Drei Leben für eine Wohnung in Gangnam
Am 9. März wählt Südkorea einen neuen Präsidenten. Moon Jae In von der linksliberalen Minju-Partei darf nicht wieder antreten. Beste Aussichten auf seine Nachfolge haben sein Parteifreund Lee Jae Myung und Yoon Suk Yeol von der konservativen PPP. Ein zentrales Thema im Wahlkampf sind die explodierenden Immobilienpreise.
von Nicolas Rocca
Es ist eine klassische Ausgangslage für einen Roman oder Film: Der entlassene, von Schulden geplagte Arbeiter gerät bei dem Versuch, seinen Gläubigern zu entgehen, immer mehr unter Stress. Dieses Szenario ist in der südkoreanischen Gesellschaft inzwischen Alltag, wie der preisgekrönte Film „Parasite“1 oder der Streaming-Hit „Squid Game“2 zeigen.
Die Serie „Squid Game“, in der die Schuldner bereit sind, den Tod in Kauf zu nehmen, um ihrem Elend zu entkommen, wurde verschiedentlich kommentiert. Für manche deckt sie die Abgründe einer zutiefst ungleichen Gesellschaft auf, andere betrachten sie als Kampfansage gegen die Auswüchse eines ungezügelten Kapitalismus oder als Spiegel der Gewaltverhältnisse, die vom weiterhin stark präsenten Konfuzianismus lediglich überdeckt würden. Alle diese Interpretationen gehen von derselben Beobachtung aus: Südkorea erlebt derzeit eine alarmierende Überschuldung privater Haushalte, die in den meisten Fällen mit den extremen Preissteigerungen im Immobiliensektor zusammenhängt.
Als der Regisseur von „Squid Game“, Hwang Dong-hyuk, 2008 mit seiner Filmrecherche begann, betrug die Gesamtverschuldung der Privathaushalte „nur“ 138,5 Prozent ihres gesamten verfügbaren Einkommens. Zwölf Jahre später, als der Filmemacher die Idee als Netflix-Serie umsetzen konnte, war sie bereits auf über 200 Prozent gestiegen.3 Eine aufschlussreiche Zahl, die zum Teil gar nichts mit der Politik von Präsident Moon Jae In zu tun hat. Seit das Land in den 1960er und 1970er Jahren zu prosperieren begann, sind die Preise stetig gestiegen.
In Südkorea liegen Reichtum und Prekarität eng beieinander. Vor Wolkenkratzern und Luxusboutiquen stehen Straßenverkäuferinnen, die Joghurt verkaufen, dazwischen kleine familiengeführte Restaurants. Ein Viertel der Erwerbstätigen in Südkorea ist selbstständig.4
Die chronische Verschuldung der Privathaushalte hat sich in den letzten zwei Pandemiejahren verschärft, weil die Hygienemaßnahmen den Betrieb von Karaoke-Bars, Restaurants und Cafés eingeschränkt haben und damit zahlreiche Familienunternehmen an den Rand des Ruins brachten. „Rund um die Uni ist eine Geisterstadt entstanden“, klagt der Soziologieprofessor Kim Hyun Soo von der Ewha-Universität in Seoul, „alle Geschäfte sind pleitegegangen.“5
Die öffentliche Hand ist dafür nur teilweise eingesprungen. Neben einmaligen Ausschüttungen, wie den 5 Millionen Won (3700 Euro) für Selbstständige im Januar 2022, „war die Regierung sehr zurückhaltend mit direkter, langfristiger Unterstützung für Menschen in Notlagen“, berichtet Park Sang In, Professor für Wirtschaftsmanagement an der Seoul National University: „Sie bot ihnen lieber finanzielle Hilfe durch niedrig verzinste Kredite an.“
Südkoreas Regierungen haben immer noch große Angst vor der Staatsverschuldung. Während die Bevölkerung Kredite anhäuft, liegen die Staatsschulden weit unterhalb des Durchschnitts der OECD-Länder und betrugen 2020 lediglich 58,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, im Vergleich zu 51,6 Prozent 2016. In Frankreich lagen sie 2020 dagegen bei 146 Prozent; in Deutschland bei 79 Prozent.6
Manche Beobachter wie der Soziologieprofessor Choi Hang Sub von der Kookmin-Universität in Seoul vertreten die These, dass eine Ursache der Verschuldung darin bestehe, „dass die Südkoreaner zu viel konsumieren. Sie arbeiten viel, um zu konsumieren. Und wenn ihr Gehalt nicht ausreicht, nehmen sie einen Kredit auf.“ Das Konsumverhalten mag eine Rolle spielen, doch der Hauptfaktor ist die Preisexplosion im Immobiliensektor.
Mindestens 9500 Euro pro Quadratmeter
Die Hälfte der 52 Millionen Südkoreaner:innen lebt in den drei Provinzen der Hauptstadtregion – Seoul, Gyeonggi-do und Incheon. Während Moons Präsidentschaft haben sich die Preise in manchen Stadtvierteln von Seoul seit 2017 praktisch verdoppelt:7 Der Durchschnittspreis in der Hauptstadt liegt zwischen 9500 und 29 000 Euro pro Quadratmeter.8
Wie es in Südkorea zum politischen Ritual gehört, entschuldigte sich der Präsident in seiner Neujahrsansprache 2021: „Es ist bedauerlich, dass die Wohnungsnot dem Volk so viel Leid bereitet hat, wir werden niemals zögern, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Markt zu stabilisieren“, erklärte er und versprach, dass mehr Wohnungen gebaut werden.
Ein Jahr später hat sich die Lage nicht verändert, sie sei eher noch schlimmer geworden, meint Kim Seong Dal, Leiterin des Büros für Public Policy der Bürgerkoalition für wirtschaftliche Gerechtigkeit (Citizen’s Coalition for Economic Justice, CCEJ). Die CCEJ ist eine NGO, die gegen Immobilienspekulation und die Macht der Chaebols, der großen südkoreanischen Familienkonzerne, kämpft.
Kim erläutert: „Bei Moons Antritt musste ein Arbeiter 20 Jahreseinkommen für ein Haus berappen. Im November 2021 waren es bereits 38.“ Die jungen Südkoreaner:innen fassen diese Statistik in einem fast schon sprichwörtlich gewordenen Satz zusammen: „Ich bräuchte zwei oder drei Arbeitsleben, um mir eine Wohnung in Gangnam leisten zu können“, dem hippen Viertel der Hauptstadt. Dieses Gefühl der Ohnmacht paart sich mit einer wachsenden Feindseligkeit gegen diejenigen, die vom rasanten Preisanstieg profitieren.
Zudem überschatten immer mehr Skandale den Wahlkampf. Wenige Wochen vor den Kommunalwahlen im Frühjahr 2021 schwächte die Affäre um die Korea Land and Housing Corporation, allgemein nur LH genannt, die Moon-Regierung, die ohnehin schon genug Ärger mit dem Bauentwickler hat. „Räuberhöhle“ stand auf den Plakaten der jungen Leute, die vor dem Bürogebäude des staatlichen Unternehmens protestierten, das für die Erschließung von Bauland und die Errichtung neuer Wohnungen zuständig ist.
Ein Dutzend LH-Angestellte sind wegen Insidergeschäften angeklagt. Da sie den Modernisierungsplan für eine Stadt im Osten von Seoul kannten, erwarben sie dort Land im Wert von knapp 8 Millionen Euro. Damit wollten sie von einer gesetzlichen Vorschrift profitieren: Wenn ein staatliches Unternehmen nämlich Land aufkauft, hängt die Entschädigung von der Ausdehnung, der Anzahl und selbst der Größe der dort wachsenden Bäume ab. Also ließen die LH-Leute auf ihrem neuerworbenen Land flugs zahlreiche Exemplare einer schnell wachsenden Art pflanzen. Die Affäre gelangte an die Öffentlichkeit und war bei den Nachwahlen 2021 maßgeblich für den Erdrutschsieg der konservativen People Power Party (PPP) nicht nur in Seoul, sondern auch in Busan, der zweitgrößten Stadt des Landes, verantwortlich.
Seit Monaten sorgt auch die Daejang-dong-Affäre für Gerede, die ein schlechtes Licht auf den Kandidaten Lee wirft. Daejang-dong, ein Vorort von Seongnam, steht symbolisch für Südkoreas wirtschaftlichen Erfolg; hier haben die IT-Giganten Naver und Kakao ihre Firmensitze. Lee Jae Myung, der von 2010 bis 2018 Bürgermeister von Seongnam war und jetzt für die regierende Minju-Partei als Präsidentschaftskandidat antritt, schmückt sich gern mit der Erzählung von der Arbeitervorstadt, die zum Mittelklassewohnort aufgestiegen sei.
Die Stadtverwaltung wird der Korruption und Günstlingswirtschaft beschuldigt: 2015 hatte sie eine Public-private-Partnership (PPP) initiiert, um ein Wohnviertel auf Brachland zu errichten. Die kleine Vermögensverwaltungsfirma Hwacheon Daeyu, die die Ausschreibung gewann, konnte allerdings keinerlei Erfahrungen im Immobiliengeschäft vorweisen; die 400 Milliarden Won (264 Millionen Euro), die unter anderem eine Partnerfirma kassierte, versandeten in unbekannten Kanälen. Hwacheon Daeyu soll umgerechnet etwa 3,8 Millionen Euro Bestechungsgelder an einflussreiche Persönlichkeiten vor allem aus dem konservativen Lager gezahlt haben, die auf der Namensliste des sogenannten 5 Billion Won Club standen, wie der parlamentarische Untersuchungsausschuss die Gruppe taufte: Hwacheon Daeyu hatte jedem, der die Firma in dem Daejang-dong-Projekt unterstützt, 5 Milliarden Won versprochen.
Zu der Gruppe gehören Abgeordnete, Staatsanwälte und Berater der früheren Präsidentin Park Geun Hye. Park wurde 2017 wegen Korruption und Machtmissbrauch verhaftet und zu insgesamt 22 Jahren Haft verurteilt, bis sie am 31. Dezember 2021 vorzeitig begnadigt wurde. Zwei Beamte, die in die Daejang-dong-Affäre verwickelt waren, haben sich schon das Leben genommen. Trotz aller Verdächtigungen konnte bislang aber keine direkte Verbindung zu Lee Jae Myung nachgewiesen werden.
Affären wie diese schüren die Wut über eine zutiefst ungleiche Gesellschaft, in der das Einkommen der Eltern den sozialen Status bestimmt. In Südkorea gibt es die sogenannte Löffelklassentheorie: Die Sprösslinge von Konzernchefs, Ingenieuren oder Ärztinnen werden mit einem Diamant-, Platin- oder Goldlöffel im Mund geboren, während sich die ärmeren Schichten mit einem Erd- oder Schmutzlöffel begnügen müssen.
Dieses Bild hat sich vor allem bei den 18- bis 30-Jährigen festgesetzt, die von Moons unerfüllten Versprechen enttäuscht wurden. Zu Beginn seiner Amtszeit hatte sich seine Regierung bemüht, die Grundsteuer zu erhöhen, um Menschen, die mehrere Wohnungen besitzen, zum Verkauf zu bewegen. Dieses Ziel wurde aber durch die Erhöhung der Steuern auf Immobilientransaktionen torpediert. Ein Beispiel für widersprüchliche Anordnungen, das nach Meinung von Wirtschaftsprofessor Park Sang In nur dazu geführt hat, dass Immobilienbesitzende in einer Abwartehaltung verharrten. „In seinen fünf Jahren an der Macht hat Moon 26-mal neue Maßnahmen in der Wohnungspolitik verkündet. Wie sollten die Leute angesichts einer solchen Sprunghaftigkeit Vertrauen entwickeln?“ Vom künftigen Präsidenten wird mittlerweile eine Senkung der Grundsteuer erwartet.
Eigentlich sollte die erhöhte Grundsteuer zusammen mit einer restriktiven Geldpolitik die Kreditmöglichkeiten der Wohlhabendsten einschränken, um so die Spekulation einzudämmen. „Dieses Gesetz hat genau das Gegenteil erreicht“, meint der Soziologe Kim Hyun Soo. „Moon war gewählt worden, weil er weniger Ungleichheit versprochen hatte. Indem er den Leuten den Zugang zu Krediten erschwerte, belastete er aber vor allem die Mittelklasse und die Armen.“ Während die Privilegierten bereits die nötigen Mittel für Investitionen besaßen, stöhnten die weniger Bemittelten unter der Zinserhöhung. „Wir haben festgestellt, dass die Eigentümer mehrerer Wohnungen inzwischen noch mehr Immobilien besitzen, während die Immobilienpreise weiter steigen“, berichtet Kim Seong Dal. Sie beklagt zudem einen Mangel an sozialem Wohnungsbau.
Inzwischen ist sich auch der Präsident mit seinen beiden möglichen Nachfolgern einig, dass mehr gebaut werden muss. Moon versicherte, bis 2025 würden fast 2 Millionen Wohnungen errichtet. Und weil sich seit Ende 2021 die Preise auf dem Wohnungsmarkt stabilisiert haben, erklärte das Präsidialamt, man werde „das Problem nicht an die nachfolgende Regierung weitergeben“.
Das Thema bleibt jedoch ein Pferdefuß für die Regierungspartei – und ein Segen für den Oppositionskandidaten Yoon Suk Yeol. Der frühere Generalstaatsanwalt erwarb sich in der Amtszeit Moons, der ihn auch ernannt hat, durch seine juristische Expertise und die Ermittlungen gegen seine Parteikollegin und Ex-Präsidentin Park politisches Ansehen. Populär wurde er jedoch vor allem wegen seiner beharrlichen Opposition gegen die Moon-Regierung, die ihm den Ruf des Unbestechlichen eintrug. Besonders schmerzhaft waren die Ermittlungen gegen Moons Justizminister Cho Kuk, der wegen Korruptionsverdacht und familiärer Verstrickungen zurücktreten musste – seine Ehefrau soll Zeugnisse gefälscht haben, um der Tochter Zugang zu einer Eliteuni zu verschaffen.
Seit Yoon Suk Yeol seine Kandidatur bekanntgegeben hat, hat er seine Konflikte mit der Regierungspartei von der juristischen auf die politische Ebene verlagert. In der Wohnungspolitik beschränkt er sich allerdings darauf, genau das Gegenteil von dem zu verkünden, was Moon gemacht hat. „Wer keine Wohnungen besitzt, leidet unter den stark steigenden Kautionen, und wer eine Wohnung besitzt, leidet unter den Steuern“, erklärte Yoon.9 Er will zwar gleichfalls Wohnungen bauen lassen (über 2,5 Millionen), spricht sich aber für eine drastische Senkung der Immobiliensteuern aus.
Sein Hauptgegner Lee Jae Myung versucht ebenfalls, sich beim Wohnungsthema von der amtierenden Regierung abzusetzen. Er tritt für den Bau von 1 Million Sozialwohnungen ein, doch seine Steuerpolitik bleibt unklar. Er setzt sich für die Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens ein. Dieses wollte er zunächst durch eine Erhöhung der Grundsteuer finanzieren, gab diese Finanzierungsquelle im Anschluss jedoch wieder auf (siehe untenstehenden Beitrag).
„Die Preisexplosion auf dem Immobilienmarkt hindert viele junge Menschen daran zu heiraten und eine Familie zu gründen“, erklärt Kim Seong Dal. Das Durchschnittsalter bei Erstgebärenden liegt bei 33,1 Jahren. Die Fertilitätsrate ist die niedrigste im gesamten OECD-Raum. In der Altersklasse der Generation „Sampo“ (Verzicht) steigt auch die Suizidrate mit jedem Jahr.10
In einem Land, in dem 56 Prozent der Bevölkerung in Eigentumswohnungen leben, ist dieser Besitz zum Statussymbol geworden. Zum Gefühl der Stagnation kommt die Angst vor dem sozialen Abstieg: „Eine Mehrheit der jungen Erwachsenen in Südkorea kommt aus Mittelschichtsfamilien. Doch im Gegensatz zu ihren Eltern haben sie kaum noch Chancen, ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern“, erklärt Shin Wang Yeong, Soziologieprofessor an der Chung-Ang-Universität in Seoul.
Der Bruch zwischen den Generationen tritt immer deutlicher zutage. Der Soziologe Choi Hang Sub beobachtet bei den jungen Leuten inzwischen regelrechten Hass auf die Generation ihrer Eltern. Dieses Unbehagen wird manchmal satirisch überspitzt als „Hell Choson“ bezeichnet, die „koreanische Hölle“, benannt nach einem Königsgeschlecht, das von 1392 bis 1897 auf der Halbinsel herrschte. In dieser Formulierung spiegelt sich besonders drastisch die Verzweiflung einer Generation wider, die keine Aussichten darauf hat, der familiären Enge zu entrinnen und eine eigene Wohnung oder den Traumjob zu ergattern.
1 Der Film von Bong Joon Ho wurde in Cannes 2019 mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.
2 Hwang Dong-hyeok, „Squid Game“, Netflix-Serie, 2021.
3 „Household debt“, OECD, Paris 2020.
4 „Self-employment rate“, OECD, Paris 2020.
6 „General government debt“, OECD, Paris 2021.
8 Kim Yon-se, „Home prices in 9 major regions up 26 % in a year“, The Korea Herald, 6. Juli 2021.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Nicolas Rocca ist Journalist und lebt in Seoul.