13.01.2022

Der systematischeRechtsbruch an Europas Grenzen

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Der systematischeRechtsbruch an Europas Grenzen

Wie Griechenland und Polen in der Asylpolitik Fakten schaffen

von Niels Kadritzke

Zurückgeschoben nach Belarus, November 2021 PAVEL BEDNYAKOV/picture alliance/dpa/Sputnik
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Die niederländische Korres­pon­dentin Ingeborg Beugel nahm kein Blatt vor den Mund, als sie sich am 9. November 2021 auf einer Pressekonferenz im Amtssitz des Athener Regierungschefs an den Hausherrn wandte: „Herr Mitsotakis, wann werden Sie endlich aufhören, über die Pushbacks zu lügen, über das, was Flüchtlingen in Griechenland passiert? Es gibt dafür überwältigende Beweise, und Sie streiten es immer noch ab.“

Solche Töne ist Kyriakos Mitsotakis von seinen Hofberichterstattern nicht gewohnt. Prompt verlor er die Contenance und spielte den beleidigten Hausherrn: „Ich akzeptiere nicht, dass Sie in diesem Raum mich oder das griechische Volk beleidigen, mit Anklagen, die nicht auf relevanten Fakten basieren; zumal dieses Land, das mit einer Migrationskrise von beispielloser Intensität zu tun hat, hunderte, wenn nicht tausende Menschen aus Seenot gerettet hat.“1

Den stolzen Anspruch auf die Rettung von Menschenleben an den Landesgrenzen wird man von der polnischen Regierung nicht hören. Sie setzt auf härtere propagandistische Mittel, wie eine Pressekonferenz zeigt, die am 27. September 2021 in Warschau stattfand – zu diesem Zeitpunkt hatte man auf polnischem Gebiet schon sechs Tote gefunden und hunderte Migranten waren rechtswidrig über die Grenze nach Belarus abgeschoben worden. Der Auftritt von Innenminister Mariusz Kamiński und Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak wurde vom Staatssender TVP übertragen. Die beiden präsentierten unter anderem eine Filmsequenz, in der ein Mann mit einer Kuh kopuliert.

Die Szene stammte angeblich von der Speicherkarte eines Flüchtlings. Der Verteidigungsminister erläuterte, die „Political Correctness“ möge eine solche Darbietung verbieten, aber hier gehe es um „die Sicherheit des Heimatlands“. In den Abendnachrichten lief der Videoclip mit der Unterzeile: „Er vergewaltigte eine Kuh und wollte nach Polen?“

Natürlich war rasch bewiesen, was ohnehin klar war: Das Material stammte aus einem alten Pornofilm, den man aus dem Internet fischen kann.2 Es war nicht der erste Versuch, die Geflüchteten an der belarussischen Grenze kollektiv zu dämonisieren. Zuvor hatte die Regierung ihnen terroristische Absichten und Verbindungen zu den Taliban anhängen wollen.

Was bedeutet es, wenn zwei polnische Minister sich als Verbreiter gezinkten pornografischen Materials entblößen? Ihr Ansehen in der Welt ist ihnen offensichtlich egal. Wichtig ist allein die propagandistische Wirkung im Land. Das Volk soll in Angst versetzt werden. Die PiS-Regierung inszeniert sich als Damm gegen die „Flut“ fremdländischer und sittenloser Migranten, um ihr im Schwinden begriffenes Wählervolk zu aktivieren. Dazu ist dem Ka­czyńs­ki-Lager jedes Mittel recht. Schon im Vorfeld der Wahl von 2015, die die PiS an die Macht brachte, hatte der Parteiführer behauptet, dass die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten „fremdartige Parasiten“ einschleppten.

Die konservative ND-Regierung in Athen setzt nicht auf die rassistische Karte. Ministerpräsident Mitsotakis legt Wert auf ein modern-liberal-europäisches Profil. Zwar gibt es kirchliche Kreise, deren islamophobe Parolen einen Teil der Nea-Dimokratia-Wählerschaft ansprechen. Aber Mitsotakis muss zugleich die bürgerliche Mitte gewinnen, die auf xenophobe Hetzparolen nicht anspringt.

Damit ergibt sich für die Haltung der Athener Regierung zu den Pushback-Vorwürfen ein Problem. Der bekennende „Europäer“ Mitsotakis weiß, dass Griechenland auf die Europäische Menschenrechtskonvention (ECHR) wie auf die Charta der Grundrechte der EU und sekundäres EU-Recht verpflichtet ist, die Pushbacks verbieten. Deshalb muss er leugnen, dass die Ordnungskräfte an der griechisch-türkischen Landgrenze und die griechische Küstenwache in der Ostägäis diese völkerrechtswidrigen Praktiken anwenden: „Ich weise den Ausdruck Pushback zurück“, erklärte er Anfang Juli 2021 in einem Interview, „ich weise diese Terminologie zurück. In meinem Vokabular gibt es diesen Begriff, gibt es dieses Wort nicht.“

Das zeugt immerhin von einem Unrechtsbewusstsein, mit dem sich die Warschauer Regierung nicht plagen muss. Die bekennt sich ganz offen zu einer Strategie, die nach Darstellung des NGO-Netzwerks Grupa Granica (Gruppe Grenze) darin besteht, „Menschen, die bereits die Grenze überschritten haben, so schnell wie möglich und um jeden Preis nach Belarus zurückzudrängen“.3

Die „rechtliche“ Grundlage für diese Praxis hat die PiS-Regierung mittels neuer Rechtsverordnungen und Gesetze geschaffen, die eindeutig gegen das „Völkergewohnheitsrecht“ verstoßen. Aufgrund des in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 formulierten Non-Refoulement-Prinzips dürfen Personen nicht in Länder zurückgeschickt werden, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverstöße drohen oder die Gefahr, in ihr Herkunftsland abgeschoben zu werden. Sie haben vielmehr das Recht auf Überprüfung ihrer individuellen Schutzwürdigkeit in einem geregelten Asylverfahren.

Der Hamburger ­Seerechtsexperte Alexander Proelß formuliert es so: „In dem Moment, in dem jemand das Staatsgebiet eines EU-Mitgliedstaats erreicht, hat die betreffende Person einen Anspruch darauf, einen Asylantrag zu stellen, der dann überprüft werden muss.“4 Das gilt „ganz unabhängig davon, wie die Person in die Europäische Union gekommen ist“, also auch für irreguläre Grenzübertritte, wie Amnesty International in einer Presseerklärung vom 29. Oktober 2021 klarstellte.

Dieses Recht auf einen Asylantrag wie der Schutz vor Zurückweisung (refoulement) sind durch das neue polnische „Ausweisungsgesetz“ quasi abgeschafft. Denn dieses ermöglicht „den Einsatz von Gewalt zur Durchführung von Pushbacks“ und erlaubt selbst die Ausweisung von Personen, die bereits internationalen Schutz beantragt haben.5 Auch der polnische Ombudsmann Marcin Wiącek – mit dem offi­ziel­len Titel Menschenrechtsbeauftragter (RPO) – hat das Gesetz, das am 26. Oktober 2021 in Kraft trat, für rechtswidrig befunden.

Was mit den geflüchteten Menschen geschieht, die es auf polnisches Territorium schaffen, wird von Grupa Granica so beschrieben: „Ihr erklärter Wille, internationalen Schutz zu beantragen, wird nicht gehört und ihre Anträge werden nicht entgegengenommen. Sie werden zur Grenze eskortiert und nach Belarus abgeschoben.“ Das verstößt eindeutig gegen die EU-Direktive zur Behandlung von aus Drittstaaten Geflüchteten.

Wie viele Menschen seit dem ersten Pushback-Fall vom 8. August 2021 nach Belarus zurückgedrängt wurden, lässt sich nicht ermitteln. Bis zur Errichtung des Stacheldrahtwalls hat die polnische Grenzpolizei ihre „Erfolgsmeldungen“ sogar über Twitter verbreitet, aber insgesamt sind die offiziellen Zahlen nicht transparent. Klar ist nur, dass die Pushbacks auf Grundlage des „Ausweisungsgesetzes“ ohne jedes Unrechtsbewusstsein weitergehen.

Die Warschauer Regierung rechtfertigt ihre Praxis mit Verweis auf das souveräne Recht Polens, seine und die EU-Außengrenzen zu kontrollieren. Dass polnisches Recht im Zweifel das Völkerrecht und EU-Recht übertrumpft, gehört zum nationalistischen Credo der PiS. Die Regierung, die sich auch weigert, missliebige Entscheidungen von EU-Gerichten zu befolgen, bedient sich beim internationalen Recht bevorzugt à la carte, also nur, wenn es schmeckt.

Gegen die Kritik an den Pushbacks führt Warschau ein weiteres Argument ins Feld: Die Genfer Konvention von 1951 sei in einer völlig anderen Zeit entstanden, erklärte Vizeaußenminister Marcin Przydacz am 10. Dezember gegenüber al-Dschasira.6 Auf die aktuelle Situation sei die Konvention nicht mehr anwendbar, schon gar nicht angesichts der von Belarus angezettelten „Belagerung der Grenze“, die der Erklärung eines „hybriden Kriegs“ gleichkomme.

Mit diesem Argument hat die PiS-Regierung auch die Mobilisierung der polnischen Armee angeordnet, die mit 12 000 Einsatzkräften die rund 8000-köpfige Grenzpolizei verstärkt. Der „Angriff“ aus dem Osten war auch die Begründung für den dreimonatigen Ausnahmezustand, den Staatspräsident Andrzej Duda am 2. September für einen drei Kilometer breiten Grenzstreifen verfügte. Der diente vor allem dazu, die Medien und humanitäre NGOs fernzuhalten. Deren Zutritt bedarf auch nach dem seit Anfang Dezember geltenden „Gesetz zum Schutz der Grenze“ der Zustimmung der Grenzpolizei.

Auch der Athener Regierung dient der Verweis auf die Flüchtlingsstrategie eines „feindlichen“ Nachbarn zur Rechtfertigung ihrer „harten, aber fairen“ Politik gegenüber „illegalen Mi­gran­ten“, wie sich Mitsotakis ausdrückt. Auch der sprach im März 2020, als zehntausende Menschen an die Evros-­Grenze drängten, von einer „asymmetrischen Bedrohung aus dem Osten“. Und beschuldigte den türkischen Präsidenten Erdoğan, „illegale Invasoren“ zu benutzen, um ihre „geopolitische Agenda“ durchzusetzen.

Damals hatte Mitsotakis mit seinen Anschuldigungen gegen die Türkei ebenso recht wie die Warschauer Regierung heute, wenn sie dem Lukaschenko-Regime vorwirft, sie habe die Flüchtlinge ins Land geholt, um Polen und die EU politisch zu erpressen. Aber in beiden Fällen gilt: Wie immer die Strategien der bösen Nachbarn aussehen, ihre Objekte/Opfer sind Menschen, die in Europa Zuflucht suchen. Deren Motive sind nicht immer „schutzwürdig“ im Sinne des humanitären Völkerrechts, das ein Recht auf Asyl bei physischer Bedrohung und politischer Verfolgung vorsieht. Aber ihr Recht auf die individuelle Prüfung ihrer Schutzwürdigkeit ist unverbrüchlich, und jeder Pushback ist darauf angelegt, ihnen dieses Recht zu nehmen.

Wenn Polen seine Grenze durch Stacheldraht schützt und Griechenland an seiner Landgrenze zur Türkei eine Mauer baut, entsteht zwar ein Monument der Unmenschlichkeit, aber kein Unrecht. Wenn ein Land jedoch Geflüchtete, die diese Grenzen überwinden, wie Feinde behandelt, verstößt es gegen das Völkerrecht.

Im Fall Griechenland gibt es dafür überwältigende Beweise. Die Pushbacks in der Ostägäis werden vom UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR), von Amnesty International, Human Rights Watch und gut 100 NGOs kritisiert. Angesichts dessen ist das Leugnen von Mitsotakis in gewisser Weise ein Rätsel. Der griechische Regierungschef hält sich für einen cleveren Kommunikator. Doch die Darstellung dessen, was die griechische Küstenwache (HCG wie Hellenic Coast Guard) in der Ägäis unternimmt, ist in ihrer Arglosigkeit einfach dumm: „Wir fangen Boote ab, die aus der Türkei kommen, und wir warten dann, dass die türkische Küstenwache kommt und sie aufgreift, um sie in die Türkei zurückzubringen.“

Diese Erzählung hat nichts mit der Realität zu tun. Sie verschweigt, was weltweit publiziert wird, ohne dass die griechische Regierung irgendwelche presse- oder strafrechtlichen Schritte gegen die betreffenden Medien unternommen hätte. Sie schweigt über die schwarzgekleideten und maskierten Männer, die Flüchtlingsboote in griechischen Gewässern seeuntüchtig machen oder durch gefährliche Manöver zwingen, in türkische Gewässer zurückzusteuern.

Mitsotakis verschweigt auch die zahlreichen Fälle, in denen Bootsflüchtlinge bereits griechisches Inselterritorium erreicht haben, dann aber von den vermummten Spezialeinheiten der HCG auf Liferafts gesetzt und in Richtung türkischer Küste gedrängt werden. Über diese zu Pushback-Vehikeln umfunktionierten „Rettungsinseln“ verfügt heute jede HCG-Station in der östlichen Ägäis. Wie oft sie zum Einsatz kamen, wird man erst wissen, wenn eine offizielle Untersuchung stattgefunden hat. Die NGO Aegean Boat Report geht von rund 450 Einsätzen zwischen März 2020 und Anfang Dezember 2021 aus, bei denen rund 8000 Menschen in türkische Gewässer zurückbefördert wurden.

Mitsotakis verschweigt auch, dass die HCG-Einheiten Männer, Frauen und Kinder über hunderte Kilometer deportieren. Die beiden jüngsten Fälle (vom 22. September und 15. November 2021) betreffen havarierte Flüchtlingsboote, die auf der Fahrt von der Türkei nach Italien an der Küste der Peloponnes strandeten. Die insgesamt 69 Schiffbrüchigen, die bereits an Land gegangen waren, wurden von der Küstenwache über mehr als 500 Kilometer zurück an die türkische Küste ver­frachtet.7

Auch diese Fälle leugnet die griechische Regierung. Selbst wenn die Gestrandeten von Einheimischen gesehen und versorgt wurden, will man bei der HCG nichts gehört, gesehen oder erfahren haben. Im Fall der verschwundenen Schiffbrüchigen vom 22. September, der in einer ARD-Sendung dokumentiert wurde, lautete die Antwort auf eine parlamentarische Anfrage: „Der besagte Vorfall ist uns niemals zur Kenntnis gekommen, noch waren wir an ihm beteiligt.“8

All dies beweist: Die Athener Regierung befiehlt ihrer Küstenwache fortlaufend Aktionen, die internationales Recht beugen. Um die Pushback-Vorwürfe zu entkräften, setzt sie auf eine bewährte Methode: Das alles sei „türkische Propaganda“. Weil zu den Beweismaterialien auch Videoaufnahmen der türkischen Küstenwache gehören, werden NGOs – wie Aegean Boat Report, Watch the Med oder Mare Liberum – pauschal als „Werkzeuge Erdoğans“ oder als „Helfershelfer der Menschenschmuggler“ denunziert. Um diese lästigen Augenzeugen auszuschalten, lässt die Regierung sie seit Jahren von der Polizei schikanieren, geheimdienstlich überwachen und strafrechtlich ver­folgen.9

Und wenn Mitsotakis darauf hinweist, dass seine Küstenwache viele Flüchtlinge aus Seenot gerettet hat, ist das nur ein weiterer PR-Trick. Als Unschuldsbeweis ist er untauglich, denn die verdienstvollen Rettungseinsätze der HCG schließen keineswegs aus, dass Spezialeinheiten derselben Küstenwache immer wieder Pushback-Aktionen durchführen. Dass diese ohne Kenntnis des Regierungschefs stattfinden, ist bei einem Kontrollfreak wie Mitsotakis völlig undenkbar. Dessen Leugnen beruht also nicht darauf, dass er es nicht besser weiß, weil er von anderen nicht informiert wurde. Ein solcher Leugner verbreitet Unwahrheiten, die nicht unbedingt Lügen sind. Wer jedoch Unwahrheiten verbreitet, obwohl er es besser weiß, der ist ein Lügner.

Mitsotakis hat ein fast potemkinsches PR-Gebäude auf einem Sumpf von Lügen errichtet. Aber das stört den Baumeister nicht, solange die Fassade steht – als Botschaft an das griechische Publikum: Wir schützen unsere Grenzen, „damit nicht noch mehr Menschen versuchen, illegal nach Griechenland zu gelangen“. Das Ziel, die Nation vor Überfremdung zu bewahren, heiligt alle Mittel, auch die Missachtung von Menschenrechten.

Lügen haben angeblich kurze Beine, aber innenpolitisch kommt Mitso­takis damit ziemlich weit. Seine Politik der „Verteidigung unserer Grenzen“ erhält in den Umfragen hohe Zustimmungswerte. Freilich ist Griechenland nicht das einzige EU-Land, in dem mit einer „humanen Flüchtlingspolitik“ politisch nichts zu gewinnen ist. Das wissen wir gerade in Deutschland, wo das Thema im Bundestagswahlkampf von allen Parteien als „toxisch“ gemieden wurde. Umso mehr kann die Regierung eines Landes, das an der EU-Außengrenze liegt, mit einer inhumanen, aber effektiven Flüchtlingspolitik erfolgreich um Wählerstimmen werben. Deshalb darf Migrationsminister Notis Mitarakis mit „Erfolgen“ protzen, die ein direktes Resultat der Pushback-Praktiken sind. Am 27. August 2021 vermeldete er im griechischen Parlament, man habe den „Migrantenstrom“ nach Griechenland um 86 Prozent, auf den ostägäischen Inseln sogar um 95 Prozent eindämmen können. Damit sei „die Kontrolle über die Immigration zurückgewonnen“.

Griechenland wie Polen machen geltend, dass sie schließlich ganz Europa vor den Fluchtbewegungen aus dem Osten schützen. Und ja, die meisten Regierungen der EU-Länder sind froh – und nicht nur klammheimlich –, dass die Grenzländer ihnen die Drecksarbeit abnehmen. Keine Regierung will ihrer Bevölkerung die Übernahme von Asylbewerbern oder Schutzbefohlenen aus Griechenland oder Polen zumuten. Das ist der Hauptgrund, warum die Pushback-Praktiken auf offizieller EU-Ebene fast nie thematisiert werden.

Pushbacks über hunderte Seemeilen

Die EU lasse liebend gerne zu, „dass Länder wie Griechenland das tun, was sie für nötig erachtet, ohne selbst dafür die Verantwortung übernehmen zu müssen“, argumentiert der Völkerrechtler Guy S. Goodwin-Gill. Wenn die EU-Organe zu Griechenland „stopp“ sagen würden, könnten die Griechen antworten: „In Ordnung, aber dann übernehmt wie vereinbart die 10 000 Flüchtlinge; und genau das will das übrige Europa nicht.“10

Der Flüchtlingsexperte benennt damit den heimlichen Konsens innerhalb der EU-Mitgliedstaaten, der nur von einigen Stimmen in den nationalen Parlamenten und im Europäischen Parlament infrage gestellt wird. Dort drängt die sozialdemokratische Fraktion gegenüber der Kommission auf Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland, Polen und Kroatien. Zudem fordert sie, diesen Staaten die EU-Mittel für „Migrationsmanagement“ zu stornieren, bis sie beweisen können, dass sie keine Pushbacks mehr durchführen.

Innerhalb der Kommission gibt es offensichtlich widerstreitende Tendenzen. Im Fall Griechenland hat die Innenkommissarin Ylva Johansson die Athener Regierung wiederholt kritisiert. Am 7. Oktober 2021 bezeichnete sie Medienberichte über Pushbacks der griechischen Küstenwache als „schockierend“ und versicherte: „Ich werde es nicht akzeptieren, dass Griechenland diese Sache nicht untersucht.“11

Doch Johanssons Versuch, volle Transparenz einzuklagen, trifft in Athen auf zähen Widerstand. Die Regierung Mitsotakis blockiert ihre Forderung, eine unabhängige Monitoring-Instanz zuzulassen mit dem Hinweis, die gebe es schon in Form der „Nationalen Transparenzbehörde“.

Auch in Warschau hat Ylva Johansson Anfang Oktober mehr Transparenz eingefordert, um Klarheit darüber zu gewinnen, „ob Polen sich an geltendes EU-Recht hält“.12 Doch ihr Vorschlag, Verbindungsbeamte der EU an die polnisch-belarussische Grenze zu schicken, stieß auf taube Ohren. Die PiS-Regierung verweigert selbst das Angebot, Frontex-Einheiten einzusetzen – die bei den Pushbacks in der Ägäis eine dubiose und noch unaufgeklärte Rolle spielen –, als unvereinbar mit der polnischen Souveränität.

Im Fall Polen hat die schwedische Kommissarin ihren Aufklärungsdrang offenbar gezügelt. Und in der Diskus­sion um den Entwurf für ein „Neues Migrations- und Asylpaket“, das die EU-Kommission am 23. September 2020 vorgelegt hat, scheinen sich die Hardliner durchzusetzen, die den Forderungen der osteuropäischen „Frontstaaten“ und Griechenlands nachkommen wollen. Nach einem Bericht der Nachrichtenwebsite BalkanInside gibt es in der Kommission starke Kräfte, die sich durchaus mehr „Flexibilität“ in der Behandlung von Flüchtlingen wünschen, wie sie außer Griechenland auch Zypern, Bulgarien, Ungarn, Estland, Lettland, Polen, Tschechien, die Slowakei und Slowenien seit Sommer 2020 fordern.13

Der Entwurf der Kommission enthält einen Vorschlag für den Fall eines „außergewöhnlichen Massenzuflusses von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die irregulär in einem EU-Land ankommen“. Ein solcher Notfall soll zu „vorübergehenden und außergewöhnlichen Maßnahmen“ berechtigen, die den geltenden Schutz für potenzielle Asylbewerber zeitweise suspendieren. Der Vorschlag scheint exakt auf Situationen zugeschnitten, wie sie im März 2020 an der griechisch-türkischen Grenze und im Herbst 2021 an der EU-Ostgrenze zu Belarus entstanden sind. Die Formel würde auch die polnische Auffassung abdecken, dass ein Land angesichts einer Force Majeure (höheren Gewalt), also unbeeinflussbarer Ereignisse, von der Einhaltung rechtlicher Verpflichtungen entbunden sei.

Gegen solche – und noch radikalere – Vorstellungen leisten die Rechtsabteilungen einiger EU-Kommissare bereits Widerstand. Auch im Europäischen Parlament ist mit entschiedener Opposition gegen die Aufweichung der völkerrechtlichen Verpflichtungen zu rechnen.

Schweigende Zustimmung seitens der EU

Aber inzwischen ist die Revision der EU-Asylpolitik bereits einen Schritt weiter. Am 9. Dezember haben die EU-Innenminister beschlossen, Polen, Litauen und Lettland eine Ausnahmeregelung zu schenken, die Aspekte des EU-Rechts an der Ostgrenze dieser Staaten „vorübergehend“ (für sechs Monate) aussetzen würde.

Das bedeutet faktisch die Einschränkung rechtsstaatlicher Asylverfahren und die Möglichkeit einer beschleunigten Rückführung, kritisiert der Europaabgeordnete Erik Marquardt. Der Migrationsexperte der Grünen-Fraktion sieht darin den Versuch, die rechtliche an die faktische Politik der Union anzupassen: „Weil man die illegalen Pushbacks und schweren Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen nicht mehr leugnen kann, wird nun versucht, sie teilweise zu legalisieren.“14

Die EU-Kommission versucht zu beschwichtigen und versichert über Twitter, es gelte lediglich „den Notstand an der EU-Außengrenze mit Belarus zu bewältigen, ohne die Menschenrechte zu beeinträchtigen“. Auch die Innenkommissarin Johansson beteuerte, das Recht auf ein faires Asylverfahren werde nicht angetastet, während die polnische Regierung die neue Regelung ablehnt, weil sie nicht die Möglichkeit vorsieht, die Asylverfahren insgesamt zu suspendieren.

Dennoch ist der Beschluss der EU-Innenminister ein böses Omen. Er etabliert eine schiefe Ebene, auf der die formelle Bindung des EU-Rechts an das Völkergewohnheitsrecht ins Rutschen kommt. Das befürchtet auch Erik Marquardt: „Es ist äußerst zweifelhaft, ob die EU-Kommission den Geist noch mal in die Flasche kriegt, nachdem sie 18 Monate lang systematischen Menschenrechtsverletzungen gegen Schutzsuchende weitgehend zugesehen hat.“

Und tatsächlich kam aus Brüssel nie ein Wort der Kritik an Warschau, als der polnische Grenzschutz monatelang die tägliche Zahl der Pushbacks veröffentlichte, vermerkt Barbara Wesel in einem Bericht für die Deutsche Welle vom 2. Dezember. Die Brüssel-Insiderin sieht aber auch einen Zusammenhang mit den Interessen Athens: „Es ist kein Zufall, dass sich ausgerechnet der griechische Kommissar Margaritis Schinas für die Aushöhlung des Asylrechts starkmacht.“ Der Vizepräsident der Kommission erwecke den Eindruck, „seiner eigenen konservativen Regierung in die Hände zu arbeiten, indem er im Fall Belarus eine Bresche in das geltende Recht schlägt“.15

Das Kalkül ist allzu offensichtlich: Ein Erfolg der asylpolitischen Revisionisten in Brüssel würde auch Mitsotakis aus der Patsche helfen. Der griechische Regierungschef hätte es künftig nicht mehr nötig, die Welt über die griechischen Pushbacks anzulügen.

1 Die Szene findet sich auf Youtube.

2 Paweł Wroński, „Polish Minister of Interior Presents False Evidence Framing Refugees for Bestiality“, Gazeta Wyborcza, 29. Sepember 2021.

3 „Humanitarian Crisis at the Polish-Belarusian Border“, Report by Grupa Granica, 10. Dezember 2021.

4 Zitiert nach: Andreas Noll, „Wann sind Pushbacks an der EU-Außengrenze illegal?“, Deutsche Welle, 7. Oktober 2021.

5 So das Rechtsgutachten der polnischen Helsinki-Stiftung für Menschenrechte (HFPC): Marta Górczyńska u. a., „Legal analysis – of the Situation on the Polish-Belarusian Border“, 23. September 2021.

6 „Is Poland violating international law at its border?“, Al Jazeera, 10. Dezember 2021.

7 Zu den einzelnen Pushback-Aktionen siehe meinen Blog „Nachdenken über Griechenland“ auf der LMd-Website, zuletzt: „Die kurzen Beine des Kyriakos Mitsotakis“, 23. Dezember 2021.

8 Efimerida ton Syntakton, 27. Oktober 2021.

9 Siehe meine Blog-Texte „Nach Moria: Zur Lage der Flüchtlinge, nicht nur auf Lesbos“, 21. Oktober 2020 und vom 23. Dezember 2021 (siehe Anmerkung 7).

10 Zitiert in: Apostolis Fotiadis, „Death by a Thousand Derogations“, BalkanInside, 28. Juli 2021.

11 Kathimerini (engl. Ausgabe), 8. Oktober 2021.

12 Im Interview mit Johanna Roth, „Lukaschenko ist hier der Böse“, Zeit-Online, 6. Oktober.

13 Siehe. Anmerkung 10; sowie „The New Pact on Mi­gra­tion and Asylum“, EuroMed Rights, Mai 2021.

14 Erik Marquardt, „Was diese Woche wichtig war“, 10. Dezember 2021.

15 Barbara Wesel, „Kritik an Lockerung von EU-Asylregeln“, Deutsche Welle, 2. Dezember 2021.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.01.2022, von Niels Kadritzke