Die Wirtschaftsvisionäre Lateinamerikas
Die wechselvolle Geschichte der Cepal
von Baptiste Albertone und Anne-Dominique Correa
Die meisten internationalen Institutionen in Chile haben ihren Sitz an der Avenida Dag Hammarskjöld in Santiagos noblem Vitacura-Viertel. So auch die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (Cepal). Ihr Gebäude thront majestätisch am Ende der Straße und sieht aus wie ein rechteckiger Betongürtel, aus dem eine imposante Spirale herausragt. Von den „Cepalinos“, den 520 Beamten der Cepal, wird sie „Schnecke“ genannt und beherbergt den Konferenzsaal.
„Ich wollte kein Monument der Bürokratie bauen“, erklärte der Architekt Emile Duhart, ein Schüler von Le Corbusier. „Die Politik sollte das Herz sein.“ Weshalb sich der Konferenzsaal „über die Verwaltung erheben“ sollte. Das Gebäude umschließt einen großen Innenhof mit luftigen Brückengängen, darunter Gärten, in denen die regionale Flora in ihrer ganzen Vielfalt gedeiht. Die Architektur spiegelt die Ambitionen des Mannes wider, der 1960 die Pläne für das Gebäude abnahm: der argentinische Wirtschaftswissenschaftler und Diplomat Raúl Prebisch, zweiter Generalsekretär der Cepal von 1950 bis 1963.
Gegründet wurde die Cepal 1948, um „zur wirtschaftlichen Entwicklung Lateinamerikas beizutragen“, wie es auf ihrer Website heißt. Ihre erste Tätigkeit war die Erstellung und Vereinheitlichung von Statistiken, um ein möglichst genaues und zuverlässiges Bild der Volkswirtschaften der Region zu erhalten. Noch im selben Jahr wurde der erste „Wirtschaftsbericht über Lateinamerika und die Karibik“ veröffentlicht. Eine weitere Aufgabe war die Ausarbeitung von wirtschaftspolitischen Vorschlägen und Empfehlungen.
Prebischs Überzeugung nach hätte es der Region nichts gebracht, einfach „aus dem Norden importierte“ ökonomische Theorien zu recyceln, die „nicht an die lateinamerikanische Realität angepasst“ waren. Vielmehr sollte die Cepal ein „autochthones Entwicklungsmodell“ für die Region entwerfen. Auf diese Weise entging die UN-Institution dem von Prebisch befürchteten Schicksal einer „bedeutungslosen Bürokratie“, wie er in einem Aufsatz von 1963 schrieb,1 sondern wurde zu einem produktiven intellektuellen Zentrum, in dem einige der einflussreichsten und fortschrittlichsten Ideen in der Geschichte der Entwicklungspolitik entstanden.
Auf den ersten Blick war Prebisch durch nichts für diese Aufgabe prädestiniert. Er studierte an der Universität von Buenos Aires (neoklassische) Volkswirtschaft, arbeitete eine Zeit lang für die Lobby der Landbesitzer und bekleidete mehrere Positionen im Staatsdienst während der Militärdiktatur zwischen 1930 und 1943. „In Argentinien galt er als Symbol der alten Oligarchie“, schreibt sein Biograf Edgar Dosman und bezeichnet ihn als „aufgeklärten Konservativen“.2 Überraschenderweise brachten ihn ausgerechnet seine Erfahrungen in dieser Zeit, insbesondere bei der Bewältigung der Weltwirtschaftskrise ab 1929, von den neoklassischen Thesen ab. Die Krise traf die Länder der Region hart: Die Preise für die von Lateinamerika exportierten Rohstoffe fielen stärker als die Preise für verarbeitete Produkte aus den Industrieländern, wodurch sich die Importkapazität der lateinamerikanischen Volkswirtschaften glatt halbierte.
In Argentinien erwiesen sich die von Prebisch mitgetragenen orthodoxen Konjunkturmaßnahmen als vollkommen unwirksam. „Ich glaubte damals, alle Entwicklungsprobleme ließen sich durch das freie Spiel der Kräfte des internationalen Markts lösen. Aber die sorgenvollen Jahre während der großen Depression brachten mich dazu, alles, was mir beigebracht worden war, nach und nach über Bord zu werfen“, bekannte er 1963.
Die vom Völkerbund 1933 in London einberufene Konferenz zur Ankurbelung des Welthandels änderte nichts an der Misere der Entwicklungsländer. „Der Völkerbund hatte eine sehr angelsächsische Idee von den wirtschaftlichen Problemen der Welt und nur ein sehr marginales und sporadisches Interesse an den Ländern der Peripherie“, beklagte Prebisch, der als Vertreter Argentiniens an der Konferenz teilnahm. Großbritannien, Argentiniens wichtigster Handelspartner, verschärfte seine protektionistischen Maßnahmen und fokussierte sich ansonsten auf seine Kolonien.
Um London davon zu überzeugen, weiterhin argentinisches Rindfleisch zu importieren, rang sich Prebisch dazu durch, ein bilaterales Abkommen, den Roca-Runciman-Vertrag, zu unterzeichnen. Darin erklärte er sich bereit, den Preis für argentinisches Rindfleisch unter den anderer Exportländer zu senken. Aus dieser Demütigung zog Prebisch laut seinem Biografen eine wertvolle Lehre: „Die wahre Währung im internationalen Handel ist die Macht.“
Die Laufbahn des Ökonomen im argentinischen Staatsdienst fand 1943 ein jähes Ende, als eine Gruppe von Offizieren, darunter Oberst Juan Domingo Perón, den Diktator Ramón Castillo stürzte. Prebisch wurde als Direktor der Zentralbank entlassen, die er 1935 selbst mitgegründet hatte. Er verzieh Perón diese Kränkung nie. Die Feindschaft ging so weit, dass er 1955 sogar den Putsch gegen Perón unterstützte. Prebisch nahm Zuflucht zur Forschung, beschäftigte sich eingehend mit den Schriften von John Maynard Keynes und unternahm Reisen durch Lateinamerika, um den neuen Zentralbanken beratend zur Seite zu stehen.
Als er 1949 von der neu gegründeten Cepal den Auftrag erhielt, den ersten Bericht über „die wichtigsten Probleme Lateinamerikas“ zu verfassen, nutzte er die Gelegenheit, einige seiner Überlegungen zu Papier zu bringen. Er formulierte die Theorie, die ihn berühmt machte: die Prebisch-Singer-These (Hans Singer war ein deutscher Ökonom, der damals ähnliche Ideen vertrat). Die These besagt, dass beim internationalen Handel ein ungleicher Austausch stattfindet zwischen der „Peripherie“ – Länder, die sich auf die Produktion von Rohstoffen und Agrarprodukten spezialisiert haben – und dem „Zentrum“, das Industriewaren herstellt.
Auf der Grundlage empirischer Daten kam Prebisch zu dem Schluss, dass die Rohstoffpreise langfristig relativ zu den Preisen für verarbeitete Güter sinken. Diese „Verschlechterung der Terms of Trade“ (Austauschverhältnisse) zwingt die Peripherie, immer mehr zu exportieren, um sich die gleiche Menge an importierten Gütern leisten zu können, was ihre Entwicklung massiv behindert.3
Bei der Vorstellung seines Berichts in Havanna vor Vertretern der lateinamerikanischen Staaten regte Prebisch an, die Länder durch eine staatlich gelenkte Industrialisierungsstrategie aus der „peripheren Struktur“ herauszuführen. Ziel sollte sein, die Importe aus den Ländern des Zentrums durch inländische Produktion zu ersetzen – eine Entwicklung, die in einigen Ländern der Region nach dem faktischen Zusammenbruch des Welthandels während der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs ohnehin schon eingesetzt hatte.
Dosman schreibt, die Zuhörer seien durch Prebischs Vortrag „elektrisiert“ gewesen. „Er stellte erstmals die alte Doktrin des komparativen Kostenvorteils4 infrage. Die Vorstellung, die Agrarländer Lateinamerikas könnten in Zukunft florieren, auch wenn sie weiterhin Rohstoffproduzenten blieben, wurde grundsätzlich angefochten.“ Aus der Erkenntnis, dass unterentwickelte Länder andere Produktionsstrukturen als entwickelte Länder besitzen, leitete Prebisch „einen neuen Ansatz für die internationale Entwicklung“ ab, der als „Strukturalismus“ bekannt wurde.
Die Wirkung seines Berichts ging weit über theoretische Debatten hinaus: Er schuf eine regionale Identität in Lateinamerika. Durch Prebisch kamen Ökonomie und Politik zusammen. „Er half den lateinamerikanischen Ökonomen zu verstehen, dass die Region mehr als nur eine geografische Zone ist und dass die verschiedenen Länder dieselben Probleme haben“, kommentierte Enrique Iglesias, einer seiner ehemaligen Mitarbeiter und Exekutivsekretär der Cepal zwischen 1972 und 1985. Der brasilianische Wirtschaftswissenschaftler Celso Furtado, eine zentrale Figur des strukturalistischen Denkens, ging sogar so weit zu behaupten, dass nicht Kolumbus, sondern Prebisch „Lateinamerika erfunden“ habe.
Auf den Erfolg des Berichts hin, der heute als „Manifest der Cepal“ gilt, wurde der Argentinier 1950 zu ihrem Generalsekretär ernannt. Er sorgte dafür, dass die Organisation weit über ihren ursprünglichen Auftrag hinausging. Prebisch wollte die regionalistischen Ambitionen kanalisieren und die Cepal zu einem autonomen Zentrum der Ideen machen, in dem autochthone Entwicklungsansätze erforscht werden sollten.
Ähnlich wie Keynes in Cambridge umgab sich Prebisch damals mit einem Team von – zumeist lateinamerikanischen – Ökonomen aus ganz unterschiedlichen ideologischen Richtungen, darunter Celso Furtado, Aníbal Pinto, Osvaldo Sunkel und Alex Ganz, um nur die bekanntesten zu nennen. „Unser Ziel war es, dass wir Lateinamerikaner unsere Probleme mit unseren eigenen Kriterien angehen, ohne jegliche doktrinäre Unterwerfung“, erklärte Prebisch 1963. Die USA schlugen mehrmals vor, die Cepal mit der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zu verschmelzen und ihren Sitz nach Washington zu verlegen, hatten aber keinen Erfolg damit.
In den 1950er und 1960er Jahren beeinflusste der Strukturalismus der Cepal zahlreiche entwicklungspolitische Projekte in der Region. 1956 etwa begann der brasilianische Präsident Juscelino Kubitschek (1956–1961) mit einem ehrgeizigen Plan zur industriellen Aufholjagd, den er „Fünfzig Jahre Fortschritt in fünf Jahren“ nannte. In Argentinien verfolgte Juan Perón bis 1955 eine Politik des wirtschaftlichen Nationalismus, um den Binnenmarkt und die Industrie unter strenger staatlicher Kontrolle auszubauen.
Um diese Bemühungen zu unterstützen, gründete die Cepal Anfang der 1960er Jahre das Lateinamerikanische Institut für Wirtschafts- und Sozialplanung (Ilpes) zur Ausbildung von Führungskräften. Tatsächlich fand Lateinamerika durch die industrielle Entwicklung zu einem dynamischen Wachstum zurück. In den sechs größten Volkswirtschaften, Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko und Uruguay, verdoppelten sich die Wachstumsraten zwischen 1945 und 1972 gegenüber der Zeit von 1900 bis 1940, der Ära der reinen Agrarexporte.
Ab Mitte der 1960er Jahre ging dieser Strategie jedoch in den meisten Ländern die Luft aus. „Die Phase der ‚leichten‘ Entwicklung ist überall ausgereizt“, konstatierte Celso Furtado, der damalige Leiter der Cepal-Abteilung für wirtschaftliche Entwicklung – seinerzeit als die „rote Abteilung“ bekannt.5 Den heimischen Industrien fehlte es an Wettbewerbsfähigkeit, um auf den internationalen Märkten zu bestehen. Und nur selten gelang es, die für die weitere Industrialisierung notwendigen Maschinen selbst zu produzieren. Die paradoxe Folge: Die angestrebte „Importsubstitution“ führte zu einem erhöhten Bedarf an Importen. Die Handelsdefizite wurden daher immer größer, die Staatsschulden explodierten, der Inflationsdruck nahm zu.
Die Industrialisierung ging überdies mit neuen sozialen Spannungen einher. In den aufstrebenden Industrien entstanden keine ausreichenden Beschäftigungsmöglichkeiten, um die Arbeitskräfte aufzunehmen, die massenhaft in die Städte abwanderten. Arbeitslosigkeit beziehungsweise Unterbeschäftigung, Armut und Ungleichheit nahmen massiv zu. In einigen Ländern begann das neue Proletariat zu rebellieren. So griffen in Bolivien die Arbeiter 1952 zu den Waffen, um die Militärjunta hinwegzufegen. In Kuba gab sich ein gewisser Fidel Castro 1959 nicht damit zufrieden, den Diktator Fulgencio Batista zu stürzen, er rebellierte auch gegen die Ausbeutung der Region durch die Großmächte, allen voran die USA.
All das zwang die Cepal zu einer kritischen Selbstreflexion: War die strukturalistische Theorie für die Realität in der Region vielleicht ungeeignet? Prebischs Text von 1963 suggeriert das Gegenteil: Der Strukturalismus sei vielmehr nicht weit genug gegangen. Indem er sich übermäßig auf die Produktionsstruktur konzentrierte, habe er eine andere wesentliche Dimension des peripheren Zustands außer Acht gelassen, nämlich die zutiefst ungleiche Sozialstruktur.
Diese hindere die Massen daran, die neuen, lokal produzierten Güter zu konsumieren. Zugleich aber verleite sie die Eliten dazu, die Konsummuster des Nordens nachzuahmen, anstatt in neue Industrien zu investieren. Die Bourgeoisie nehme also ihre historische Rolle nicht wahr. Für den Ökonomen, der kurz zuvor noch den argentinischen Diktatoren nahegestanden hatte, war klar: „Keine Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung ohne Umwälzung der Sozialstruktur.“
Die Cepal begann daraufhin eine Kampagne für umfassende Agrarreformen. Es ging ihr dabei nicht nur darum, die Bauern durch die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen dazu zu bewegen, auf dem Land zu bleiben, sondern auch um „einen tiefgreifenden kulturellen Wandel in der herrschenden Klasse zu fördern, der notwendig ist, um im industrialistischen Abenteuer bestehen zu können“, wie der Wirtschaftswissenschaftler Armando Di Filippo erklärte, der von 1970 bis 2000 für die Cepal arbeitete. Ebenso nötig sei „der Übergang von einer Wirtschaftselite bloßer Rentiers“ zu einer „neuen Unternehmerklasse“.6
Einige der für die Cepal tätigen Wissenschaftler fanden das naiv – wie der Soziologe Enzo Faletto und Fernando Cardoso, der spätere Präsident Brasiliens (1995–2003). Sie traten den strukturalistischen Thesen mit einem neuen Ansatz entgegen, der als Dependenztheorie bekannt wurde. Denn „die Industrialisierung hat die Abhängigkeit der Peripherie vom Zentrum nicht aufgehoben, sondern nur verändert“, erklärt der Historiker und Cepal-Experte Ricardo Bielschowsky.7
In ihrem Grundlagentext „Entwicklung und Abhängigkeit in Lateinamerika“ von 1969 zeigten Faletto und Cardoso, wie die zunehmende Beteiligung von ausländischem Kapital und multinationalen Konzernen am Industrialisierungsprozess dazu führte, dass externe Interessen immer größeren Einfluss im Produktionssektor gewannen. „Das Herrschaftssystem taucht als ‚interne‘ Kraft wieder auf, und zwar durch die sozialen Praktiken einheimischer Gruppen und Klassen, die ausländische Interessen vertreten.“8
Wie könne man unter diesen Umständen erwarten, dass sich in Lateinamerika eine lokale Bourgeoisie herausbildet, nach dem Vorbild des Bürgertums, das die europäischen Volkswirtschaften im 18. und 19. Jahrhundert modernisierte? Die Anhänger der Dependenztheorie hielten den Strukturalismus für zu reformistisch. In ihren Augen gab es nur zwei Optionen, fasst der Cepal-Experte Fernando Leiva, Professor an der University of California in Santa Cruz, zusammen: „Revolution oder Unterentwicklung“.
Die allmähliche Radikalisierung der Cepal wurde jedoch durch ein politisches Erdbeben in der Region gestoppt. Am 11. September 1973 stürzte General Augusto Pinochet den sozialistischen Präsidenten Chiles, Salvador Allende, und läutete damit die Rückkehr der Militärdiktaturen in Südamerika ein.
Die brutale Repression durch das Pinochet-Regime schmälerte die intellektuelle Freiheit der Cepal. Einige Monate nach dem Putsch nahmen Militärs einen jungen Cepal-Beamten fest. Er wurde nie wieder gesehen. 1976 starb ein weiterer Beamter unter der Folter. Viele Cepalinos entschieden sich fürs Exil. „Einen Großteil meiner Arbeitskraft musste ich in diesen Jahren darauf verwenden, Kontakt zu Menschenrechtsorganisationen aufzunehmen und ansonsten in einem sehr schwierigen Umfeld zu überleben“, erinnert sich Enrique Iglesias.
Internationale Konferenzen wurden kaum noch abgehalten. „Zwischen 1973 und 1989 verlor die Cepal-Zentrale das, was bis dahin einer ihrer größten Trümpfe war, nämlich die Fähigkeit, lateinamerikanische Intellektuelle zusammenzubringen“, schreibt Bielschowsky.
Die chilenische Diktatur überließ die Wirtschaftspolitik den als „Chicago Boys“ bekannt gewordenen Ökonomen von der University of Chicago. Das Land wurde zum Laboratorium dessen, was man bald als Neoliberalismus kennen sollte. In den USA machte unterdessen der neue Vorsitzende der Federal Reserve, Paul Volcker, den Kampf gegen die Inflation zu seiner obersten Priorität. Er setzte eine plötzliche Erhöhung der US-Zinsen durch, was in den Ländern des Globalen Südens zu einer wahren Schuldenexplosion führte. Besonders hart traf es die Länder Lateinamerikas mit ihren hohen Dollar-Schulden. Sie fielen in eine lang anhaltende finanzielle Agonie.
Die Cepal diente den Chicago Boys als Sündenbock. „Alle Verantwortung für die Schuldenkrise wurde den betroffenen Staaten zugeschoben – mit der Begründung, sie hätten mit ihrem protektionistischen Industrialisierungsmodell eine unverantwortliche Politik verfolgt“, analysiert Bielschowsky. 1989 wurde der neoliberale Kurs durch den „Washingtoner Konsens“ festgeschrieben: IWF, Weltbank und die Chicago Boys beschlossen, die Hilfskredite der beiden Finanzinstitutionen künftig von einer Reihe von Liberalisierungs-, Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen abhängig zu machen. Angesichts der Ebbe in den Staatskassen und der Probleme, weitere Auslandskredite zu erhalten, mussten sich früher oder später alle Länder der Region diesen Maßnahmen unterwerfen.
Als in den 1990er Jahren die Demokratie in die Region zurückkehrte, wachte die Cepal nach einem Jahrzehnt des intellektuellen Winterschlafs in einer veränderten Welt auf. Transnationale Konzerne mischten überall mit, öffentliche Unternehmen wurden privatisiert, die Wirtschaft finanzialisiert und die Ungleichheit explodierte.
Um wieder eine eigene Stimme zu finden, musste die Cepal ihre theoretischen Grundlagen neu denken. 1990 läutete ein von den Wirtschaftswissenschaftlern Gert Rosenthal, Generaldirektor zwischen 1988 und 1998, und Fernando Fajnzylber herausgegebenes Dokument unter der Überschrift „Gerechte, produktive Transformation“ eine neue Ära der Cepal ein, die des Neostrukturalismus.9 Es ging nun nicht mehr darum, „Gleichheit“ zu erreichen – eine Forderung aus einer anderen Epoche –, sondern „Chancengleichheit“, die mit den Gesetzen des Markts besser vereinbar schien.
Chicago Boys gegen Cepalinos
Inspiriert vom ostasiatischen Modell, kritisiert die neue Schule den „exzessiven Protektionismus“ im Rahmen der Industrialisierungsexperimente der 1950er Jahre und plädiert für eine „neue Industrialisierung“ mit der Förderung von technologieintensiven Nischensektoren, mehr Öffnung für den Welthandel und allenfalls moderate staatliche Interventionen.
Nicht alle Cepalinos begrüßten diese ideologische Modernisierung mit Enthusiasmus. „Das Papier wurde im Haus kritisiert, weil es als Rechtsruck wahrgenommen wurde“, erinnert sich der Cepal-Ökonom Gabriel Porcile. „Viele Ideen darin wurden aus der neoklassischen Ökonomie übernommen.“ Begriffe wie „Zentrum und Peripherie“, „nach innen gerichtete Entwicklung“, „Abhängigkeit“ oder „Sozialstruktur“ kamen darin gar nicht mehr vor. Stattdessen war jetzt von „Globalisierung mit menschlichem Gesicht“, „offenem Regionalismus“, „demokratischem Konsens“ oder „proaktiver Flexibilisierung der Arbeit“ die Rede. „Um mitreden zu können, musste die Cepal ihre Seele an den Teufel verkaufen“, meint der Cepal-Experte Leiva. „Und der Teufel verlangte wirtschaftspolitische Konzepte, die jegliche Analyse von Machtbeziehungen unberücksichtigt lassen.“10
Das verarmte „cepalesische“ Denken schlägt sich in der eher gemischten Bilanz der direkt von neostrukturalistischen Ideen beeinflussten Regierungen nieder: der der Concertación in Chile (1990–2010) und der Arbeiterpartei (PT) in Brasilien (2003–2016). „Als sich der neostrukturalistische Diskurs mit der störrischen Realität der Klassenherrschaft in Chile und Brasilien konfrontiert sah, hat er den entsprechenden Weg eingeschlagen: die Unterwerfung“, so Leiva weiter. So war der chilenische Bildungsminister unter Präsident Ricardo Lagos und ausgewiesene Neostrukturalist Sergio Bitar, der sich öffentlich für den Zugang zu Bildung für alle einsetzte, 2005 einer der Architekten der Privatisierung der Bildung.
In Brasilien machte Lula da Silva die wirtschaftliche Souveränität zu einem Wahlkampfthema, setzte letztlich aber die makroökonomischen Reformen seines Vorgängers Cardoso fort, der von der Dependenztheorie zum Neoliberalismus gewechselt war. Der Neostrukturalismus hat sich selbst der Werkzeuge beraubt, mit denen er seine eigenen Versprechen hätte halten können.
Im Kontext der Finanzkrise von 2008/09 und der sozialistischen Regierungen ab 1999 in Venezuela, 2006 in Bolivien und 2007 in Ecuador wurde der Neoliberalismus in der Region allerdings zunehmend infrage gestellt. Doch abgesehen von einem stärkeren Engagement für Gleichheit seit der Ernennung der Mexikanerin Alicia Bárcena zur Cepal-Generalsekretärin im Jahr 2007 hat die Cepal bislang nicht die Gelegenheit genutzt, um an ihre frühere Kreativität anzuknüpfen.
Dabei machen die aktuellen Umwelt- und Gesundheitskrisen deutlich, wie dringlich es wäre, Zweck und Ziel der wirtschaftlichen Entwicklung Lateinamerikas neu zu definieren. In ihrem letzten großen Dokument von 2020 unter dem Titel „Eine neue Zukunft schaffen: ein transformativer Aufschwung in Gleichheit und Nachhaltigkeit“ propagiert die Cepal ein „neues Entwicklungsmodell, das sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltig ist“.11
Ob sie die strukturalistische Utopie wieder auf die Tagesordnung setzen wird? Das einzige Überbleibsel ihres einstigen intellektuellen Nonkonformismus jedenfalls scheint das Gebäude zu sein, in dem sie ihren Sitz hat.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Baptiste Albertone ist Doktorand in Entwicklungsökonomie; Anne-Dominique Correa ist Journalistin.