Geldpaniker
Woher die Inflationsangst kommt
von Frédéric Lemaire
Seit einigen Monaten gibt es fast täglich Horrormeldungen über steigende Preise und neue Inflationsrekorde. Vor einigen Jahren stand die öffentliche Debatte noch im Zeichen des gegenläufigen Phänomens, nämlich einer Deflation.
Dieser schleichende Prozess, der durch sinkende Preise und Löhne sowie den Rückgang der Investitionen und der gesamten Wirtschaftstätigkeit gekennzeichnet ist, setzte nach der Finanzkrise von 2007/08 ein und machte die Ökonomen in den USA und in Europa höchst nervös.
Damals drohte die Deflation die EU und die USA in eine gefährliche Abwärtsspirale zu ziehen. Deshalb griffen die US-Notenbank (Fed) und die Europäische Zentralbank (EZB), die eigentlich auf eine strenge Geldpolitik eingeschworen waren, auf ein ungeliebtes Rezept zurück. Sie überschwemmten die Weltwirtschaft mit Liquidität, um die Preise wieder in die Höhe zu treiben. Das gelang, aber damit ist die Sorge zurück, der Inflationsdruck könnte die Weltwirtschaft destabilisieren.
Die Inflationsängste tauchen also erneut in den Schlagzeilen auf. Die meisten Ländern melden einen nie dagewesenen Anstieg der Verbraucherpreise. In den USA lag die Inflationsrate im Januar bei 7,5 Prozent, so hoch wie seit 1982 nicht mehr. In der Eurozone betrug sie im Februar 5,8 Prozent; in Deutschland und Spanien stieg sie auf ein 30-Jahres-Rekordhoch.
Wie ist dieser Umschwung zu erklären? Hat die Welt die Charybdis der Deflation nur umschifft, um anschließend von der Skylla der Inflation verschlungen zu werden?
Die Inflation wird anhand eines Wirtschaftsindikators gemessen, der die allgemeine Preisentwicklung in dem betreffenden Währungsgebiet erfasst und als prozentuale Veränderung ausdrückt, etwa zum Vormonat oder zum gleichen Monat des Vorjahres, was dann die Jahresinflationsrate ausmacht.
In der Praxis messen die nationalen Statistikämter die Inflation anhand des Verbraucherpreisindexes. Dieser Index gibt die Preisentwicklung für eine Reihe von Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs wieder. In den von Eurostat ermittelten Index gehen 700 Positionen ein, darunter die Preise für Brot und andere Grundnahrungsmittel, aber auch für Kleidung, Haushaltsgeräte und Friseurbesuche. Mit dem Index lässt sich sowohl die Preisentwicklung als auch die Veränderung der Kaufkraft erfassen. Sind die Preise gegenüber dem Vorjahr gestiegen, kann mit derselben Euro-Summe entsprechend weniger Ware gekauft werden.
Die Auswirkungen eines solchen Kaufkraftverlusts sind keineswegs überall gleich. So kann eine stärkere Inflation für Schuldnerstaaten durchaus nützlich sein, da sie die Schulden teilweise entwertet und damit die Schuldenlast verringert.
Solange die Löhne dem Preisanstieg folgen, über neue Tarifverträge oder durch eine Bindung der Löhne an die Preisentwicklung (Indexierung genannt), kommt das auch verschuldeten Haushalte zugute. In Frankreich etwa haben verschiedene Formen der Indexierung dazu beigetragen, Arbeiter
und Arbeiterinnen in den 1970er Jahren vor den Auswirkungen der ausufernden Inflation zu schützen.
Wenn die Preise für Energie, Transport und Lebensmittel steigen, ohne dass die Einkommensentwicklung den Kaufkraftverlust ausgleicht, verwandelt sich die Inflation in eine „Besteuerung der Armen“, wie der frühere französische Präsident François Mitterrand bemerkte – der im Übrigen 1982 die Indexierung der Löhne abgeschafft hat.1 Wir haben es also mit einem Sachverhalt der Umverteilung zu tun, der je nach den institutionellen Vereinbarungen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen unterschiedliche Auswirkungen hat. Wobei es freilich eine Konstante gibt: Bei Gläubigern und Kleinsparern ist die Inflation verhasst, weil sie den Wert ihrer Forderungen beziehungsweise Ersparnisse mindert.
In den 1970er und 1980er Jahren gehörte die Inflation vor allem in den USA zu den gravierendsten wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Nicht nur dass die Preise rasant stiegen – 1974 und von 1979 bis 1981 lag die Inflationsrate im zweistelligen Bereich –, parallel dazu stagnierte auch das Wirtschaftswachstum, während die Arbeitslosigkeit zunahm. Man nannte es damals Stagflation (Stagnation plus Inflation). Die neoliberalen Ökonomen, die bereits seit Ende des Zweiten Weltkriegs rhetorisch in der Offensive waren, nahmen diese Stagflation zum Anlass, ihre Sichtweise durchzusetzen.
Bis dahin hatte die keynesianisch orientierte Wirtschaftspolitik möglichst hohe Wachstumsraten angestrebt, wofür sie auch höhere Haushaltsdefizite und eine maßvolle Inflation in Kauf nahm. Jetzt dagegen machte die neue wirtschaftspolitische Denkrichtung, angeführt von Milton Friedman und seiner Chicagoer Schule, die Bekämpfung der Inflation zur obersten Priorität – auch wenn damit die Wirtschaft in eine Rezession schlitterte.
Der Startschuss für die neue Politik war 1979 eine grundlegende Entscheidung: die drastische Erhöhung des Leitzinses durch die Fed und deren Vorsitzenden Paul Volcker. Das bedeutete schlicht, dass die Inflation gestoppt wurde, indem man die US-Wirtschaft strangulierte. Als Folge dieser Schocktherapie sank die Inflationsrate zwischen 1980 und 1983 tatsächlich von 13,6 auf 3,2 Prozent.
Dieser Rückgang war allerdings auch auf ein günstiges Umfeld zurückzuführen, insbesondere auf die sinkenden Rohölpreise nach den Ölpreiskrisen der 1970er Jahre. Für die Neoliberalen stand damit fest, dass die monetaristische Rosskur angeschlagen hatte. Das war wichtiger als ein paar Nebenwirkungen wie etwa die Pleitewelle, die steigende Arbeitslosigkeit und die schwere Rezession, die der Bevölkerung zu schaffen machten.
Dieselben Überzeugungen bestimmten den Aufbau der Europäischen Union und damit die Regeln, die im 1992 unterzeichneten Vertrag von Maastricht festgelegt wurden: das Verbot übermäßiger Haushaltsdefizite und die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank.
Beide Regelungen sollten ausschließen, dass Mitgliedstaaten eine Politik verfolgten, die als inflationstreibend galt. In diesem Sinne wurden explizite Prinzipien für die Geldpolitik festgelegt, vorweg das Ziel, die Inflation auf einem niedrigen Niveau zu halten. Preisstabilität zu gewährleisten wurde zur wichtigsten Aufgabe der EZB erhoben. Die Politik wurde damit in ein Korsett von Regeln gezwängt, die eins zu eins den ordoliberalen Prinzipien entsprachen.2
Schreckgespenst Stagflation
Der neuen geldpolitischen Doktrin zufolge musste die Preisentwicklung konsequent eingedämmt werden, was auf eine äußerst restriktive Politik hinauslief: Sobald die Konjunktur Anzeichen einer Überhitzung zeigte, wurde sie durch Anhebung der Zinssätze gedrosselt. Als überhitzt galt die Konjunktur bereits dann, wenn die Arbeitslosenquote unter das Niveau sank, das die Monetaristen als „natürlich“ bezeichnen.
Friedmans Ideal war eine „die Inflation nicht beschleunigende Arbeitslosenquote“. Es ging also schlicht und einfach darum, die Wirtschafts-, Geld- und Haushaltspolitik an den Interessen der Investoren und Gläubiger auszurichten.
Eine erneute Wende brachte dann die Immobilien- und Finanzkrise von 2007/2008. Sie produzierte kurzfristig die Gefahr, dass das ganze Finanzsystems zusammenbricht, und langfristig die Angst vor einer Entwicklung, wie sie 1929 nach dem großen Börsenkrach in den USA eingetreten war: eine Deflationsspirale, die die Wirtschaftstätigkeit nachhaltig verlangsamt.
Eine solche „Stagflation“ erlebte auch Japan in den 1990er Jahren, die als „verlorenes Jahrzehnt“ gelten. Als das Land nach einer schweren Wirtschaftskrise in eine verheerende Deflationsphase geriet, senkte die Zentralbank den Leitzins auf null und ergriff zusätzliche „unkonventionelle“ Maßnahmen. Insbesondere trat sie als Käufer von Anleihen und Wertpapieren auf, wodurch den Geschäftsbanken neues Geld zufloss. Auf dieselben Instrumente setzten die EZB und die Fed in der Krise von 2008. Damit konnten sie zwar das Finanzsystem über Wasser zu halten, aber es gelang ihnen nicht, die EU und die USA aus der Phase der „Lowflation“ herauszuführen, die durch die Kombination von niedriger Inflation und schwachem Wachstum gekennzeichnet ist.
Die Coronakrise strapazierte die vorherrschende geldpolitische Lehrmeinung aufs Neue. Nachdem ganze Gesellschaften in aller Welt einen monatelangen Lockdown hinter sich hatten, waren enorme Staatsausgaben und eine noch expansivere Geldpolitik erforderlich, um die Wirtschaft zu retten. In den USA wurden mehrere Billionen Dollar in die Wirtschaft gepumpt, zum einen über die Konjunkturprogramme der Trump- wie der Biden-Administration, zum anderen durch die Fed, die in beispiellosen Dimensionen Kredite vergab und auf den Wertpapiermärkten aktiv wurde.3 Dennoch stieg die Inflationsrate in den USA Ende 2020 lediglich auf 1,4 Prozent (von 0,1 Prozent im Frühjahr 2020).
Auch die EZB startete ein groß angelegtes Anleihekaufprogramm, um die Volkswirtschaften der EU mit Liquidität zu versorgen. In der Eurozone und vor allem in Deutschland herrschte ab August 2020 eine De-facto-Deflation. Kommentatoren und Analysten in New York, London und Frankfurt fragten sich besorgt, ob damit die seit Jahren drohende Deflation eingesetzt hatte.
Aber dann gab es im Laufe des Jahres 2021 eine erneute Wende. Seit März begannen die Preise wieder zu steigen. Der lang erwartete Trend erwies sich als ziemlich langlebig. Im November 2021 schlug der ehemalige US-Finanzminister Lawrence Summers Alarm: Steigende Preise auf breiter Front seien Zeichen einer Überhitzung, die „Metastasen bilden und den Wohlstand wie das Vertrauen in die Institutionen bedrohen“ könne.4
Der frühere Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), Olivier Blanchard, hatte bereits im Februar 2021 mit Blick auf Bidens Konjunkturpaket getwittert, ein derartiges Ausgabenprogramm „könnte nicht bloß zu einer Überhitzung, sondern zu einem wahren Flächenbrand führen“.5
Drei Ökonomen, vier Meinungen
In Deutschland kritisierte die Bild-Zeitung die Untätigkeit der EZB und bezeichnete deren Präsidentin Christine Lagarde in einer Schlagzeile vom 19. November als „Madame Inflation“. Die Preissteigerungen seien das Ergebnis einer „übermäßigen fiskalischen Stimulierung und einer zu lockeren Geldpolitik“, so Summers weiter. Ganz im Sinne von Friedman argumentierte er, erhöhte Haushaltsausgaben, die durch die Ausweitung der Geldmenge finanziert werden, stellten eine künstliche Stimulierung der Wirtschaft dar. Ganz ähnlich sprach Nouriel Roubini, ehemals Berater von Präsident Clinton, von einem „mittelfristigen Stagflationsumfeld, das schlimmer ist als das der 1970er Jahre“.6
Die EZB und die Fed reagierten auf die Kritik, indem sie das Problem zunächst herunterspielten. Man sehe keine Indizien, „dass die Inflation außer Kontrolle gerät“, erklärte EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel am 29. November 2021 im ZDF. Einige Wochen zuvor hatte Fed-Chef Jerome Powell den Anstieg der Inflation als „vorübergehend“ bezeichnet.7
Für diesen Anstieg sehen viele Analysten eine Reihe ganz unterschiedlicher Ursachen. Dazu gehören vor allem diverse Faktoren, die mit der Coronakrise zusammenhängen.
Der numerischen Inflation liegt aber auch ein simpler statistischer Effekt zugrunde: Im Frühjahr 2020 brachen die Preise für Rohstoffe, darunter Erdöl, infolge der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ein. Da sich aber die Inflationsrate auf die Entwicklung der letzten zwölf Monaten bezieht, basierten die Zahlen ab April 2021 auf Vergleichsmonaten, in denen das Preisniveau in den USA und der Eurozone ungewöhnlich niedrig gewesen war. Bei diesem Vergleichsmaßstab ergibt sich automatisch eine ungewöhnlich hohe Preissteigerungsrate.
Eine weitere Erklärung ist die Serie von Angebotsschocks, die ebenfalls mit der Pandemie zu tun haben. Der erste Schock war der plötzliche Anstieg der Energie- und insbesondere der Ölpreise im Zuge der weltweit ansteigenden Konjunktur. Nachdem der Preis pro Barrel im Frühjahr 2020 auf einen historischen Tiefstand gesunken war, stieg er allmählich wieder an und über das Niveau der Vorkrisenjahre hinaus. Seit Oktober 2020 hat er sich binnen eines Jahres auf über 80 US-Dollar verdoppelt.
Da Öl nach wie vor die wichtigste Energiequelle ist, wirkte sich diese Entwicklung auf die gesamte Wirtschaft aus und verteuerte aufgrund der hohen Nachfrage die Preise für andere Energieträger (Benzin, Heizöl, Erdgas und sogar Kohle), für sonstige Rohstoffe und Kunststoffe wie auch für Verkehrsmittel aller Art. Als weiterer Preistreiber wirkt neuerdings die Ukraine-Krise und die Furcht vor einer Gasknappheit in Europa. Viele Unternehmen haben bereits begonnen, die höheren Energiekosten in ihre Produkte einzupreisen. Das ist besonders bei Lebensmitteln zu spüren, weil die Preise für Kunstdünger – für dessen Herstellung enorme Mengen Erdgas erforderlich sind – sehr stark angestiegen sind.
Ähnlich sieht es in anderen Branchen aus, etwa bei Baustoffen oder Mikrochips. An vielen Stellen kam es zu Lieferengpässen, was die Weltmarktpreise in die Höhe trieb. Das liegt zum Teil an einer wachsenden Nachfrage, weil die Wirtschaft nach den praktisch weltweiten Ausgangssperren überall wieder hochgefahren wird.
Andererseits sinkt das Angebot als Folge der Gesundheitskrise und zahlreicher Probleme der globalen Logistik und insbesondere des Seeverkehrs: von der Überlastung der Häfen und Lagerkapazitäten über den Mangel an Containern bis zur Preisexplosion bei Schiffsdiesel.
Hinzu kam im März 2021 die sechstägige Blockade des Suezkanals durch die „Ever Given“. All das führte zur Unterbrechung vieler globaler Lieferketten, wobei logistische Probleme in Zeiten des Just-in-time-Dogmas viel gravierendere Folgen haben.
Bei all diesen Störungen ist die entscheidende Frage ihre Dauer. Bereits im Februar 2021 hatte der Leiter des Wirtschaftsressorts der New York Times die Warner Summers und Blanchard als „Panikmacher“8 bezeichnet.
Auch im Februar 2022 hält die NYT jede Inflationspanik weiterhin für unangebracht und plädiert für lediglich moderate Zinserhöhungen: Nichts, was die Fed tun könne, „hätte eine unmittelbare Auswirkung auf die tausende Artikel, deren Preise vor allem aufgrund von Problemen in der Lieferkette gestiegen sind“, schrieb Times-Kolumnist Jeff Sommer.9 Die logistischen Schwierigkeiten würden ebenso wie die Folgen der Pandemie früher oder später überwunden werden.
Auch The Economist widersprach der These einer sich quasi automatisch beschleunigenden Inflation, die von den Vertretern der orthodoxen geldpolitischen Schule vorgebracht wird.10 Diese warnen mantrahaft vor einer Lohn-Preis-Spirale: Steigende Preise bringen die Arbeitnehmer dazu, höhere Löhne zu fordern, was wiederum die Unternehmen zu Preiserhöhungen veranlasst, um ihre Gewinnmargen zu behaupten. Laut Economist steht der Beweis einer solch automatischen Dynamik in der Realität noch aus.
Die Coronakrise hatte natürlich erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt in den USA. Insbesondere in schlecht bezahlten Branchen mit hoher Infektionsgefahr, also im Gaststättengewerbe, bei der Lagerhaltung oder im Transportwesen, gab es eine Welle von Kündigungen. Der Mangel an Arbeitskräften in diesen zumeist miserabel zahlenden Branchen erlaubte es, höhere Löhne durchzusetzen: Hier stieg der durchschnittliche Stundenlohn zwischen Januar 2021 und Januar 2022 um 5,7 Prozent. Wirtschaftsliberale Kommentatoren sahen darin sofort ein Anzeichen der konjunkturellen „Überhitzung“.
Doch davon kann keine Rede sein. In den meisten Ländern sind die durchschnittlichen Reallöhne (Nominallohnzuwachs minus Inflationsrate) gesunken; in Deutschland im Jahr 2021 um 0,1 Prozent – trotz eines Nominallohnzuwachses von 3,1 Prozent.11
Zudem dürfte der durch die Globalisierung und den Freihandel verursachte Druck auf Preise und Löhne mittel- bis langfristig dazu beitragen, die befürchtete Lohn-Preis-Spirale unter Kontrolle zu halten. Dieser Druck ist das Ergebnis einer Zangenbewegung: Auf der einen Seite werden die Löhne durch den globalen Kostenwettbewerb gedrückt, auf der anderen Seite sorgt der Zustrom von Billigprodukten für niedrige Preise in den Industrieländern. Dieser Effekt, eine Art importierte Deflation, ist das Ergebnis einer strukturellen weltweiten Überproduktion, die in den letzten Jahren die Preise und die Löhne weiter gedrückt hat.12
Doping für die Finanz- und Immobilienmärkte
Für das aktuell hohe Preisniveau sind laut Robert Reich, ehemals Clintons Arbeitsminister, weder die Löhne noch die übermäßigen öffentlichen Ausgaben verantwortlich, wie es die orthodoxen Ökonomen behaupten. Reich verweist vielmehr auf die Rolle der Großkonzerne, die Branchen wie die Lebensmittel-, Finanz-, Telekommunikations-, Luftfahrt- und Pharmaindustrie mit ihren Oligopolen beherrschen. Damit verfügen sie über „hinreichend Macht, um die Preise zu erhöhen und ihre Gewinne zu steigern“.13
Das nutzen die Konzerne natürlich aus: Dem Wall Street Journal zufolge verzeichneten fast zwei Drittel der börsennotierten US-Unternehmen in den ersten neun Monaten des Jahres 2021 höhere Gewinne als in den Jahren vor der Pandemie. In dem durch die Gesundheitskrise verursachten Anstieg der Produktionskosten sieht das Wall Street Journal „eine Chance, wie sie sich nur einmal pro Generation“ bietet, um höhere Preise durchzusetzen und die Profite auf Kosten der Kunden zu mehren.14
Im Kampf gegen die strukturellen Ursachen der Inflation müsste laut Reich vor allem „das Kartellrecht offensiv eingesetzt werden“. Tatsächlich hat die Regierung Biden Ende 2021 Ermittlungen wegen wettbewerbswidriger Praktiken in der Agrarindustrie, im Energiesektor und in der Schifffahrt in die Wege geleitet.
Doch die geldpolitischen Kassandras sind mächtig – und für die Politiker, die auf Wiederwahl hoffen, ist eine anhaltende Teuerung ein ziemlich großes Problem. Schon deshalb wird Fed-Chef Powell nicht umhinkommen, mit Blick auf die Inflation demnächst Klartext zu reden. „Fast alle Analysten erwarten, dass die Inflation in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres deutlich zurückgehen wird“, meinte er Anfang Dezember vor einem Kongressausschuss, fügte aber hinzu: „Wir können nicht so tun, als wären wir uns dessen sicher.“15
Ist die Kontroverse womöglich nur eine weitere Bestätigung des ironischen Spruchs, wenn man drei Wirtschaftswissenschaftler in einem Raum versammle, bekomme man vier verschiedene Meinungen zu hören? Oder dient der technokratische Diskurs vielleicht vor allem dazu, politische Gegensätze zu verschleiern, die sich nicht durch Argumente auflösen lassen, sondern nur auf der Machtebene?
Durch die Serie schwerer Krisen seit 2007 hat die herrschende Ideologie Risse bekommen. Es ist eine Ideologie, die der öffentlichen Hand strenge Regeln der „good governance“, der guten (soll heißen: sparsamen) Regierungsführung, auferlegt. Ein Synonym für die Steuerung der Politik durch die Wirtschaft. Die Gefahr eines globalen Zusammenbruchs erfordert jedoch die Rückkehr des entgegengesetzten Prinzips – also eine politischen Steuerung der Wirtschaft.
Die EZB wie die Fed wollten mit ihrer großzügigen Bereitstellung von Liquidität allerdings bestimmt nicht das Primat der Politik wiederherstellen und den Umsturz der monetären Ordnung anstreben. Beide Institutionen verfolgen vor allem ein Ziel: das Überleben des wirtschaftlichen und sozialen Systems zu sichern.
Die Zentralbanker stecken dabei allerdings in einer Zwickmühle. Einerseits stehen sie unter dem Druck, die Inflation einzudämmen, sei es aus ideologischen oder aus wahltaktischen Gründen. Andererseits sollen sie die schwächelnde Weltwirtschaft stützen und – im Fall der Europäischen Union – den Zusammenhalt der Eurozone gewährleisten. Denn die Konstruktionsfehler der Währungsunion sind ja nicht verschwunden, sondern werden derzeit nur durch die Liquiditätsschwemme der EZB verdeckt.
Eine restriktivere Geldpolitik als Mittel der Inflationsbekämpfung würde zwangsläufig das Wirtschaftswachstum verlangsamen und könnte zudem ernsthafte Spannungen auf den Finanz-, Immobilien- und Kryptowährungsmärkten16 auslösen. Für diese Märkte wären niedrige Zinsen ein Doping, das sie auf Dauer nach „billigem Geld“ süchtig machen würde.
Dieses Problem hängt eng mit einer anderen Gefahr zusammen; mit jener anderen Form der Inflation, die sich nicht direkt auf die Verbraucherpreise niederschlägt. Gemeint ist die Vermögenspreisinflation, also die scheinbar ständig steigenden Preise für Immobilien, Aktien oder Gold. Spekulative Blasen bei diesen Vermögenswerten verstärken nicht nur die soziale Ungleichheit; sie können auch zum Auslöser größerer Krisen werden.
In der Eurozone gibt es noch einen weiteren Grund zur Vorsicht: Eine restriktivere Geldpolitik würde wahrscheinlich zu neuen Turbulenzen auf den Bondsmärkten führen und womöglich eine weitere Staatsschuldenkrise auslösen. Die in den 1970er Jahren entstandene neoliberale Währungsordnung weist mittlerweile so viele innere Widersprüche auf, dass ein auftretendes Problem nicht bekämpft werden kann, ohne andere zu verschärfen oder zu erzeugen.
Die Fed tendiert inzwischen gleichwohl zu einer deutlichen geldpolitischen Restriktion. Sie hat bereits ihr Programm zum Ankauf von Staatsanleihen gedrosselt und angekündigt, den Leitzins in mehreren Schritten zu erhöhen. Die EZB gab sich lange moderater und beschränkte sich auf den Beschluss, das Anleihekaufprogramm auslaufen zu lassen. Doch Anfang Februar änderte Lagarde ihre Tonlage. Jetzt will auch sie eine Zinserhöhung im Laufe des Jahres nicht mehr ganz ausschließen.
Allein diese Nachricht reichte aus, um die Zinsen für griechische und italienische Staatsanleihen in die Höhe schnellen zu lassen. Die Nervosität der Märkte zeigt, wie unberechenbar die Auswirkungen einer strengeren Geldpolitik wären, die sich auf beiden Seiten des Atlantiks abzeichnet.
1 François Mitterrand, „L’abeille et l’architecte“, Paris (Odile Jacob) 1978.
2 Siehe François Denord, Rachel Knaebel und Pierre Rimbert, „Schäubles Gehäuse“, LMd, August 2015.
5 Siehe auch „Be Prepared“, Interview mit Blanchard, Zeit Online, 20. März 2021.
6 Nouriel Roubini, „Die Drohung der Stagflation ist real“, Project Syndicate, 30. August 2021.
10 „What Will Happen to Inflation“, The Economist, 8. November 2021.
11 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 065 vom 16. Februar 2022, www.destatis.de.
13 „We Need to Talk About the Real Reason Behind US Inflation“, The Guardian, 11. November 2021.
16 Siehe Frédéric Lemaire, „Falschgeld Bitcoin“, LMd, Februar 2022.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Frédéric Lemaire ist Wirtschaftswissenschaftler.