der stricte suffisance, also der Beschränkung auf das unbedingt notwendige atomare Arsenal beruht (im französischen Fall auf weniger als 300 Atomsprengköpfe). Und man ging davon aus, dass die taktischen Kernwaffen – von Sonderfällen wie Pakistan abgesehen – „auf der rhetorischen Ebene wie in den militärischen und politischen Planspielen keine große Rolle mehr spielten“.15

Dann setzte jedoch vor zehn, zwölf Jahren eine Trendwende ein. Auf der Ebene der strategischen Studien beobachten wir eine Rückwendung zu dem, was man die „Theorie des atomaren Sieges“ nennt. Die Überzeugungen ihrer heutigen Vertreter knüpfen an frühere Überlegungen an. Etwa an die von Henry Kissinger, der 1957, noch als Harvard-Professor, in seinem Buch „Kernwaffen und auswärtige Politik“ die Frage aufwarf, ob die auf Europa erweiterte Abschreckungsdoktrin der USA auch für den Fall gelte, dass dem Land selbst die totale Zerstörung drohe.

„Wenn wir uns auf den totalen Krieg als Hauptabschreckungsmittel verlassen, wird dies unser Bündnissystem in zweierlei Hinsicht schwächen“, schrieb Kissinger: „Unsere Verbündeten werden entweder jegliche militärische Anstrengung ihrerseits als unnötig empfinden, oder sie werden zu der Überzeugung gelangen, dass der Frieden selbst unter Bedingungen, die fast einer Kapitulation gleichkommen, dem Krieg vorzuziehen ist.“ Da die Zerstörungskraft der modernen Waffen immer offensichtlicher werde, sei die Annahme immer weniger plausibel, „dass die Vereinigten Staaten und vor allem das Vereinigte Königreich sich bereitfinden würden, Selbstmord zu begehen, um ein Gebiet, und sei es auch von noch so großer Bedeutung, dem Zugriff eines Feindes zu entziehen“.16

Zur Auflösung dieses Dilemmas wurde empfohlen, die taktischen Kernwaffen wieder in die auf verbündete Staaten ausgeweitete Abschreckungsdialektik zu integrieren. Das würde den US-Entscheidungsträgern neue Optionen eröffnen, die ihnen nicht nur die Wahl zwischen Armageddon und kampfloser Niederlage lassen.

Die globale Abschreckung kehrte also zurück, indem man in die „Eskalationsleiter“ (escalation ladder) zusätzliche Stufen einbaute, die einen sub-apokalyptischen Abschreckungsdialog ermöglichen sollen, bevor man die existenziellen Interessen dieses oder jenes Hauptgegners verletzt, was den schlimmsten Fall herbeiführen würde.

Zusätzliche Stufen in der Eskalationsleiter

Die Logik dieser Doktrin war in den 1970er Jahren von vielen Autoren vertieft und radikalisiert worden. Zu nennen ist vor allem Colin Gray, dessen Aufsatz von 1979 mit dem vielsagenden Titel „Nuclear Strategy: The Case for a Theory of Victory“ heute wieder häufig zitiert und rezipiert wird.17

Auch 2022 warnen die neuen Theoretiker eines nuclear victory, eine zu starre Vision der Abschreckung könnte eine „Lähmung“ des westlichen Willens bewirken. Ihr strategisches Kalkül erlangte mit der 2018 veröffentlichten Nuclear Posture Review der Trump-Regierung den Rang einer halboffiziellen Position.18

Welche Wirkung haben diese Theorien auf der russischen Seite? Hat der Kreml eine Fusion seiner atomaren und konventionellen Abschreckungspotenziale beschlossen, die ein operatives Kontinuum zwischen beiden Waffentypen herstellen würde?

Wie auch immer, die Autoren der Nuclear Posture Review, die auf der Möglichkeit eines Einsatzes von sogenannten taktischen Atomwaffen bestehen (auf einer Skala von geringer bis ultrageringer Sprengkraft), haben dabei vor allem Schurkenstaaten im Auge. Denn die würden sich im Fall eines Konflikts mehr und mehr darauf verlassen, dass die Atommächte vor dem „ganz großen Risiko“ zurückschrecken, wenn ihr eigenes Staatsgebiet nicht bedroht ist.

Hier zeigt sich die Aktualität der Entwicklung, die sich seit Kissingers Analyse der Schwächen einer erweiterten atomaren Abschreckung vollzogen hat. Die geschilderte Beißhemmung, von der ein strategisch agierender Schurkenstaat ohne Atomwaffen immer profitieren könnte, gilt umso mehr für einen Aggressor, der selbst über eine nukleare Abschreckung verfügt. Eine solche Atommacht, die sich wie ein Schurkenstaat verhält, sehen wir heute in der Ukraine agieren.

Dabei hat das Zögern des Westens vor einer Reaktion, die zu einer atomaren Eskalation führen könnte, auch mit der Verantwortung zu tun, die jeder – Angreifer oder Angegriffener – vor der Geschichte hätte, wenn er zum ersten Mal seit Hiroshima und Nagasaki das Tabu des Atomwaffeneinsatzes brechen würde. „Diese Vorsicht und dieses Gewährenlassen verschaffen keine emotionale Befriedigung“, gibt Olga Oliker zu. „Die Forderungen an die Nato, der Ukraine direkt zu helfen, entsprechen einem tiefen Bedürfnis. Aber sie würden das Risiko beträchtlich erhöhen, dass sich dieser Krieg in einen größeren und möglicherweise atomaren Konflikt verwandelt. Deshalb muss der Westen sie von vornherein ablehnen. Es wäre zu gefährlich.“19

Das dritte atomare Zeitalter hatte sich in den letzten zehn Jahren durch viele Krisen angekündigt. Nun ist es in der Ukraine tatsächlich angebrochen. 2018 hat Admiral Pierre Vandier, Generalstabschef der französischen Marine, präzise die strategischen Veränderungen benannt, die sich in der russischen Aggression auf beängstigende Weise zeigen: „Mehrere Indizien deuten darauf hin, dass wir in eine neue Ära, ein drittes atomares Zeitalter eintreten“, schrieb Vandier. Das erste Zeitalter habe auf der gegenseitigen Abschreckung der beiden Großmächte beruht; das zweite habe nach dem Ende des Kalten Krieges die Hoffnung auf eine vollständige und endgültige Vernichtung der Atomwaffen geweckt.

Im dritten atomaren Zeitalter dagegen stelle sich die Frage, wie gültig und haltbar die „logischen Regeln“ sind, „die wir etwa während der Kubakrise unter Schmerzen erlernt haben“.

Laut Vandier müssen wir uns fragen, wie rational die heutigen Akteure beim Einsatz ihrer Atomwaffen handeln werden. Wir müssen den Wert des „atomaren Tabus“ kritisch überprüfen, zumal manche es jetzt wie ein Totem vor sich hertragen. „Wenn wir ihren Einsatz ablehnen, warum haben wir sie dann?“20

Liest man solche Erklärungen, könnte man glauben, dass die oft zitierte Bemerkung Albert Einsteins von 1964 immer noch gilt: „Die entfesselte Macht des Atoms hat alles verändert, nur nicht unsere Denkweise.“ Einstein hatte unrecht. Damals wurden schnell unzählige leidenschaftliche Texte verfasst, die das Gleichgewicht und Ungleichgewicht des Abschreckungsdialogs zu erklären versuchten.

Der Nutzen dieser theoretischen und historischen Texte für heute ist höchst verschieden. Manche von ihnen münden in Schlussfolgerungen, die einem logischen Delirium gleichen. Aber unter diesen vielen Analysen finden sich doch etliche, die uns bei einer kritischen Einschätzung der ukrainischen Atomkrise helfen.

Besonders eins dieser Werke handelt von den Gefahren, die der Rückgriff auf die Theorien eines „atomaren Sieges“ unter den Bedingungen des dritten atomaren Zeitalters mit sich bringt. Robert Jervis, der kürzlich verstorbene Pionier der politischen Psychologie und ihrer Anwendung auf internationale Beziehungen, hat zu zeigen versucht, dass es einen Ausweg aus dem Sicherheitsdilemma gibt, in dem jeder Akteur sein eigenes Handeln als defensiv und das des Gegners wie selbstverständlich als offensiv wahrnimmt.21

Um die Spirale der Unsicherheit zu unterbrechen, die dieser verzerrten Wahrnehmung entspringt, muss man laut Jervis eine Kommunikation mittels Signalen entwickeln, die es ermöglichen, zwischen den offensiven und den defensiven Waffen in den Arsenalen der Gegner zu unterscheiden. Dieser Ansatz wäre auch für die Interpretation des russischen Verhaltens fruchtbar zu machen. Zum Beispiel indem man davon ausgeht, dass eine aggressive Taktik häufiger von der Angst vor Verlusten als von der Hoffnung auf Gewinne motiviert ist.

In einer Atomkrise sind alle Strategien „suboptimal“. Es gibt allerdings einen Weg, der noch schlechter ist als alle anderen: zu behaupten, der gegnerische Anführer sei verrückt, und die Auseinandersetzung mit ihm als chicken game wahrzunehmen, bei dem der verliert, der als Erster nachgibt. Unter dieser Annahme kann der Konflikt nur auf zweierlei Weise enden: mit der gegenseitigen Vernichtung, wenn der Angegriffene nicht nachgibt, obwohl der Angreifer verrückt ist; oder mit seiner kampflosen Kapitulation, wenn er nachgibt, weil der Angreifer verrückt ist.

Einige Beobachter scheinen davon auszugehen, dass dieses Spiel mit den beiden schlimmsten aller Möglichkeiten auch noch die Bezeichnung „Strategie“ verdient.

1 Steven Nelson, „That’s called World War III: Biden defends decision not to send jets to Ukraine“, New York Post, 11. März 2022.

2 Bret Stephens, „Bring back the free world“, The New York Times International Edition, 27. Januar 2022.

3 Jon Queally, „World leaders denounce Trump’s new nuclear posture“, Common Dreams (online), 4. Februar 2018.

4 „Putin’s spokesman Dmitry Peskov on Ukraine and the West: 'Don’t push us into the corner“, PBS News Hour, 28. März 2022.

5 Olga Oliker, „Putin’s nuclear bluff. How the West can make sure Russia’s threats stay hollow“, Foreign Affairs, New York, 11. März 2022.

6 Nadeem Badshah, „Tony Blair: West has fortnight to help end war in Ukraine“, The Guardian, 15. März 2022.

7 Martin J. Sherwin, „Gambling with Armageddon: Nuclear Roulette from Hiroshima to the Cuban Missile Crisis“, New York (Knopf Doubleday) 2020.

8 „Wenn die Ukraine bei dir ist, fühlst du dich sicher“, Interview mit Wolodimir Selenski, Die Zeit, 9. März 2022.

9 John Feehery, „Biden’s weakness on Ukraine invited Russian invasion“, The Hill (online), 8. März 2022.

10 Niall Ferguson: „Poutine bluffe sur le nucléaire, nous n’aurions pas dû reculer“, L’Express, Paris, 12. März 2022.

11 Nina Tannenwald, „Limited“ tactical nuclear wea­pons would be catastrophic“, Scientific American, 10. März 2022.

12 John Foster Dulles, „The evolution of foreign policy“, Council of Foreign Relations, New York, Department of State, Press Release Nr. 81, 12. Januar 1954.

13 Andrew Glas, „Eisenhower defends use of nuclear wea­pons, March 16, 1955“, Politico, 16. März 2019.

14 Rede von Präsident Emmanuel Macron über die Verteidigungs- und Abschreckungsstrategie vor den Auszubildenden des 27. Jahrgangs der École de guerre, 7. Februar 2020.

15 Hans M. Kristensen, Matt Korda, „Tactical nuclear wea­pons 2019“, Bulletin of the Atomic Scientists, Bd. 75, Nr. 5, 2019.

16 Henry Kissinger, „Kernwaffen und auswärtige Politik“, München (Oldenbourg) 1974, S. 206 und 209.

17 Colin Gray, „Nuclear Strategy: The Case for a Theory of Victory“ International Security, Bd. 4, Nr. 1, 1979. Siehe auch Olga Oliker, „Putin’s nuclear bluff“ (Anm. 5).

18 Siehe Michael Klare, „Willkommen im neuen Atomzeitalter“, LMd, März 2018.

19 Siehe Olga Oliker, „Putin’s nuclear bluff“ (Anm. 5).

21 Pierre Vandier, „La dissuasion au Troisième âge nucléaire“, Paris (Le Rocher) 2018, S. 17 f.

21 Robert Jervis, „The Logic of Images in International Relations“, New York (Columbia University Press) 1969; sowie „How Statesmen Think“, Princeton (University Press) 2017.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Olivier Zajec ist Professor für Politikwissenschaften an der Faculté de droit, Université Jean Moulin – Lyon III.

Le Monde diplomatique vom 07.04.2022, von Olivier Zajec