13.01.2022

Frauen, die nicht mehr schweigen

zurück

Frauen, die nicht mehr schweigen

Japanische Feministinnen in der Offensive

von Christine Levy

Auf einer der ersten Flower-Demos in Tokio, Juni 2019 ALESSANDRO DI CIOMMO/picture alliance/nurphoto
Audio: Artikel vorlesen lassen

Seit 2018 gibt es in Japan ein Gesetz, in dem unter anderem den Parteien nahelegt wird, gleich viele männliche und weibliche Kan­di­da­t:in­nen aufzustellen. Doch die Wahlen zum Unterhaus, dem Shūgiin, am 31. Oktober 2021 brachten ein ernüchterndes Ergebnis: Der Frauenanteil im Shūgiin sank sogar. Waren zuvor 47 von 465 Sitzen mit Frauen besetzt, sind es jetzt nur noch 45. Im weltweiten Ranking der Interparlamentarischen Union rangiert Japan, was den Frauenanteil in Parlamenten betrifft, auf Platz 164 von 190.

Japanische Feministinnen hatten gefordert, das Gesetz müsse für die Parteien verpflichtend formuliert werden. Doch der geschlossene Widerstand konservativer Abgeordneter sorgte dafür, dass die Parteien darin lediglich aufgefordert werden, „so viel wie möglich“ für eine paritätische Kandidatenliste zu tun.1

Bei den Wahlen im Oktober bestand der Kandidatenpool der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) zu 9,7 Prozent aus Frauen. Die linksliberale Konstitutionell-Demokratische Partei (CDP) war mit einem Frauenanteil von 18,4 Prozent etwas besser aufgestellt.2 Fortschrittlicher zeigten sich nur die Kommunistische Partei (JCP) mit 35,4 Prozent und die Sozialdemokratische Partei (SDP) mit 60 Prozent – Letztere stellte aber insgesamt auch nur 15 Kan­di­da­t:in­nen auf, 9 davon Frauen.

Die Arbeit der Feministinnen ist mühsam, doch in den letzten Jahren ist Bewegung in der japanischen Gesellschaft zu spüren. Davon zeugt auch die erste feministische Buchhandlung in Tokio, die im Januar 2021 von Akiko Matsuo eröffnet wurde. Matsuo ist Gründerin des Verlags etc.books und hat zusammen mit der Schriftstellerin Minori Kitahara eine japanische MeToo-Bewegung initiiert. Unter dem Hashtag #WithYou riefen sie zum Protest auf, nachdem Gerichte im März 2019 vier überführte Sexualstraftäter freigesprochen hatten.

Freigesprochen wurde ein Mann in Nagoya, der seine Tochter sexuell missbraucht hatte, seit sie 13 Jahre alt war, über sechs Jahre. Es bestünden „Zweifel, ob diese tatsächlich unfähig war, seine Handlungen zurückzuweisen“. Das gleiche Urteil fällte das Gericht von Shizuoka im Prozess gegen einen Mann, dem die Vergewaltigung seiner zur Tatzeit 12-jährigen Tochter zur Last gelegt wurde. Begründet wurde der Freispruch mit Ungereimtheiten in der Aussage des Opfers.

In Fukuoka wurde ein Manager freigesprochen, der wegen der Vergewaltigung einer Angestellten angeklagt war. Der Mann hatte die Frau betrunken gemacht – sie war also klar „widerstandsunfähig“ –, aber das Gericht urteilte, er sei sich dessen nicht bewusst gewesen. Ebenfalls in Shizuoka kam ein Mann straffrei davon, der eine Frau vergewaltigt hatte, die er zuvor geschlagen hatte. Er sei für ihn nicht ersichtlich gewesen, so das Gericht, dass die Benommenheit der Frau Ablehnung bedeutete. In den drei ersten Fällen wurden die Männer nach den Protesten schließlich doch noch verurteilt.

Damals begannen Demonstrationen, die auch als „Flower Demos“ bekannt geworden sind. Sie finden inzwischen regelmäßig am 11. jedes Monats statt. Sie sind ein Forum, auf dem Opfer von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch das Wort ergreifen können. Die Schriftstellerin Minori Kitahara erklärt: „Vor WithYou gab es keinen sicheren Ort zum Sprechen. Jetzt haben wir einen Ort, wo jede ihre Geschichte erzählen kann und Solidarität erfährt.“3

Die Aktionen der Feministinnen gegen jede Form von sexueller und häuslicher Gewalt gibt es nicht erst seit Kurzem: Seit 1999 wird etwa jedes Jahr ein Preis für sexistische Wortmeldungen an Personen des öffentlichen Lebens verliehen. 2021 ging die Auszeichnung zu gleichen Teilen an die LDP-Abgeordnete Mio Sugita und den ehemaligen Premierminister Yoshirō Mori (2000–2001), ebenfalls LDP. Sugita, die für ihre frauen- und queerfeindlichen Provokationen bekannt ist, rechtfertigte die vier Freisprüche vom März 2019 und behauptete im September 2020, dass „Frauen so viel lügen dürfen, wie sie wollen“.4

Erster Frauenbuchladen erst 2021

Yoshirō Mori sorgte als Leiter des japanischen Organisationskomitees der Olympischen und Paralympischen Spiele (Tocog) am 3. Februar 2021 für Empörung im In- und Ausland, als er behauptete, Frauen seien zu redselig und würden so Debatten in die Länge ziehen.5 Gleich am nächsten Tag wurde eine Petition gegen ihn gestartet, innerhalb von zwei Tagen unterzeichneten 110 000 Menschen.

Am 6. Februar organisierten Feministinnen unter dem Hashtag #wakimaenai onna tachi (Frauen, die nicht schweigen) eine zweieinhalbstündige Sendung auf dem Youtube-Kanal Choose TV.6 Auf Einladung der Philosophin Rei Nagai kommentierten 25 Schriftstellerinnen, Verlegerinnen, Vertreterinnen von NGOs und Aktivistinnen Moris gesamte Ausführungen, insbesondere die im Ausland weniger bekannte Passage über das Rivalitätsgebaren von Frauen. „Wenn eine von ihnen ihre Hand hebt, denken sie wahrscheinlich, dass sie selbst auch etwas sagen müssen. Und dann sagen alle etwas“, so Mori.

Am 7. Februar gaben 60 Prozent der Ja­pa­ne­r:in­nen bei einer Umfrage an, Mori habe an der Spitze des Tocog nichts mehr verloren;7 fast 1000 Freiwillige sagten ihre Mitarbeit bei den Spielen ab, Sponsoren und zahlreiche Prominente distanzierten sich von Moris Äußerungen. Obwohl Premierminister Yoshihide Su­ga den Olympia-Chef bis zuletzt unterstützte, kam Mori nicht umhin, am 12. Fe­bruar seinen Rücktritt zu erklären. Es war das erste Mal, dass ein LDP-Schwergewicht wegen sexistischer Äußerungen sein Amt niederlegen musste.

Zwar schlägt dem Feminismus in der japanischen Gesellschaft heftiger Widerstand entgegen, doch die junge Generation ist offener und stellt kritische Fragen – zum Beispiel zur Vereinbarkeit von Arbeit und Familie. Die Aktivistin Tamaka Ogawa erzählt, sie sei Feministin geworden, nachdem sie 2013 auf einen Artikel zur Verteidigung berufstätiger Mütter hin mit Beleidigungen wie kusofemi (Feministensau) überschüttet worden sei.

Das Thema ist für Japan zentral, denn die Bevölkerung ist überaltert, die Zahl der Geburten geht zurück, und ein großer Teil der jungen Generation arbeitet in prekären Beschäftigungsverhältnissen. In Japan werden nur 3 Prozent der Kinder außerehelich geboren (in Frankreich sind es 62,2 Prozent, in Deutschland 33,1 Prozent), und eine Heirat hängt häufig immer noch davon ab, ob der Mann eine Familie ernähren kann.

Die sozioökonomischen und fami­liä­ren Strukturen, die sich seit 1945 etabliert haben, zwingt Frauen nach wie vor, sich zwischen Ehe und Karriere zu entscheiden. Die weibliche Erwerbsquote verläuft in Japan in Form einer M-Kurve – steiler Anstieg im jungen Erwachsenenalter, Abfall nach der Heirat und der Geburt eines Kindes, dann wieder ein leichter Anstieg. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Kurve lediglich etwas nach hinten verschoben: Die Japanerinnen werden heute nicht mehr mit 25, sondern mit 30 Jahren Hausfrau.

1986 trat das Equal Employment Opportunity Law (EEO) in Kraft, das es Arbeitgebern gesetzlich verbietet, einer Frau nach Heirat und Geburt eines Kindes zu kündigen (in den meisten Unternehmen mussten Frauen einen Vertrag unterschreiben, der sie zur Aufgabe ihrer Stelle in diesem Fall verpflichtete, obwohl sich im Arbeitsrecht keine entsprechende Bestimmung findet). Dennoch hört die Mehrzahl der Frauen auf zu arbeiten, sobald ein Kind da ist: Obwohl es seit 2012 mehrere Förderprogramme zur Vereinbarkeit von Arbeit und Familie gegeben hat, kehren nur 38 Prozent der Frauen nach der Geburt eines ersten Kindes an den Arbeitsplatz zurück.

1985 ratifizierte das japanische Parlament die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, was die Verabschiedung des EEO nach sich zog. Die darin festgeschriebene Chancengleichheit wurde jedoch von den Firmenchefs durch die Einführung eines zweigleisigen Beschäftigungssystems umgangen: Es gibt eine „spezifische Laufbahn“ (sogo­sho­ku), bei der Beförderungen möglich sind, und eine „allgemeine Laufbahn“ (ip­pan­sho­ku) ohne Aufstiegsperspektiven. Frauen müssen sich bei der Einstellung für einen der beiden Kar­riere­wege entscheiden. Die „spezifische Laufbahn“ einzuschlagen bedeutet allerdings, viele Überstunden und Versetzungen in die Provinz zu akzeptieren, was mit dem Familienleben schwer vereinbar ist.

Zugang zu den Hochschulen erst 1945

Der Anteil weiblicher Führungskräfte in privaten Unternehmen stagniert bei etwa 9 Prozent, in der höheren Leitungsebene ist er noch geringer. Das Einkommensgefälle zwischen Männern und Frauen ist zwar laut dem japanischen Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales von 40 Prozent in der 1990er Jahren auf 24,5 Prozent 2020 gesunken (in Frankreich waren es 2020 16,8 Prozent, in Deutschland 18 Prozent).

Das liegt jedoch mehr daran, dass die Gehälter von Männern in den letzten 20 Jahren gesunken sind, als dass die Einkommen von Frauen gestiegen wären. Darüber hinaus wurde in der Statistik das Alter nicht berücksichtigt: Männer verdienen, wieder nach den Erhebungen des Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Soziales von 2021, im Alter zwischen 49 und 55 Jahren im Schnitt jährlich 4,2 Millionen Yen (32 800 Euro). Frauen dagegen kommen im selben Altersabschnitt – dem statistischen Karrierehöhepunkt – auf lediglich 2,74 Millionen Yen (21 440 Euro). Darüber hinaus befinden sich Frauen häufiger in prekären Arbeitsverhältnissen (Teilzeit, wechselnde Anstellungen, Befristungen, Vertretungen und so weiter) und verdienen dabei weniger als 55 Prozent des männlichen Durchschnittslohns.

Das Ungleichgewicht lässt sich unter anderem auf zwei andere Gesetze zurückführen, die ebenfalls 1986 verabschiedet wurden. Das erste Gesetz entlastet einen Ehepartner bei der Einkommenssteuer um 380­000 Yen (circa 3000 Euro), wenn das Jahreseinkommen des anderen nicht mehr als 1,03 Millionen Yen (circa 8000 Euro) beträgt. Diese Summe entspricht dem Verdienst in Teilzeitbeschäftigung und betrifft meist die Ehefrau. Das andere erlaubte die zuvor verbotene Zeitarbeit. Für die betroffenen Branchen (1986 waren es 13, 1999 dann 26 und seit 2015 gilt das Gesetz ohne Einschränkung), in denen in der Mehrheit weibliche Beschäftigte arbeiten, bedeutete das einen weiteren Prekarisierungsschub.

Die Situation offenbart die Widersprüche zwischen den offiziellen Verlautbarungen über mehr Chancengleichheit und den Begleiterscheinungen einer neoliberalen Arbeitsmarktpolitik. Als Premierminister Shin­zō Abe im Dezember 2012 erklärte, er wolle „eine Gesellschaft, in der Frauen brillieren“, und die Stärkung der Berufstätigkeit von Frauen als wichtige Säule seiner Strukturreformen zur Ankurbelung der Wirtschaft präsentierte, schlug ihm Skepsis und Kritik entgegen. Im feministischen Lager nahm man ihm diesen plötzlichen Gesinnungswandel nicht ab.8

Wie im Westen forderten japanische Frauenrechtlerinnen bereits Ende des 19. Jahrhunderts Zugang zu Bildung und mehr politische Rechte. Die Modernisierung in der Meiji-Zeit (1868–1912) führte 1872 zur allgemeinen Grundschulpflicht. Ein Erlass von 1886 schrieb vor, dass es in jeder Präfektur eine weiterführende Schule zu geben habe. Die Universitäten aber öffneten erst nach 1945 ihre Türen für Frauen. Bis 1995 besuchten Japanerinnen allerdings mehrheitlich Privatunis, die zweijährige Kurzstudiengänge anboten. 2018 kam es zu einem Skandal, weil die prestigeträchtige Tokyo Medical University bei den Aufnahmeprüfungen die Testergebnisse von Bewerberinnen systematisch schlechter bewertet hatte.

Der Kampf um das Frauenwahlrecht begann, als 1925 ein „allgemeines“ Wahlrecht eingeführt wurde, das nur für Männer galt. Mit dem Zweiten Weltkrieg wurden die Wahlrechtsvereine zunächst mit der „Patriotischen Frauenvereinigung“ gleichgeschaltet und ab 1942 der „Großjapanischen Frauenvereinigung“ unterstellt, der alle Frauen über 20 Jahre angehören mussten.

Trotz demokratischer Reformen in der Nachkriegszeit sind die Hindernisse auf dem Weg zur geschlechtlichen Gleichstellung zahlreich und vielfältig. Eines davon ist das Quasiregierungsmonopol der konservativen Rechten: Die LDP regiert das Land seit 1955, mit kurzen Unterbrechungen von zehn Monaten 1993/1994 und drei Jahren 2009 bis 2012. Ein Wandel in Mentalität und Politik ist dadurch blockiert.

1 Yuzuki Mari, „Die Verpflichtung, Bewerbungen von Frauen zu fördern … kassiert wegen des Widerstand der LDP“ (auf Japanisch), Tokyo Shinbun, 19. Mai 2021.

2 In 18 Wahlkreisen (von 289) stand keine einzige Frau zur Wahl.

3 Nakamura Kasane und Ikuta Aya, „Flower demo ga tsu­muida #With you no wa“ (Die von den Flower-Demos ausgehende Bewegung #With you), HuffPost Japan, 10. März 2020 (auf Japanisch).

4 „LDP’s Mio Sugita admits saying ‚women lie‘ about sexual assaults“, Japan Times, 2. Oktober 2020.

5 „Mori: talkative women cause time-consuming meetings“, The Asahi Shimbun, 4. Februar 2021.

6 Zu sehen auf Youtube (auf Japanisch).

7 „Suga stops short of calling for Mori to resign as public sours on Olympic chief“, Japan Times, 8. Februar 2021.

8 Siehe Johann Fleuri, „Sekuhara. Sexuelle Diskriminierung auf Japanisch“, LMd, April 2016.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Christine Levy ist Wissenschaftlerin am Centre de recherche sur les civilisations de l’Asie orientale (CRCAO).

Le Monde diplomatique vom 13.01.2022, von Christine Levy