10.02.2022

Konzerne fressen sich durchs Land

zurück

Konzerne fressen sich durchs Land

Landgrabbing findet nicht nur im Globalen Süden statt, sondern auch in Frankreich

von Lucile Leclair

Lauchernte THOMAS BRÉGARDIS/picture alliance/PHOTOPQR/OUEST FRANCE/MAXPPP
Audio: Artikel vorlesen lassen

Im April 2016 geriet der chinesische Lebensmittelkonzern Re­ward des Milliardärs Hu Keqin in die Schlagzeilen, weil er in den französischen Départements Indre und Allier 1700 Hektar Getreideland gekauft hatte. Das entspricht dem Zwanzigfachen der Größe eines durchschnittlichen Landwirtschaftsbetriebs in Frankreich. Reward wollte seine geplante Bäckereikette Chez Blandine mit 1500 Filialen in ganz China mit französischem Mehl beliefern. Doch 2019 meldete der Konzern Konkurs an. Drei bereits eröffnete Bäckereien mussten wieder schließen. Der Agrarbetrieb wird allerdings weitergeführt, und zwar von der französischen Tochtergesellschaft Ressource Investment, die der Insolvenz entgangen ist.

Der Fall offenbart die Schwächen des französischen Schutzsystems für landwirtschaftliche Ressourcen und hat eine allgemeine Entwicklung in der Landwirtschaft sichtbar gemacht: Das Engagement von Investoren neuen Typs zeigt, dass das sogenannte Landgrabbing nicht nur den Globalen Süden betrifft.

Auf dem Bodenmarkt findet ein unerbittlicher Verteilungskampf statt. Landwirte müssen immer häufiger mit internationalen Großkonzerne konkurrieren, gegen die sie nur selten eine Chance haben. Die Konzerne begnügen sich nicht mehr mit der Vermarktung von Agrarprodukten, sondern wollen die gesamte Produktionskette unter ihre Kontrolle bringen.

Diese Entwicklung begann in den 2010er Jahren, berichten die Agrar­wis­sen­schaft­le­rin­ Geneviève Nguyen und ihr Kollege François Purseigle: „Für viele Großkonzerne ist die Landwirtschaft lediglich ein Geschäftsfeld neben anderen.“ Nguyen und Purseigle gehörten zu den Ersten, die sich für das Phänomen der vertikalen Konzentration interessierten; zu einer Zeit, als noch die horizontale Konzentration, bei der Unternehmen auf der gleichen Produk­tions­stufe fusionieren, im Zentrum der Aufmerksamkeit stand.

In ihrem Buch über den neuen Landwirtschaftskapitalismus1 schätzten sie 2017, dass 10 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe in Frankreich als „Firmen“ bezeichnet werden können. Auf diese Unternehmen entfielen damals 28 Prozent der Arbeitsplätze und 30 Prozent der produzierten Güter im Landwirtschaftsbereich. Allerdings legen sie den Begriff „Firma“ sehr weit aus, sodass teilweise auch Familienbetriebe und andere Zusammenschlüsse von Produktionseinheiten darunter fallen. Wie viele dieser Firmen zu Holdings gehören, die von großen Konzernen kontrolliert werden, lässt sich schlecht quantifizieren, weil dafür die statistischen Instrumente fehlen.

So bleiben die Agrarbetriebe neuen Typs oft unbemerkt. In der Camargue liegen riesige bewässerte Flächen direkt neben einem berühmten Naturschutzgebiet. In dieser Postkartenlandschaft hat der größte Reishändler Europas, Euricom, 1998 die Société Fran­çaise des Riz de Choix aufgekauft. Die italienische Muttergesellschaft von Euricom unterhält Handelsbeziehungen mit rund 40 Ländern. Am Firmensitz von Riz de Choix in Port-­Saint-­Louis-­du-­Rhône – einem riesigen Bauernhaus vor endlosen Reihen von Reispflanzen – weist nichts darauf hin, dass das Land Euricom gehört. Aber der Konzern besitzt dort 1300 Hektar, die nur einen Teil seines Grundbesitzes weltweit ausmachen.

Blumenfelder für Chanel

Französischer Boden und französisches Getreide stehen hoch im Kurs. Sie genießen einen guten Ruf auf dem EU-Binnenmarkt und interna­tio­nal, weil die Umwelt- und Sozialnormen strenger sind als in anderen Ländern. Euricom hat den Boden gekauft, nachdem der Reis der Camargue die Bezeichnung „Produkt mit geschützter geografischer Angabe“ (Indication géo­gra­phique protégée, IGP) erhalten hatte. Dieses Siegel, das nicht mit der „geschützten Ursprungsbezeichnung“ (Appellation d’origine protégée, AOP) zu verwechseln ist, garantiert dem Verbraucher, dass zumindest eine Stufe der Produktion in der genannten Re­gion erfolgt ist und bestimmte Standards eingehalten wurden – die Ausbringung von Pestiziden verbietet es nicht.

Der Landbesitz bietet drei entscheidende Vorteile. Erstens kann sich Euricom selbst versorgen und ist nicht auf andere Produzenten angewiesen. Zweitens verschafft die direkte Kontrolle über den Rohstoff mehr Flexibilität, um auf die sich wandelnden Bedürfnisse der Konsumenten zu reagieren. Und drittens spart der Konzern Kosten, er muss weder Landwirte, Kooperativen noch Großhändler bezahlen.

Die Konzerne versuchen mit allen Mitteln, ihre Produktionskosten zu senken, deswegen wachsen sie immer weiter. Durch staatliche Hilfen wird die Konzentration noch gefördert. Euricom hat 2021 im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union Zuschüsse in Höhe von 680 000 Euro erhalten.2 Die durchschnittlichen Beihilfen pro Bauern­hof lagen bei etwa 30 000 Euro.

Das europäische System enthält keine Größenbegrenzung. Je mehr Hektar man hat, desto mehr Hilfen bekommt man. Die GAP sollte ursprünglich den Landwirten ein Einkommen sichern, fördert aber heute die Entstehung und Verbreitung eines agroindustriellen Modells, dessen Vertreter nichts mehr mit den Bauern von einst zu tun haben.

Die neuen Landwirtschaftsbetriebe beruhen auf Lohnarbeit. Landarbeiter erledigen die Feldarbeit, angeleitet von Agromanagern in fernen Büros. In dem Euricom-Betrieb in der Camargue kommen die Anweisungen von ganz oben. Egal ob es um die Festlegung der Anbaukulturen, um das verwendete Material oder die Arbeitszeiten geht – alle Vorgaben kommen aus der Firmenzentrale, die mehr als 500 Kilometer entfernt in der Lombardei steht.

„Die Entscheidungsfreiheit wird durch den Eigentümer des Bodens eingeschränkt, das entspricht nicht unserer Auffassung vom Beruf“, sagt Henri Bies-Péré. Er ist Vizepräsident der Fédération nationale des syndicats d’exploitants agricoles (FNSEA), des Dachverbands der französischen Agrargewerkschaften. Bei diesem Thema sind sich die vier wichtigsten Bauernverbände ausnahmsweise einmal einig: Wenn die Betriebe immer stärker in den industriellen Komplex integriert werden, wäre das das Ende der Landwirte.

Den Lebensmittelkonzernen wurde schon oft vorgeworfen, die Preise zu diktieren. Inzwischen kommt noch eine immer stärkere Konzentration der Entscheidungsmacht und des produzierten Reichtums dazu. Die Errungenschaften im „400-jährigen Kampf“ der Landarbeiter, ihr Land selbst zu besitzen, den Émile Zola in seinem Roman „Die Erde“3 beschreibt, könnten die jüngsten Entwicklungen wieder zunichte machen.

Warum stürzen sich die Investoren plötzlich auf den Boden, für den sie sich bisher nicht sonderlich interessiert haben? Der Landwirtschaftssektor befindet sich in einer nicht enden wollenden Krise. Die Bauern schuften oft 60 Stunden pro Woche, um sich am Ende des Monats ein paar hundert Euro auszahlen zu können und Berge von Krediten abzustottern. Vor diesem Hinter­grund ist es nicht erstaunlich, dass das Geld aus der Industrie willkommen ist.

Wenn man in Frankreich Grund und Boden kaufen will, braucht man die Zustimmung der So­cié­té d’amé­nage­ment foncier et d’éta­blisse­ment rural (Safer). In jedem Dé­parte­ment gibt es eine solche Gesellschaft, die im Interesse des Gemeinwohls das landwirtschaftliche Nutzland zugunsten der Landwirte verteilen sollen. Doch dieser Auftrag wird zunehmend missachtet,4 wie einige Beispiele zeigen.

2019 wollte der Lebensmittelkonzern Fleury Michon im Département ­Sarthe 20 Hektar Land kaufen, um eine eigene Schweinezucht zu betreiben. Drei Angestellte sollten sie führen. Die Safer akzeptierte den Kauf. 2020 erwarb das Unternehmen Chanel 8,5 Hektar in der Ebene von Grasse, um Blumen für seine Parfüms anzubauen. Die Safer erhob keinen Einspruch. Em­ma­nuel Hyest, Präsident des Dachverbands Fédération nationale des Safer (FNSafer), wollte sich auf Anfrage nicht dazu äußern. Die Safer wurden mit dem Auftrag gegründet, das Modell unabhängiger Höfe zu erhalten, doch inzwischen dienen sie immer häufiger als Steigbügelhalter für Unternehmen auf der Suche nach Land.

Diese Entwicklung lässt sich durch die veränderte Finanzierungsstruktur der Safer erklären. Bei ihrer Gründung in den 1960er Jahren wurden sie zu 80 Prozent aus staatlichen Mitteln finanziert. Bis 2017 ist dieser Anteil auf 2 Prozent gesunken. Heute kommt der Hauptteil ihrer Einnahmen aus den Transaktionen, die sie genehmigen. Mehr Verkäufe bedeuten also mehr Einnahmen. „Das entspricht nicht ihrem Auftrag im Interesse des Gemeinwohls“, folgert Benoît Grimonprez, Fachmann für Landwirtschaftsrecht an der Universität Poitiers.

„Die Wirksamkeit der Instrumente, die auf dem Modell inhabergeführter Familienunternehmen gründet, schwindet angesichts der Umstrukturierung hin zu Landwirtschaftsfirmen ohne natürliche Person an der Spitze“, stellte auch eine Gruppe Parlamenta­rier fest, die im Februar 2021 einen Gesetzentwurf einbrachte, um den Bodenmarkt zu regulieren.5 In Frankreich werden inzwischen fast zwei Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche von solchen Firmen bewirtschaften. Die Abgeordneten würdigen zwar die Vorteile dessen – optimierte Verwaltung, Kontinuität im Erbfall –, stellen aber fest, dass sie „leider immer öfter auch dazu genutzt werden, sich über Vorschriften hinwegzusetzen“.

Ohne eine umfassende politische Strategie mit dem Ziel, die Gier der Unternehmen zu bremsen, werden sie sich weiter durch das Land fressen. Ein Beispiel ist Aqua­lande. Das französische Unternehmen gehört zu Labeyrie Fine Foods, der Nummer eins bei Gänseleber, Räucherlachs, Forelle und Meeresprodukten in Frankreich. Mit 37 Anlagen in zehn Départements besitzt Aqualande inzwischen die größte Fischzucht des Landes.

Die Konzentration von Reichtum und Produktionsmitteln kennzeichnet auch andere Wirtschaftszweige, aber in der Landwirtschaft kommt noch eine weitere Entwicklung hinzu: In Frankreich ist jeder vierte Landwirt über 60 Jahre alt. Wenn alle, die in den nächsten drei Jahren das Renteneintrittsalter erreichen, in den Ruhestand gehen, müssen 160 000 Höfe einen Nachfolger finden. Da wird es große Verschiebungen geben.

Der Medienrummel um chinesische Investoren wie Reward verbirgt, worum es eigentlich geht. 2017 gab es nach einem Bericht der FNSafer nur 2 Prozent ausländische Käufer.6 Landgrabbing ist vor allem eine französische Angelegenheit. Die größte Rolle spielen na­tio­na­le oder regionale Unternehmen wie Altho, mit Sitz im Département Morbihan, Nummer eins bei französischen Kartoffelchips, oder das Kosmetikunternehmen Pierre Fabre im Départment Tarn. 2020 warnte der französische Rechnungshof vor den Folgen einer Zunahme solcher Transaktionen. Im Jahr 2018 hatten sie einen Umfang von 1,1 Milliarden Euro, was 18 Prozent des gesamten Marktvolumens für landwirtschaftliche Flächen entspricht.

Auf Drängen des Rechnungshofs beschloss das französische Parlament am 13. Dezember 2021 ein Gesetz über „Notmaßnahmen, um den Zugang zu landwirtschaftlichen Nutzflächen für Unternehmensstrukturen zu regulieren“. Der Text sieht die Einführung neuer Kontrollen durch die Safer vor, die in zwei Fällen die Zustimmung der Präfektur einholen muss: wenn ein Kauf 40 Prozent der Anteile des Unternehmens übersteigt, abgesehen von Übertragungen an Familienmitglieder, sofern diese sich verpflichten, die Bewirtschaftung fortzusetzen; und wenn die Gesamtfläche nach dem Kauf durch das Unternehmen die Schwelle einer „signifikanten Vergrößerung“ überschreitet, die für jede Region festgelegt wird. Sie liegt zwischen dem Anderthalb- und dem Dreifachen der durchschnittlichen Nutzfläche der Landwirtschaftsbetriebe in der Region.

Das Gesetz sieht jedoch zahlreiche Ausnahmen vor, die seine Wirksamkeit teilweise einschränken. So werden die Safer etwa dazu verpflichtet, bei ihren Entscheidungen auch die „Entwicklung bezüglich der Schaffung von Arbeitsplätzen und die Wirtschafts-, Sozial- und Umweltleistungen“ zu berücksichtigen.

Das Gesetz wurde von der Regierung als Zwischenetappe vorgestellt – das große Bodengesetz, das die Landwirtschaftsorganisationen nachdrücklich fordern, kann es nicht ersetzen. Die FNSEA erklärt, sie wolle „intern weiter nachdenken“, um die Landwirte nachhaltiger zu schützen. „Wir brauchen eine Veränderung der Politik, um den Boden anders zu verteilen“, fordert die Bauernorganisation Confédération pay­sanne. Und die Bewegung zur Verteidigung der Familienunternehmen (Modef) verlangt, dass ein Gesetz „die Preise für Nutzflächen so begrenzt, dass sie in einem angemessenen Verhältnis zum Einkommen stehen, das sich auf ihnen erwirtschaften lässt“.

Der seit Dezember 2018 bestehende parlamentarische Informationsausschuss sprach von der Schaffung eines zentralen Instruments zur Regulierung der landwirtschaftlichen Nutzfläche durch eine unabhängige Behörde. Die Europäische Kommission hat bereits starke Maßnahmen wie das Vorkaufsrecht für Landwirte, eine Höchstgrenze für die Größe von Landbesitz und Vorkehrungen gegen Spekulation genehmigt.

Was jedoch noch fehlt, ist der politische Wille, gegen die großen Unternehmen vorzugehen; und ein breiteres Bewusstsein, das dafür sorgt, dass der Boden ein „politischer Raum“ bleibt, wie der Soziologe und Philosoph Henri Lefebvre sagte. Mit anderen Worten: ein Raum, der von den Entscheidungen aller geprägt wird, nicht von denen einiger weniger.

1 François Purseigle, Geneviève Nguyen und Pierre Blanc, „Le Nouveau Capitalisme agricole. De la ferme à la ­firme“, Paris (Presses de Sciences Po) 2017.

2 Quelle: Telepac, Landwirtschaftsministerium.

3 Émile Zola, „Die Erde“, Berlin (Rütten & Loening) 1982.

4 Siehe „La bagarre de l’hectare“, LMd (Paris), Juli 2019.

5 Begründung für den Gesetzesantrag Nr. 3853 für „Notmaßnahmen, um den Zugang zu landwirtschaftlichen Nutzflächen für Unternehmensstrukturen zu regulieren“, 9. Februar 2021.

6 „Le Prix des terres. L’essentiel des marchés fonciers ruraux en 2017“, FNsafer, Paris, Mai 2018.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Lucile Leclair ist Journalistin und Autorin von „Hold-up sur la terre“, Paris (Seuil) 2022.

Le Monde diplomatique vom 10.02.2022, von Lucile Leclair