10.02.2022

Weit weg vom Place Schuman

zurück

Weit weg vom Place Schuman

Über die Brüsseler Blase und den Horror an Europas Grenzen

von Barbara Wesel

Kein Weiterkommen am Evros ANTONIS LAMPROU/picture alliance/ANE/Eurokinissi
Audio: Artikel vorlesen lassen

Warum die Kneipe am Place Schuman gleich gegenüber vom dreiflügeligen Gebäude der EU-Kommission „Teufelsecke“ heißt, bleibt im Dunkel der Brüsseler Stadtgeschichte verborgen. Der Name des Treffpunkts für Journalisten, EU-Beamte und alle, die nach Büroschluss noch ein Glas trinken wollen, ist jedenfalls kein aktueller Kommentar zur Lage der Europäischen Union. Vermutlich stammt er aus einer Zeit, als dies noch ein schönes Brüsseler Wohnviertel war, lange bevor dem Gründervater Robert Schumann ein vereintes Europa im Traum erschienen war.

Eine junge britische Kollegin erzählt mir im „Coin du Diable“ von ihrem Glück. Nach zwei Jahren als Producerin hat Rose den Sprung vor die Kamera geschafft. Für eine Produk­tions­firma in Brüssel bedient sie jetzt Sender in aller Welt, wir stoßen mit Weißwein auf ihren Erfolg an. Am Nebentisch streiten sie sich auf Englisch über die sogenannte Taxonomie, ist Atomkraft nachhaltig oder nicht, das ist hier die Frage. Gegenüber diskutiert lauthals ein Gruppe von Spaniern, und bei der Bedienung kann man auf Französisch, Flämisch, Englisch oder Deutsch bestellen.

„Ich arbeite gern hier, auf jeden Fall noch bis Frühjahr 2024, dann kann ich mich einbürgern lassen“, sagt ­Rose. Das ist in Belgien nach fünf Jahren ziemlich einfach und für die Britin der beste Weg, die Folgen des Brexit zu ­umgehen. Ihren Landsleuten ist der EU-­Arbeitsmarkt seit dem Austritt vor rund zwei Jahren verschlossen, die neue Grenze führt durch den Ärmel­kanal.

Die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland verläuft durch den Fluss Evros.1 „Dreht doch mal die neue Grenzmauer da und schaut, ob schon Afghanen rüberkommen“, hieß mein Auftrag aus Berlin im September. Die Mauer ist eigentlich ein Metallzaun, den Migrationsminister Notis Mitarakis kurz zuvor als Fortschritt zur Sicherung Europas gepriesen hatte. Mein griechischer Kontaktmann hat Zweifel: „Wir bekommen niemals eine Drehgenehmigung, die ganze Grenze ist militärisches Sperrgebiet.“

Nach diversen erfolglosen Anschreiben ans Ministerium setze ich schließlich auf Reporterglück und Hartnäckigkeit. Der Weg an den Evros führt durch die gesichtslose Kreisstadt Orestiades. An der Hauptstraße fallen ein paar deutsche und portugiesische Polizeijeeps ins Auge, die für die EU-Agentur Frontex Streife fahren. Die einzigen Migranten, die wir hier finden, sitzen in einem geschlossenen Lager am Rande eines halb verlassenen Dorfs.

Mit seinen Wachen und dem Stacheldrahtzaun wirkt es wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Filmen oder Fotografieren ist verboten, wir drehen nur im Vorbeifahren. Normalerweise würde man die örtlichen NGOs befragen, wer sitzt in dem Lager, kommen Flüchtlinge an und wo sind sie? Hier ist aber niemand mehr. Helfer und Beobachter haben sich aus der Region zurückgezogen, vertrieben von Polizeischikanen und der steten Drohung mit Straf­verfahren wegen „Menschenschmuggels“.

Früh im Morgengrauen erkunden wir die Grenze dann auf eigene Faust. Wir mäandern über Feldwege, Schotterpisten und durch leere Dörfer. Imme wenn wir uns dem Flussufer nähern wollen, tauchen Polizei- oder Militärjeeps auf und blockieren unseren Weg.Was dürfen wir hier um keinen Preis sehen?

In einem der Grenzdörfer baut Fotis Chantzis Baumwolle an. Er zeigt uns tief im Gestrüpp ein Versteck, das Flüchtlinge als nächtlichen Rastplatz nutzen. Ein zerrissener Rucksack, Wasserflaschen mit türkischer Aufschrift, Schokoladenpapier zeugen davon. Fotis erzählt, dass die Schlepper frühmorgens mit Transportern kommen, die Leute einladen und auf der Autobahn Richtung Küste verschwinden. Auf die Frage nach Streifen reibt er Daumen und Mittelfinger aneinander – es wird Schmiergeld gezahlt.

Weiter westlich, im Dreiländereck zwischen der Türkei, Bulgarien und Griechenland haben die Dorfbewohner seit vielen Wochen kaum noch Flüchtlinge gesehen. Ein Alter auf seiner Veranda erzählt uns, dass er eines Morgens einen nackten jungen Mann in seinem Vorgarten gefunden habe. Er weiß nicht, ob ihm die bulgarischen oder die griechischen Grenzwächter Kleider, Geld und Handy weggenommen haben. Der Flüchtling konnte dann mit Hemd und Hose vom Bauern weiterziehen.

An der Grenze zwischen Polen und Belarus ist es im November schon empfindlich kalt. Die Iraker und Syrer, die Diktator Lukaschenko ins Land geholt hat, sitzen in den Wäldern fest. Die polnische Regierung hat in kurzer Zeit eine ungeheure Hysterie entfacht: Die Sicherheit Polens sei gefährdet, Lukaschenko setze Menschen als Waffen ein, das sei hybride Kriegsführung.

Die wenigen legalen Übergänge zum Nachbarland sind geschlossen, die Wälder im Grenzgebiet wurden zur militärischen Sperrzone erklärt. Der Zugang für NGOs und Journalisten ist auf 15 bis 30 Kilometer verboten. Unsere polnischen Mitarbeiter aber, Kameramann und ortskundiger Fahrer, zeigen eine schöne Respektlosigkeit gegen Regeln. Freundlich grüßend brettern sie an den Kontrollposten vorbei, und so rumpeln wir tagelang über holperige Waldwege auf der Suche nach Geflüchteten, die es auf die polnische Seite geschafft haben.

In Bohoniki finden wir eine Beerdigung. Das winzige Dorf ist eine historische Kuriosität: Im 17. Jahrhundert hat es der polnische König einer Gruppe von Krimtataren als Dank für ihre Hilfe im Krieg geschenkt. Inzwischen leben deren letzte Nachfahren in dem abgelegenen Ort mit einer kleinen hölzernen Moschee und einem großen muslimischen Friedhof im Birkenhain. Dort wird Ahmad al-Hasan in einer nächtlichen Zeremonie von den Dörflern zu Grabe getragen. „Er war doch ein Mensch, ein Muslim und erst 19 Jahre alt“, sagt der Ortsvorsteher, man müsse ihn würdig beerdigen.

Der Syrer war aus einem Flüchtlingslager in Jordanien aufgebrochen und wollte nach Europa, eine Ausbildung machen, die Chance auf ein neues Leben. Ahmad starb Ende Oktober gemeinsam mit einem irakischen Kurden, als beide einen Nebenarm des eisigen Grenzflusses Bug durchqueren wollten. Dass belarussische Grenzsoldaten sie dorthin getrieben hatten, ist nicht bewiesen. Aber es gibt viele Berichte über solche Aktionen. Ein paar Wochen später wird auch Ahmads Reisegefährte in Bohoniki beerdigt. Von ihren Gräbern geht der Blick auf eine osteuropäische Birkenallee, die Einsamkeit der Szene greift ans Herz.

Die polnischen Mitarbeiter bleiben unverdrossen und halten Kontakt zu einer Organisation, die heimlich Geflüchteten hilft. Am Abend bekommen wir eine Textnachricht und fahren zum Treffpunkt im Wald, nahe der Kleinstadt Hajnowka. Hier endete die Flucht für Whalid aus Homs. Er war im Białowieża-Urwald unterwegs, das Gelände ist unwegsam und seine syrische Gruppe brauchte drei Tage, um sich von der belarussischen Grenze rund 25 Kilometer auf polnisches Gebiet vorzukämpfen.

Umgestürzte Bäume, Unterholz, Sümpfe – das Vorankommen in pechschwarzer Nacht ist quälend langsam. Tagsüber müssen sie sich verstecken, Polizisten und Soldaten sind hier ständig auf der Jagd nach „Grenzverletzern“. Am Ende verlässt Whalid die Kraft. Mit 44 Jahren ist er der älteste der Gruppe und den Strapazen nicht mehr gewachsen. Die anderen ziehen ohne ihn weiter, schicken aber eine GPS-Ortung an die lokalen Helfer.

Die nächtliche Suche nach Whalid ist schwierig. Ich stolpere immer wieder über Äste und Baumwurzeln, falle auf die Knie und rappele mich wieder auf. Ein paar Stunden später finden wir Whalid hinter dem gefällten Stamm einer großer Kiefer. Er zittert vor Kälte, ist halb verdurstet und bringt kaum ein Wort hervor. Die Helfer rufen aus dem nächsten Ort einen Krankenwagen, der Mann ist so entkräftet, dass sie um sein Leben fürchten.

Mit der Ambulanz aber kommt die Polizei. Bewohner im Ort erzählen uns, die Grenzwächter hätten schon eine Mutter mit kleinen Kindern und einen Flüchtling nach einem Herzinfarkt über die Grenze zurückgebracht. Wir erfahren nicht, was aus Whalid wird.

Jeden Morgen aber bekommen wir vom Grenzschutz eine SMS mit der Zahl der Pushbacks vom Vortag: Meist sind es mehr als 30. Die Genfer Flüchtlingskonvention verbietet das ungeprüfte Zurückschieben von Flüchtlingen, aber für die Regierung in Warschau ist das kein Hindernis. Dabei wimmelt die Region wegen der Krise zwischen Belarus und Polen von Journalisten aus aller Welt, aber es ist wie der Wettlauf zwischen Hase und Igel. Im Sperrgebiet ist es immer die Polizei, die als Erste auftaucht.

Ende November richtet die Weltöffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit auf die Flüchtlinge am Ärmelkanal. Eines der seeuntüchtigen Schlauchboote ist auf der Überfahrt nach Großbritan­nien nahe der französischen Küste gesunken. Mit 27 Menschen an Bord, unter ihnen ist die Familie Hussein, eine Mutter mit drei Kindern aus dem irakischen Kurdengebiet. Sie hat im illegalen Flüchtlingslager von Grand Synthe in der Nähe der Hafenstadt Calais auf ihre gefährliche Überfahrt gewartet.

Ein kalter Wind fegt über das Gelände zwischen Bahngleisen und Industriekanal. Der Boden ist aufgeweicht, die Menschen kampieren hier ohne Schutz vor dem Wetter, sie warten auf ihre Chance bei den Schleppern. Feuer aus Ästen und Plastikmüll verbreiten beißenden Gestank, in einem großen Kessel wird Suppe gekocht. Alle paar Tage kommt die Polizei und zerstört die Zelte der Migranten oder konfisziert ihre Habe. Diese gezielte Grausamkeit soll die Leute von der Küste vertreiben, aber lokale NGOs verteilen immer wieder aufs Neue alles Nötige: „Uns gehen bald die Zelte aus“, klagt einer der Helfer.

Ein Vater mit drei Kindern brennt sich in mein Gedächtnis. Der Mann scheint vor der Zeit gealtert und wirkt ratlos. Der 10-jährige Sohn übersetzt: Sie kämen aus Kuwait und gehörten zur Minderheit der Bidun, seien rechtlos und staatenlos, wollten ein neues Leben in Großbritannien. Die kleinen Mädchen stehen dabei und lächeln tapfer, der Junge schaut gefasst und will erwachsen sein. Wie Strandgut sind sie an dieser Küste angespült worden.

Ich bin erleichtert, als die kleine Familie in einen der Busse steigt, mit denen die Behörden Schutzbedürftige in ein Flüchtlingsheim landeinwärts bringen. Ich will mir nicht vorstellen, wie die Kinder bei der Überfahrt in den grauen Wellen des Ärmelkanals versinken.

Mit Abdul gehen wir zu einem der Strände, wo die kleinen Boote ablegen. Der junge Afghane erhielt vor zwei Jahren Asyl in Frankreich und wurde zum Chronisten des Dramas an der Kanalküste. „Ich habe die Familie Hussein noch fotografiert, bevor sie losgefahren sind. Die Mutter war erschöpft und hatte Angst vor der Überfahrt, ich habe es in ihren Augen gesehen. Aber schon in der nächsten Nacht sind sie losgefahren, in ihren Tod.“

Der Wind fegt über den leeren Strand, die Wellen schlagen bedrohlich hoch: „Ich sage immer, fahrt nicht im Winter, es ist zu gefährlich … aber die meisten hören nicht“, sagt Abdul. Im Dezember gab es weniger Überfahrten wegen des schlechten Wetters, doch im Januar registrierte die britische Küstenwache dann wieder mehr als 8000 Ankömmlinge.

Die britische Innenministerin Priti Patel macht politisch Stimmung gegen die „Illegalen“, sie will die Marine gegen sie einsetzen oder die Seenotrettung und macht die Franzosen für das humanitäre Desaster am Ärmelkanal verantwortlich.

Der französische Präsident wiederum startet in den Wahlkampf. Er macht die Briten für das Elend verantwortlich, weil es keinen legalen Weg nach Großbritannien mehr gebe. In Polen hat die Regierung damit begonnen, eine Mauer am leichter zugänglichen Teil der Grenze nach Belarus zu bauen. Sie will dafür Geld aus Brüssel.

Und am Evros finden türkische Grenzbeamte tote Flüchtlinge, nackt und über Nacht erfroren. Die Türkei macht die griechische Seite für den Horror verantwortlich, deren Polizisten hätten den Männern die Kleider weggenommen und sie über den Fluss zurückgezwungen. Athen gibt sich empört und bestreitet die Vorwürfe. Und wie fast immer fehlen die Beweise, denn in den Grenzregionen gibt es schon lange keine Zeugen mehr.

Die Menschen an den Grenzen Europas aber leiden fern der Brüsseler Blase, fern von all den Intrigen und politischen Spielchen. Irgendwie sind sie vom Place Schuman aus nicht richtig zu sehen.

1 Siehe Niels Kadritzke, „Der systematische Rechtsbruch an Europas Grenzen. Wie Griechenland und Polen in der Asylpolitik Fakten schaffen“, LMd, Januar 2022.

Barbara Wesel ist Europakorrespondentin der Deutschen Welle.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.02.2022, von Barbara Wesel