10.02.2022

Ukraine-Krise: Eskalation mit Ansage

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Ukraine-Krise: Eskalation mit Ansage

Die aktuellen Spannungen haben eine lange Vorgeschichte, die mit dem Ende des Kalten Kriegs begann und sich mit der Osterweiterung der Nato fortsetzte. Die EU hat bei dieser Entwicklung zu keinem eigenen gemeinsamen Standpunkt gefunden, sondern sich für US-amerikanische Interessen einspannen lassen.

von David Teurtrie

Caroline Achaintre, Glover, 2018, handgetuftete Wolle, 170 × 190 cm
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Das Säbelrasseln im Osten Europas hat die Regierungen des Westens aufgeschreckt. Russland zieht starke Truppen an der ukrainischen Grenze zusammen und hat den USA zwei Vertragsentwürfe zur Reform der Sicherheitsarchitektur in Europa vorgelegt, die den Schutz seiner territorialen Integrität garantieren sollen. Darin wird verlangt, dass die Nato sich nicht weiter nach Osten ausdehnt, dass die westlichen Truppen Osteuropa verlassen und dass die USA ihre Atomwaffen aus Europa abziehen.

Die Forderungen können in dieser Form nicht erfüllt werden, entsprechend ablehnend fiel die Antwort Washingtons aus. Dadurch wächst die Gefahr einer russischen Militärinvasion in der Ukraine. Die aktuelle Situation wird nun auf zwei sehr unterschiedliche Weise interpretiert: Die einen glauben, Moskau erhöhe den Druck, um Zugeständnisse von Washington und den Europäern zu erzwingen. Die anderen unterstellen, Moskau suche einen Vorwand, um in der Ukraine zur Tat zu schreiten. Bei beiden Szenarien stellt sich die Frage, warum Putin gerade diesen Moment für ein Kräftemessen gewählt hat. Warum spielt er dieses riskante Spiel und warum jetzt?

Seit 2014 hat Russland mehrere Maßnahmen ergriffen, um seine Wirtschaft gegen Schocks zu wappnen, insbesondere den Banken- und Finanzsektor. Der Dollar-Anteil an den Reserven der Zentralbank wurde reduziert. Die nationale Geldkarte Mir steckt heute im Portemonnaie von 87 Prozent der Russinnen und Russen. Sollten die USA ihre Drohung wahr machen, Russland vom westlichen Swift-System abzukoppeln, wie sie es 2012 und 2018 mit Iran getan haben, könnten die Geldströme zwischen russischen Banken und Unternehmen über eine lokale Zahlungsinfrastruktur abgewickelt werden.

Falsche Versprechen an Gorbatschow

Russland fühlt sich also besser gerüstet, um im Fall eines Konflikts harte Sanktionen auszuhalten. Zudem hat die letzte Mobilisierung der russischen Armee an der ukrainischen Grenze – im Frühjahr 2021 – zur Neuauflage des russisch-amerikanischen Dialogs über strategische Fragen und Cybersicherheit geführt. Auch diesmal meint der Kreml offenbar, der Aufbau von Spannungen sei das einzige Mittel, um im Westen gehört zu werden, und die neue US-Regierung sei bereit, noch mehr Zugeständnisse zu machen, um sich auf die wachsende Konfrontation mit China zu konzentrieren.

Putin will offenbar vor allem den westlichen Plan durchkreuzen, die Ukrai­ne zu einem – wie er es nennt – „nationalistischen Anti-Russland“ zu machen.1 Eigentlich hatte der russische Präsident auf das Minsker Protokoll von 2014 und das Umsetzungsabkommen vom Februar 2015 gehofft, um sich über den Umweg der Donbass-Republiken ein Mitspracherecht in der ukrainischen Politik zu sichern. Das Gegenteil ist geschehen: Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen ist an einem toten Punkt angelangt.

Die Wahl von Präsident Volodimir Selenski im April 2019 hatte in Moskau die Hoffnung auf bessere Beziehungen zu Kiew geweckt, aber er hat die von seinem Vorgänger eingeleitete Politik des Bruchs mit der „russischen Welt“ noch verstärkt. Außerdem wird die militärisch-technische Kooperation zwischen der Ukraine und der Nato immer enger. Die Türkei, selbst Nato-Mitglied, hat Kiew sogar Kampfdrohnen geliefert, weshalb Moskau befürchtet, die Ukraine könnte eine militärische Rückeroberung des Donbass versuchen.

Putin will also die Initiative ergreifen, solange noch Zeit ist. Doch unabhängig von den kurzfristigen Faktoren wie dem russischen Truppenaufmarsch, die zu den gegenwärtigen Spannungen geführt haben: Es bleibt festzustellen, dass Russland lediglich Forderungen aktualisiert hat, die es seit dem Ende des Kalten Kriegs immer wieder vorgebracht hat, ohne dass der Westen sie für akzeptabel oder zumindest legitim angesehen hätte.

Das Missverständnis reicht zurück bis zum Zusammenbruch des Ostblocks 1991. Es wäre nur logisch gewesen, wenn das Verschwinden des Warschauer Pakts zur Auflösung der Nato

geführt hätte, die ja in Reaktion auf die „sowjetische Bedrohung“ gegründet worden war. Den ehemaligen Ostblockstaaten, die sich dem Westen annähern wollten, hätte man auch alternative Formate zur Integration anbieten können.

Der Moment war günstig, weil die russische Elite die Liquidierung ihres Reichs ohne jede Gegenwehr hingenommen hatte und so prowestlich eingestellt war wie noch nie.2 Es fehlte auch nicht an anderen Vorschlägen, etwa vonseiten Frankreichs, die aber unter dem Druck aus Washington aufgegeben wurden. Die USA wollten sich ihren „Sieg“ nicht nehmen lassen und forcierten die Osterweiterung der euro-atlantischen Strukturen, um ihre Dominanz in Europa zu festigen. Dabei hatten sie einen gewichtigen Verbündeten in Deutschland, das auf seinen Einfluss in Mitteleuropa aus war.

Ab 1997 wurde die Nato-Osterweiterung umgesetzt, obwohl der Westen Gorbatschow 1990 versprochen hatte, dazu werde es nicht kommen.3 In den USA gab es kritische Stimmen von prominenter Seite. Der Historiker George Kennan, der als Architekt der Eindämmungspolitik gegenüber der UdSSR galt, sagte die ebenso logischen wie schädlichen Konsequenzen dieser Entscheidung voraus: „Die Nato-Erweiterung wäre der folgenschwerste Fehler der amerikanischen Politik seit dem Ende des Kalten Krieges. Es ist damit zu rechnen, dass diese Entscheidung nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit schürt, einen neuen Kalten Krieg in den Ost-West-Beziehungen auslöst und die russische Außenpolitik in eine Richtung drängt, die überhaupt nicht unseren Wünschen entspricht.“4

1999 feierte die Nato mit großem Pomp ihren 50. Gründungstag, setzte ihre erste Osterweiterung (Ungarn, Polen und Tschechische Republik) um und kündigte an, der Prozess werde fortgesetzt. Zur gleichen Zeit begann die Nato ihren Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, wodurch aus dem Verteidigungsbündnis eine Angriffsallianz wurde, die internationales Recht missachtete. Da der Krieg gegen Belgrad ohne UN-Mandat geführt wurde, konnte Moskau eins seiner letzten Macht­instru­mente, das Vetorecht im Sicherheitsrat, nicht einsetzen.

Die russische Elite, die auf die Annäherung ihres Landes an den Westen gesetzt hatte, fühlte sich verraten: Russland – damals noch regiert von Boris Jelzin, der maßgeblich an der Auflösung der Sowjetunion beteiligt gewesen war – wurde nicht als Partner behandelt, den man für seinen Beitrag zum Ende des kommunistischen Systems belohnen muss, sondern als großer Verlierer des Kalten Kriegs, der den geopolitischen Preis dafür zu zahlen hat.

Paradoxerweise stabilisierte Putins Machtantritt im Jahr 2000 zunächst die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Der neue russische Präsident bezeugte Washington nach den Attentaten vom 11. September 2001 mehrfach seinen guten Willen. Er akzeptierte die vorübergehende Einrichtung von US-Militärbasen in Zentral­asien und befahl die Schließung der Stützpunkte auf Kuba sowie den Rückzug russischer Soldaten aus dem Kosovo. Im Gegenzug wünschte sich Moskau, der Westen möge akzeptieren, dass der postsowjetische Raum, den Russland als „nahes Ausland“ bezeichnete, russischer Verantwortungsbereich bleibe.

Während die Beziehungen mit Europa, vor allem mit Frankreich und Deutschland, relativ gut waren, häuften sich die Missverständnisse mit den USA. Die Irak-Invasion der US-Truppen 2003 ohne Zustimmung der UN wurde von Paris, Berlin und Moskau gleichermaßen verurteilt. Der gemeinsame Widerspruch der drei wichtigsten Mächte des europäischen Kontinents verstärkte in Washington die Befürchtung, eine russisch-europäische Annäherung könnte der US-amerikanischen Hegemonie schaden.

In den folgenden Jahren kündigten die USA an, Elemente ihres Raketenschilds in Osteuropa stationieren zu wollen. Das widersprach der Nato-Russland-Grundakte von 1997, die Moskau garantierte, der Westen werde keine neue ständige militärische Infrastruktur in Osteuropa stationieren. Die USA stellten auch die Abkommen zur atomaren Abrüstung infrage. Im Dezember 2001 kündigten sie den ABM-Vertrag von 1972.

Die farbigen Revolutionen im postsowjetischen Raum wurden von Moskau als von Washington orchestrierte Operationen wahrgenommen, um vor den Toren Russlands prowestliche Systeme zu errichten. War das eine legitime Befürchtung oder ein Komplex der einstigen Besatzer?

Jedenfalls übte Washington im April 2008 starken Druck auf seine europäischen Verbündeten aus, damit sie den Wunsch der Regierungen in Tiflis und Kiew nach einem Nato-Beitritt guthießen, obwohl sich die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung sogar gegen einen Beitritt aussprach. Gleichzeitig trieben die USA die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo voran, was eine erneute Verletzung des interna­tio­nalen Rechts darstellte, da es sich damals völkerrechtlich noch um eine serbische Provinz handelte.

Nachdem der Westen die Pandora-Büchse des Interventionismus geöffnet und die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa infrage gestellt hatte, reagierte Russland 2008 mit einer Militärintervention in Georgien und erkannte die Unabhängigkeit von Südossetien und Abchasien an. Damit signalisierte der Kreml, dass er zu allem bereit war, um eine weitere Ostausdehnung der Nato zu verhindern. Mit dem Angriff auf die territoriale Integrität Georgiens verletzte auch Russland internationales Recht.

Mit der Ukrainekrise wuchs der russische Groll ins Unermessliche. Ende 2013 unterstützten Europäer und Amerikaner die Euromaidan-Proteste, die zum Sturz von Präsident Wiktor Janukowitsch führten. Dabei hatte dessen Wahl 2010 den demokratischen Standards entsprochen, was auch die OECD-Wahlbeobachter bestätigt hatten. Nach Moskauer Lesart handelte es sich um einen vom Westen unterstützten Staatsstreich, durch den man die Ukraine ins eigene Lager ziehen wollte.

Die russische Intervention in der Ukraine – die Annexion der Krim und die kaum verhohlene militärische Unterstützung der Separatisten im Donbass – wurde vom Kreml als legitime Antwort auf den prowestlichen Handstreich in Kiew dargestellt. Die Regierungen im Westen sahen darin wiederum eine nie dagewesene Infragestellung der internationalen Ordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs.

Das im September 2014 unterzeichnete Protokoll von Minsk bot Frankreich und Deutschland die Gelegenheit, eine Verhandlungslösung für den Donbass-Konflikt zu suchen. Es bedurfte also eines bewaffneten Konflikts in Europa, damit Paris und Berlin aus ihrer Untätigkeit erwachten. Sieben Jahre später ist der Prozess festgefahren. ­Kiew lehnt weiterhin die Autonomie für den Donbass ab, die das Abkommen vorsieht.

Da Frankreich und Deutschland nicht darauf reagieren, müssen sie sich vom Kreml vorwerfen lassen, die ukrai­nische Position zu teilen. Vor diesem Hintergrund versucht Putin nun, direkt mit den USA zu verhandeln, in denen er die eigentlichen Paten Kiews sieht.

Moskau hat schon früher sein Unverständnis darüber geäußert, dass die EU alle Entscheidungen der USA, auch die umstrittensten, hinnimmt, ohne zu reagieren. So war es auch beim Rückzug Washingtons aus dem INF-Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme im Februar 2019. Gegen diesen Rückzug hätte man in den europäischen Hauptstädten schon allein deshalb protestieren müssen, weil sie poten­ziell die ersten Ziele dieser Waffen wären.

Zaungast Europa

Nach Ansicht der Politikwissenschaftlerin und Spezialistin für russische Sicherheitspolitik Isabelle Facon hat Moskau immer wieder und mit spürbarer Verärgerung konstatiert, „dass die europäischen Staaten außerstande sind, eine strategische Autonomie gegenüber den USA zu entwickeln, und sich weigern, angesichts der Verschlechterung der strategischen und internationalen Situation ihre Verantwortung wahrzunehmen.“5

Noch erstaunlicher war, dass die EU Treffen mit Putin auch dann noch ablehnte, als Russen und Amerikaner schon wieder über strategische Fragen zu reden begannen. Im Januar und Februar 2021 verpflichteten sich Putin und Biden, den New-START-Vertrag zur Reduzierung der Atomwaffen um fünf Jahre zu verlängern. Und im Juni 2021 trafen sich die beiden Präsidenten auch persönlich. Zeitgleich hatten Deutschland und Frankreich für einen EU-Russland-Gipfel geworben, die Initiative wurde allerdings von Polen und den baltischen EU-Mitgliedstaaten abgelehnt.

Die Verweigerung eines Dialogs durch die EU unterscheidet sich grundsätzlich von ihrer Haltung gegenüber ihrem anderen großen Nachbarn, der Türkei. Trotz deren militärischen Aktivitäten (Besetzung von Nordzypern und eines Teils des syrischen Territo­riums, Entsendung von Truppen in den Irak, nach Libyen und in den Kaukasus) konnte sich Brüssel bisher nicht zu Sanktionen gegen das autoritäre Erdoğan-­Regime durchringen, das auch ein Verbündeter der Ukraine ist.

Bei Russland hingegen werden die Europäer nicht müde, mit neuen Restriktionen zu drohen. Gegenüber der Ukraine wiederholen sie die Nato-Formel der geöffneten Tür, obwohl sich die großen europäischen Staaten, allen voran Frankreich und Deutschland, in der Vergangenheit dagegen ausgesprochen haben und im Grunde keineswegs vorhaben, die Ukraine in ihr Militärbündnis aufzunehmen.

Die Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen beweist, dass die Sicherheit Europas nicht ohne oder gar gegen Russland gewährleistet werden kann. Die USA fördern Russlands Ausgrenzung jedoch nach Kräften, weil sie ihre Hegemonie in Europa verstärkt. Den Westeuropäern, insbesondere Frankreich, hat es an Visionen und politischem Mut gefehlt, um die gefährlichsten Provokationen der USA zu blockieren und einen institutionellen Rahmen vorzuschlagen, der Russland einschließt und mit dem sich neue Bruchlinien auf dem Kontinent verhindern lassen.

Ein Ergebnis dieses transatlantischen Mitläufertums ist, dass die Europäer von den USA schlecht behandelt werden. Der nicht abgestimmte Rückzug aus Afghanistan oder die Vereinbarung einer Militärallianz im Pazifik ohne Absprache mit Frankreich sind nur die letzten Unverschämtheiten in einer langen Reihe. Inzwischen ist die EU nur noch ein besserer Zaungast bei den russisch-amerikanischen Verhandlungen über die Sicherheit des Alten ­Kontinents – und das vor dem Hintergrund eines drohenden Kriegs in der Ukraine.

1 Siehe Wadimir Putin, „De l’unité historique des Russes et des Ukrainiens“, Website der russischen Botschaft in Frankreich, 12. Juli 2021.

2 Siehe Hélène Richard, „Als Moskau von Europa träumte“, LMd, September 2018.

3 Siehe Philippe Descamps, „Falsche Versprechen“, LMd, September 2018.

4 George F. Kennan, „A fateful error“, The New York Times, 5. Februar 1997.

5 Isabelle Facon, „La Russie et l’Occident: un éloignement grandissant au cœur d’un ordre international polycentrique“, in: „Regards de l’Observatoire franco-russe“, L’Observatoire, Moskau 2019.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

David Teurtrie ist Osteuropaexperte am Institut national des langues et des civilisations orientales (Inalco) und Autor von „Russie. Le retour de la puissance“, Paris (Armand Colin) 2021.

Le Monde diplomatique vom 10.02.2022, von David Teurtrie