13.01.2022

Kunstschnee in Fusong

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Kunstschnee in Fusong

Wie Peking 300 Millionen Chinesinnen und Chinesen für den Wintersport begeistern will

von Jordan Pouille

Testlauf für Olympia in Zhangjiakou KOKI KATAOKA/picture alliance/ap
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Wenige Wochen vor Beginn der Olympischen Winterspiele, die vom 4. bis 20. Februar 2022 in Peking stattfinden, sendete das chinesische Staatsfernsehen CCTV eine Doku über Pistenarbeiter: „Die Wächter der Weißen Berge“. Die Kamera begleitet Sun Duncheng, 53 Jahre alt, der im Skigebiet Fusong in der Provinz Jilin im Nordosten Chinas von 8 Uhr abends bis 8 Uhr morgens die Schneekanonen betreut.

Egal ob eine Zuleitung verstopft ist oder der Propeller nicht rund läuft – bei der kleinsten Unregelmäßigkeit schicken die Maschinen einen Alarm auf sein Smartphone. Während sein Kollege Gao Wenbin mit der Pistenraupe im grellen Scheinwerferlicht die Hänge präpariert, sagt eine Stimme aus dem Off: „Der Schnee schafft neue Arbeitsplätze.“

300 Millionen Chinesinnen und Chinesen will die Regierung für den Wintersport begeistern. Seit fünf Jahren veröffentlicht Wu Bin, Dozent an der Pekinger Sportuniversität, Vizepräsident des chinesischen Skiverbands und ehemaliger Strategiedirektor von Vanke, einem der vier größten Immobilienunternehmen des Landes, im Juli sein Weißbuch über die Skiindustrie: 770 Wintersportgebiete zählt Wu Bin heute. Vor 26 Jahren gab es erst ein einziges, 2008 waren es schon 200. Von April 2020 bis April 2021 wurden 20,76 Millionen „Skitage“ gezählt, die meisten Ski­fah­re­r:in­nen (83 Prozent) sind unter 50 Jahre alt und fahren überwiegend (zu 80 Prozent) auf Kunstschnee.

Im Skitourismus tummeln sich vor allem Anfänger – nur 22 Prozent der Pisten überwinden einen Höhenunterschied von mehr als 100 Metern. China gilt als der weltweit größte Markt für Skianfänger, die möglichst innerhalb eines halben Tages Ski laufen lernen sollen.

Für die gehobene Mittelklasse ist Skifahren keine Sportart, die man trainieren muss, sondern eher ein kurzweiliger Zeitvertreib: „Nach zwei bis drei Stunden auf der Piste wollten die befragten Personen in dem Skigebiet etwas anderes unternehmen: einkaufen, Wellness, Thermalbäder, aber die meisten wollten ins Restaurant gehen“, berichten die Sportwissenschaftlerinnen Sarah Mischler und Arnaud Waquet in einer noch unveröffentlichten Studie über den Wintersport in China.1

Die Reichen fahren in die Ski­orte im Nordosten, in die Resorts von Beidahu und Yabuli. Sie werden vom Club Med betrieben, der seit 2015 dem chinesischen Mischkonzern Fosun International Limited gehört. Im Dezember kostet eine Woche Unterkunft inklusive Vollpension, Skipass und Leihgebühren für die Ausrüstung pro Person umgerechnet zwischen 2000 und 3000 Euro, so viel wie zwei bis drei durchschnittliche Monatsgehälter in Peking oder Schanghai.

Das Geschäft läuft besonders gut, seit die reichen Gäste aus Hongkong wegen der Coronapandemie nicht mehr nach Aspen in die Rocky Mountains oder in die Alpen nach Cour­chevel fliegen können – in dem fran­zösi­schen Wintersportort gibt es sogar eine diplomierte chinesische Skileh­rerin.

Der Wintersport im großen Stil ist die nächste Entwicklungsstufe des chinesischen Inlandstourismus, der immer ausgefallener und vielfältiger wird. Die Anfänge reichen in die späten 1990er Jahre zurück, als sich für breitere Bevölkerungsgruppen der Lebensstandard verbesserte und feste Urlaubszeiten eingeführt wurden, die zunächst vom Arbeitgeber oder – wie die Neujahrsferien und die „goldene Woche“ um den 1. Oktober2 – von der Regierung vorgeschrieben wurden.

Die meisten Indoor- Skihallen der Welt

Die Geräte und das technische Knowhow für den Wintersport wurden größtenteils aus dem Ausland importiert. So betreut die Grenobler Firma Pomagalski (Poma)3 , die bereits 1987 eine Seilbahn zur chinesischen Mauer gebaut hat, eine Vielzahl von Baustellen im Land. Eine Kabinenbahn von Poma verbindet schon seit 2018 die alte Bergbaustadt Lianshi in der südwestlichen Provinz Guizhou mit dem 10 Kilometer entfernten „Berg der schönen Blumen“. Hier kann man in einem Pano­rama­restau­rant verweilen oder in die nächste Gondel zum höher gelegenen Skigebiet steigen.

Selbst nach Xinjiang zieht es die Naturfreunde, in jene Region, in der die chinesische Regierung die Uiguren und andere ethnische Minderheiten unterdrückt und in Umerziehungslager steckt.4 65 Skianlagen sind in der Autonomen Region im äußersten Nordwesten in den vergangenen Jahren entstanden, einige davon in mehr als 3000 Metern Höhe mit Abfahrten auf Naturschnee. In den abgelegenen Orten hat der Tourismus bereits seine Spuren hinterlassen.

„Die touristische Erschließung gehörte zu Chinas politischer Agenda. Am Anfang hat das die Entwicklung sehr beschleunigt“, erzählt Fabien Felli, Vize­vorstand von Poma. Aber seit drei Jahren habe die Dynamik nachgelassen. „Wir bauen inzwischen sehr viel weniger.“ Schon das 2016 angekün­digte Skizentrum im tibetischen Lhasa hat es nie über die Planungsphase hinaus geschafft. „Die wirtschaftliche Kalkulation hat sich als nicht tragfähig erwiesen, weil die Skiresorts hauptsächlich von Immobilienfirmen geplant wurden, die Wohnungen verkaufen ­wollten.“

Angesichts der drohenden Pleite von Chinas zweitgrößtem Immobi­lien­kon­zern Evergrande ist nun offensichtlich nicht der richtige Zeitpunkt, um zusätzliche Risiken einzugehen. Es gehe nicht nur um Wohnungen und Infrastruktur, sagt Fabien Felli. „Man muss für Unterhaltung in den Skigebieten sorgen mit Restaurants und Kinos wie in Südkorea. Dort hat sich das All-inclusive-Prinzip bewährt.“

Ein weniger riskantes Geschäfts­modell sind dagegen die wie Vergnügungsparks konzipierten Skihallen am Rande der großen Städte. Anfangs fremdelte die Klientel mit dem Indoor-Ski, aber nach und nach hat sich das Konzept durchgesetzt und ist mittlerweile sogar eine chinesische Spezialität: Mit 36 Wintersporthallen steht China weltweit auf Platz eins, gefolgt von Indien (10 Hallen), Finnland (8) und den Niederlanden (7). Rund 30 weitere ­Hallen befinden sich derzeit noch im Bau.

Das größte Indoor-Skiresort (5 Skipisten auf 75 000 künstlich beschneiten Quadratmetern) steht in der Hafenstadt Guangzhou. Auf den Anfängerpisten des Sunac Snow Park kosten drei Stunden inklusive Ausrüstung und Winterkleidung umgerechnet etwa 46 Euro.

Fabien Felli ist von dem Konzept überzeugt: „Ich bin ganz sicher, dass Indoor-Ski funktionieren wird. Das ist wie ein Vergnügungspark, die laufen in China sehr gut.“ In Schanghai entsteht gerade ein noch größerer Park namens Wintastar in unmittelbarer Nähe zu Disneyland. Poma ist auch hier mit dabei.

Für die Olympischen Winterspiele wurde auf dem Gelände einer stillgelegten Stahlhütte des Shougang-Konzerns in Peking eine riesige Sportanlage gebaut. Zum Big Air Shougang gehören ein Starbucks, ein Fischteich und vor allem eine lange Piste mit Kunstschnee, auf der Wettkämpfe im Snowboard und Freestyle-Skiing ausgetragen werden.

Die Skipisten in der 200 Kilometer entfernten Bergregion Zhang­jia­kou erreicht man in einer Dreiviertelstunde mit dem eigens für die Spiele gebauten selbstfahrenden Schnellzug. Früher dauerte die Fahrt drei Stunden. Für den Zug wurde extra ein Tunnel unter der Großen Mauer gegraben. „Auch in diesem Fall gilt, dass das Skigebiet ein Freizeitpark sein soll, der nicht nur Skisportinteressierten etwas zu bieten hat“, erklärt Felli. „Im Moment muss man noch tief in die Tasche greifen, und das Skifahren macht weniger Spaß als in Courchevel oder in Japan, denn es gibt nur Kunstschnee.“

Die Verkaufszahlen für Ski stagnieren in China, die von Snowboards schießen aber trotz der Pandemie in die Höhe. Das liegt vor allem an Stars wie dem Snowboarder Su Yiming aus Jilin, der allerdings in Österreich trainiert. Seine atemberaubenden Sprünge, die auf Douyin, der chinesischen Version von Tiktok, verbreitet werden, haben den 17-Jährigen zu einem Liebling der TV-Sender gemacht.

Mit seinem sensationellen Sieg beim Snowboard-Weltcup in Colorado (USA) am 4. Dezember 2021 hat sich Su Yiming für die Olympischen Winterspiele von Peking qualifiziert. Man kann davon ausgehen, dass das Fernsehpublikum in China seine Auftritte sehr genau verfolgen wird. Er könnte in der Volksrepublik eine Welle der Snowboardbegeisterung auslösen.

1 Sarah Mischler und Arnaud Waquet, „La glocalisa­tion du sport en Chine. Le cas des stations de ski dans le contexte des Jeux olympiques de Pékin 2022“, Management & Organisations du Sport, Episciences, Villeurbanne; erscheint demnächst.

2 Siehe Pal Nyiri, „Chinesische Reiselust“, LMd, Juli 2021. Der 1. Oktober ist der Nationalfeiertag zur Gründung der Volksrepublik 1949.

3 Pomagalski fusionierte 2000 mit der italienischen Leitner AG, die neben der österreichischen Doppelmayr-Garaventa-Gruppe den Weltmarkt für Seilbahnen beherrscht. Siehe Beate Willms, „Eine Alternative für den Nahverkehr“, LMd Edition, Nr. 28, „Raserei und Stillstand“, Berlin (taz Verlag) 2020, S. 71 f.

4 Siehe Rémi Castets, „Bleierne Zeit in Xinjiang“, LMd, März 2019.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Jordan Pouille ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 13.01.2022, von Jordan Pouille